13.07.2012

Die Muslime von New York

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Die Muslime von New York

Der schwarze Islam des Malcolm X will etwas anderes als der weiße Islam der Einwanderer von Charlotte Wiedemann

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Stühle in einer Moschee sind ein ungewöhnlicher Anblick. Sie deuten an: Nicht alle, die in diesem Saal in Harlem beten, sind geborene Muslime. Wer nicht von Kindheit an die vorgeschriebene Haltung beim Gebet eingeübt hat, dem fehlt die Geschmeidigkeit der Gelenke. So ging es sogar jenem Mann, dessen Namen diese Moschee trägt, Malik El-Shabazz, besser bekannt als Malcolm X. Als der berühmteste afroamerikanische Konvertit seine erste Pilgerfahrt nach Mekka unternahm, 1964, entzündete sich sein Zeh von all dem Knien und Hocken.

Beim Freitagsgebet an diesem Mittag werden die Stühle im rückwärtigen Teil des Saals von den meisten Gläubigen verschmäht; nur ein leises Ächzen hier und dort verrät die Mühe, sich vom Teppich zu erheben. Die Versammelten, mehrere hundert, sind ganz überwiegend Afroamerikaner. Frauen beten im selben Raum wie Männer, nur durch einen Gang, nicht durch einen Vorhang getrennt.

In diesem zweistöckigen Gebäude an der Ecke 116. Straße und Lenox Avenue hat Malcolm X berühmte Reden gehalten. Ein Kasten ohne Charme, ursprünglich ein Kasino; Malcolm machte daraus den legendären Temple No. 7. Das Wort Moschee existierte noch nicht im Milieu der frühen schwarzen Konvertiten; ihre „Nation of Islam“ hatte mit orthodoxem Islam wenig gemein, sie war eher eine nationalistische Bewegung, die von einem afroamerikanischen Staat träumte, Separation statt Integration verfocht und alles Weiße als genuin böse erachtete.

Später, als sich die afroamerikanischen Muslime dem sunnitischen Mainstream-Islam annäherten, wurde der Kasten an der Lenox Avenue dezent orientalisiert, bekam Bogenfenster und eine grüne Aluminiumkuppel. Seltsam leicht liegt sie auf dem Dach, wie ein Ballon, der sich nur vorübergehend niedergelassen hat.

Aus dem Straßenbild ist sichtbares Elend heutzutage verdrängt. Wie die Realität hinter der Fassade eines gentrifizierten Harlem immer noch aussieht, davon erzählt ein Aufklärungsmarsch, den die Moschee jedes Jahr veranstaltet, unter dem Motto „Jail ain’t no good“. Ins Gefängnis zu gehen, ist kein Beweis von Heldentum, lautet die Botschaft, und kein Initiationsritus auf dem Weg zum echten Mann. Vier Meilen geht der Marsch, auf einem Wagen wird ein elektrischer Stuhl herumgefahren, ein Henker schwingt seine Schlinge, und Harlems Kinder kreischen.

Jeder dritte Afroamerikaner landet im Laufe seines Lebens im Gefängnis; daran hat die Präsidentschaft Barack Obamas nichts geändert. Schwarze werden eher verhaftet, sind häufiger arbeitslos, verdienen weniger – und weil das so ist, gibt es weiterhin Konversionen zum Islam, auch in Gefängnissen. Nicht in jenen großen Wellen wie in den 1960er, 1970er Jahren, aber heute wie damals versuchen Häftlinge, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, indem sie sich zu Regeln bekennen, voran das Alkohol- und Drogenverbot, die ihnen bei der Selbstdisziplinierung helfen. Auch junge schwarze Frauen konvertieren; sie hoffen auf mehr Würde, mehr Sicherheit, eine stabile Familie.1 In einem Leben, in dem wenig selbst zu bestimmen ist, bedeutet Konversion, eine eigene Wahl zu treffen, sich vom Mainstream und seinen Zumutungen abzusetzen – und stolz darauf zu sein.

Rund 7 Millionen2 Muslime leben in den USA; ein Drittel davon sind Konvertiten und deren Nachkommen, ganz überwiegend Afroamerikaner. Nirgendwo anders in der westlichen Welt hat sich eine so große Bevölkerungsgruppe für den Islam entschieden. Aber einzigartig ist gleichfalls die Zusammensetzung der übrigen Muslime, also der Mehrheit: Sie sind Einwanderer, doch ihr sozialer Status ist ungleich besser als der von muslimischen Zuwanderern in Europa. Als 1965 die Immigrationsregeln gelockert wurden, kamen aus Pakistan, Indien, Bangladesch, aus dem Libanon und anderen arabischen Staaten vor allem Gebildete und Wohlhabende: Studenten, ehrgeizige Jungakademiker. Auch Iraner, die nach dem Sturz des Schahs in die USA flüchteten, entstammten meist der Mittel- und Oberschicht.

Araber sind Ingenieure; Pakistaner und Inder sind Ärzte und Anwälte – das ist ein Klischee, aber doch nicht ganz falsch. Das Einkommen dieser Zuwanderer liegt über dem US-amerikanischen Durchschnitt – und damit erst recht über jenem der Afroamerikaner. Hier die Arrivierten, dort die Benachteiligten: Die muslimische Gemeinschaft durchzieht eine fatale Kluft, denn hellere oder dunklere Hautfarbe bedeutet zugleich verschiedene soziale Klassen, Wohnviertel, Lebensstile. Weißer Islam, schwarzer Islam? Nicht immer ist diese Spaltung sofort sichtbar, denn sie verbirgt sich unter der Oberfläche einer sympathischen Vielfalt, zumal bei den 600 000 muslimischen New Yorkern, von denen es heißt, sie entstammten 80 Ländern.

Imam Talib Abdur Rashid, 61, Afroamerikaner, ein bärtiger Hüne, empfängt leutselig und eher unreligiös. Der Leiter des Islamic Leadership Council, eines Dachverbands der Moscheen, ist in New York eine bekannte Figur, hatte sogar seine eigene Radioshow. Ein eloquenter, streitlustiger Mann, mehr Aktivist als Würdenträger, umweht von einer freimütigen Aura. Im Regal neben seinem Sessel steht, sichtbar für jeden Besucher, ein Buch über Menopause. Wie viele ältere Konvertiten entstammt der Imam einem christlich-religiösen Elternhaus: Baptisten in North Carolina, die Eltern früh geschieden; der Junge, religiös ein Suchender, wird erst Lutheraner, als 20-Jähriger dann Muslim. Das war 1971; sechs Jahre nachdem Malcolm X erschossen wurde,3 ein paar Straßen entfernt vom Harlemer Büro des Imams. Was ist geblieben von damals? „Justice“, sagt Imam Talib ohne Zögern, die Gerechtigkeitsmission. Der Imam ist ein Kämpfer, verwurzelt in einer Protestreligion, einem politischen Islam von unten in der Tradition von Malcolm X, den er, wie alle muslimischen Gesprächspartner, zärtlich „Malcolm“ nennt. Nicht wegducken, das ist auch Imam Talibs Devise gegen die zunehmende Islamfeindlichkeit in den USA.

Eine Frage der Gerechtigkeit

Als zu Beginn des Jahres bekannt wurde, dass New Yorks Polizei muslimische Gemeinden, Treffpunkte und Buchhandlungen systematisch ausspäht und Undercover-Agenten an Colleges und Universitäten einsetzt, stand Imam Talib in der ersten Reihe des Protests. Keine Selbstverständlichkeit: Andere Muslimführer bevorzugten leisere Töne, einige stellten sich sogar demonstrativ hinter den Polizeichef. Für Imam Talib ist das blanker Opportunismus, und dieses Stichwort führt direkt hinein in seine Analyse der Gefechtslage. Die Muslime seien für die Mehrheitsgesellschaft immer der klassische Andere, sagt der Imam, allerdings auf zwei ganz unterschiedliche Arten. „Die Einwanderer reißen sich ein Bein aus, um zu zeigen, dass sie gute Amerikaner geworden sind. Wir einheimischen Muslime sind dagegen stigmatisiert durch unsere Hautfarbe und die Vergangenheit als Sklaven.“ Die eingewanderten Muslime suchen eine Nische in der Gesellschaft, fährt er fort, darum wollen sie eine gute Beziehung zu den Mächtigen, und das sind vor allem die Amerikaner europäischer Abstammung. „Die arabischen und südasiatischen Muslime beziehen sich mehr auf die weißen Machtstrukturen als auf uns, ihre muslimischen Brüder und Schwestern, die den Islam in Amerika etabliert haben.“

Wer sich dem weißen Amerika und zumal seiner politischen Rechten anbiedert, kann sicher sein, in Imam Talibs Blog bloßgestellt zu werden: Schwarze, die das tun, nennt er „Hausneger“ oder „Onkel Tom“, so hat bereits Malcolm die Anpasser beschimpft; und muslimischen Einwanderern ruft er schon mal zu: „Hey, hier ist Amerika, nicht Bangladesch!“

Wie tragisch der Konflikt ist, der sich hinter dieser spöttischen Angriffslust verbirgt, das kann man in diesem kleinen Harlemer Büro zunächst nur erahnen. Unter den Sklaven, die aus Afrika in die neue Welt verschleppt wurden, war vermutlich jeder dritte ein Muslim, doch aufgrund ihrer völligen Entrechtung konnten Sklaven bei der Etablierung des Islam in Amerika kaum eine Rolle spielen. Der afroamerikanische Islam entstand vielmehr neu ab 1930, als die Nation of Islam gegründet wurde. Sie vertrat eine Art schwarze Genesis: Der afrikanische Urstamm der Menschheit sei bereits islamisch gewesen.

Eine Geschichte voller Wirren, voller Leid und aus Leid gespeisten Ideologien; am Ende ist es aber doch so, dass sich die afroamerikanischen Muslime von heute, Nachkommen der Sklaven und Nachfahren von Malcolm X, als Begründer eines genuinen amerikanischen Islam sehen.

„Jedenfalls sollen sie sich so sehen!“, sagt Imam Talib. Seine auftrumpfende Art und seine Angriffslust haben auch pädagogische Funktion, räumt er ein, sollen Selbstbewusstsein verbreiten unter schwarzen Muslimen, denen es oft an psychischer und spiritueller Verwurzelung mangele. Benötigt wird nun ein doppeltes Selbstbewusstsein. Neben die altbekannte Geringschätzung durch die weiße Mehrheitsgesellschaft ist ein neuer Paternalismus durch die weißen Muslime getreten; sie empfinden sich als selbstverständliche Sprecher des Islam in Amerika. „Spielt euch bloß nicht als unser Daddy auf!“, ruft Imam Talib. „Wir kämpfen hier seit Jahrhunderten!“

Am Ende des Gesprächs passiert etwas Seltsames. Beim Plaudern über seine Familie sagt der Imam beiläufig, seine Tochter sei zum Christentum übergetreten. „Sie hat sich so entschieden, obwohl sie muslimisch erzogen wurde.“ Er spricht nicht von Abfall, Apostasie, Todsünde, sondern von Entscheidung. Einen muslimischen Sohn zu haben und eine christliche Tochter, das sei eine „typisch afroamerikanische Familie“. Tatsächlich ist erneuter Religionswechsel in Konvertitenfamilien kein Einzelfall; oft gelingt es nicht, die gesamte Nachkommenschaft im neuen Glauben zu halten, zumal wenn sich die Familie polygam verzweigt. Polygamie ist in den USA verboten, wird jedoch praktiziert, auch von bekannten Imamen; dem Vernehmen nach zählt Imam Talib dazu.

Highbrigde, ein Stadtteil der südlichen Bronx. Keine Weißen zu sehen. Wer hier wohnt, ist Latino, Afroamerikaner oder afrikanischer Zuwanderer. Meistens arm, ohne Krankenversicherung; die HIV-Rate ist dramatisch hoch. In dieser rauen Umgebung hat Nurah Amatullah ihr Frauenzentrum aufgebaut, das Muslim Women’s Institute for Research and Development. Der Name klingt akademisch, vielleicht bedeutet das einen gewissen Schutz.

Am Fenster zur Straße hin wirbt ein Plakat für die Benutzung von Kondomen, und im Vorraum des Zentrums liegen sie gleich griffbereit in kleinen Körben. Besucher können einfach hereinkommen, sich ein Kondom nehmen und ohne Diskussion wieder gehen. So etwas sei antiislamisch, wird Nurah Amatullah oft vorgehalten, sie unterstütze freien Sex! Dann entgegnet sie in ihrer offensiven, manchmal ein wenig hochmütigen Art: „Tote kann ich nicht zum Islam bekehren.“

Nurah, 49, ist selbst Konvertitin; sie wuchs als Rosalie in Trinidad auf, in einer armen anglikanischen Arbeiterfamilie. Durch brillante Noten schaffte sie es an gute Schulen, emigrierte mit 23 Jahren allein in die USA. Dort entdeckte sie, dass der Islam für ihre selbstbewusste Frömmigkeit das bessere Gefäß ist; sein schnörkelloser Monotheismus erlaube ihr, sagt sie, „mein direktes Gespräch mit Gott“. Sie studierte Women’s Studies und islamische Gemeinde-Seelsorge, nennt sich nun „chaplain“ – die amerikanischen Muslime verwenden viele ursprünglich christliche Bezeichnungen. Eine feministische Kaplanin mit einem Foto von Cassius Clay alias Muhammad Ali neben dem Schreibtisch.

Wir gehen zu einer Armenspeisung: Das muslimische Frauenzentrum gibt Lebensmittel aus, auf dem Grundstück einer Kirche. Vor der schmalen Tür zur Lagerhalle stehen die Wartenden Schlange; viele sprechen Spanisch. Unabhängig von Glaube und Herkunft kann sich jeder Bedürftige mit dem Nötigsten versorgen, mit Brot, Mehl, Kohl, Nudeln, Cornflakes. 10 000 Bewohner der Bronx profitieren jeden Monat von Nurahs unermüdlichem Fundraising. Hungerbekämpfung als Community-Aufgabe, weil der Sozialstaat fehlt.

Wie andere Einwanderer aus der Karibik fühlt sich Nurah den afroamerikanischen Muslimen zugehörig; das ist eine Wahlverwandtschaft, aufgrund gemeinsamer Geschichte, der Sklaverei, aber es ist auch eine Zwangsgemeinschaft: Wegen ihrer dunklen Hautfarbe wird sie von hellhäutigen Muslimen automatisch für eine Afroamerikanerin gehalten. Und erlebt, obwohl in islamischen Dingen hochgebildet, deren Geringschätzung: „Ich muss immer wieder beweisen, dass ich einen korrekten Islam vertrete.“ Nurah Amatullah spricht offen aus, was andere vorsichtig umschreiben: „Es gibt einen internen Rassismus unter Muslimen.“ Schwarze Amerikaner, die konvertieren, flüchteten aus einem Leben, das ihnen unbewältigbar schwierig erscheine, „nur um dann auf den Rassismus unter Muslimen zu stoßen“.

Selbst afrikanische Einwanderer sähen auf die Afroamerikaner oft herab, sagt Nurah. „Sie fühlen sich doppelt authentisch: als echte Afrikaner und als geborene Muslime. Und wenn sie dann noch Arabisch sprechen können, dann lassen sie dich erschauern.“ Unter den Afrikanern in der Bronx bevorzuge nicht etwa nur jede Nationalität, sondern jede Ethnie ihre eigene Moschee. „Der universelle Islam ist ein wunderbares Ziel“, sagt Nurah Amatullah. „Aber bis wir dort angekommen sind, liegt noch viel Arbeit vor uns.“

Wie in einer Nussschale sammeln sich bei den US-Muslimen die Charakteristika oder, je nach Sicht, die Probleme des Islam. Kampf für Gerechtigkeit versus Wirtschaftsliberalismus, das sind auch anderswo die zwei Gesichter des Islam. Und dass viele nur einem Islam trauen, der mit eigenem Brauchtum durchsetzt ist, das fällt in New York besonders auf, weil daraus eine Vielzahl von Parallelgesellschaften entsteht: Fast jede Moschee hat eine Zuordnung, ist afroamerikanisch, pakistanisch, maghrebinisch …

Wer aus einem Europa der endlosen Integrationsdebatten kommt, sieht in New York allerdings noch etwas ganz anderes: Fast alle eingewanderten Muslime wirken erstaunlich amerikanisch. Das mag nur die Oberfläche sein, Sprache, Umgangsformen, eine pragmatische öffentliche Alltagskultur; aber sie fällt auch bei denen auf, die nicht Arzt oder Anwalt sind. Am Central Park West steht Hakan in seinem engen Kioskrestaurant, klopft allen auf die Schulter und schwadroniert mit jedem so locker daher, als sei er nicht erst vor neun Jahren aus der Türkei gekommen. Wenn man seine Frau mit „merhaba“ grüßt, hebt sie kritisch die Augenbrauen und entgegnet: „How do you know??!“ Anpassung hat hier nicht den Schwefelgeruch von Assimilation, von Aufgabe alles Eigenen. Die Jemeniten, die in New York erstaunlich viele kleine Lebensmittelläden betreiben, sagen „wir“, wenn von der Revolution im Heimatland die Rede ist.

Aber Anpassung schützt nicht vor Islamophobie, das lehrt die Stimmung in diesem Wahljahr. Sie ist Muslimen gegenüber negativer4 als nach den Anschlägen vom September 2001; die Mobilisierung des christlich-fundamentalistischen Spektrums und die Rechtsdrift der Republikaner zeigen Folgen. In fast der Hälfte der US-Bundesstaaten wurden Entwürfe sogenannter Anti-Scharia-Gesetze eingebracht, Produkte professionell geschürter Hysterie. Dahinter steht laut einem Bericht des American Center for Progress ein effizientes, kleines Netzwerk von „Desinformationsexperten“, mit viel Geld von rechtslastigen Stiftungen gefördert. Ein Ausbildungsfilm der New Yorker Polizei stellte alle Muslime unter Dschihad-Verdacht; nun wurde aus einer Offiziersakademie Lehrmaterial bekannt, das einen „totalen Krieg“ gegen den Islam vorsah, inklusive der Auslöschung von Mekka und Medina. Umfragen zeigen: Ein Drittel der Republikaner-Wähler hält Barack Obama für einen Muslim – oder für einen Ausländer. Muslim ist ein Synonym geworden für fremd, für unamerikanisch.

Islamophobie richtet sich zwar gegen alle Muslime, macht sie aber nicht deswegen gleich. Das haben auf ihre Weise sogar die Observationen durch New Yorks Polizei unterstrichen: Die Muslime wurden dabei ethnisch kartografiert nach 29 „ancestry groups“; gemeint waren 28 islamische Herkunftsländer – plus die Afroamerikaner. Deren Ahnen sitzen auch nach Ansicht der Polizei auf einem Extrabänkchen.

Gerade weil Muslim-Sein als unamerikanisch erachtet wird, verlangt es viele Muslime nun selbst nach Klärungen: Was macht unseren Islam amerikanisch, was prägt ihn, und wer darf für ihn sprechen? Auch die muslimischen Lobbygruppen sind meist ethnisch strukturiert und eher weiß; Afroamerikaner schaffen es hier nur selten in eine Führungsposition.

Die große Mehrheit der afroamerikanischen Muslime bekennt sich heute zum Mainstream des sunnitischen Islam. Doch die unorthodoxe Frühperiode des Black Islam wirkt nach – nicht nur weil die älteren Afroamerikaner in den Augen der zugewanderten Pakistaner, Inder oder Araber weiter unter dem Verdacht stehen, dessen als häretisch geltenden Lehren anzuhängen. Sondern weil sich die Hoffnungen, die schwarze Muslime in den globalen Islam setzten, bisher nicht erfüllten.

„Dies ist die einzige Religion, die das Rassenproblem aus ihrer Gesellschaft entfernt“, hatte Malcolm 1964 in Saudi-Arabien notiert, so überschwänglich wie voreilig. Die multiethnische Brüderlichkeit der Pilger erlebte er als überwältigend, gleichfalls die Großmut seiner arabischen (für ihn „weißen“) Gastgeber. In der kurzen Spanne, die ihm bis zur seinem Tod blieb, verwarf er seinen früheren Hass auf die Weißen, missionierte für einen Islam, der keine Hautfarben kenne – und versuchte den Kampf für die Emanzipation der Schwarzen nun rein politisch zu führen, durch ein Bündnis mit den Führern des nachkolonialen Afrikas. Ein Spagat, eine doppelte Identität: schwarzer Aktivist, farbenfreier Gläubiger.

Nahezu ein halbes Jahrhundert später, unter veränderten politischen Vorzeichen, ringen Amerikas schwarze Muslime immer noch mit dieser Frage: Wie trägt der Islam ihrem indigenen Erbe und ihrem Leiden Rechnung? Imam Talib gibt darauf eine Antwort, die den einstigen Glauben an eine schwarze Auserwähltheit noch durchschimmern lässt. „Die Anwesenheit afroamerikanischer Muslime in Amerika ist Bestandteil eines göttlichen Plans für dieses Land“, sagt er. Die Versklavung ist nach seiner Interpretation keine sinnlose Tragödie, sondern eine schicksalhafte Mission, die sich bis in die Gegenwart erstreckt. An die 20 000 Senegalesen gewandt, die bereits in New York leben, ruft der Imam: „Gott hat uns hierhin gebracht, damit wir euch empfangen können.“ Es ist ein Versuch, der christlich-angelsächsischen Pilgrim-Fathers-Ideologie andere nationale Gründungsmythen entgegenzustellen, ein Narrativ zu finden für eine unangreifbare schwarz-muslimische Identität.

Niemand hat das Bedürfnis nach Identität so erfüllt wie Malcolm – allein durch die Kraft seines Vorbilds. Weil er vormachte, wie sich ein Mensch neu erfinden kann, wie aus dem schäbigen kleinen Gangster Malcolm Little ein eloquenter, gebildeter Mann wurde, der es mit einem Auditorium weißer Jurastudenten in Harvard aufnehmen konnte. Bis heute ist niemand nachgewachsen, der so radikal wie er die Befreiung von schwarzem Selbsthass und den Aufstieg schwarzen Selbstbewusstseins verkörperte.

Eine Moschee für jede Kultur

Malcolm ist eine Ikone, noch nach einem halben Jahrhundert. Das Ausmaß der Verehrung zeigt allerdings, wie wenig die Verehrer dem Verehrten ähneln, wie fragil ihr eigenes Selbstbewusstsein ist. Manche jungen Männer hatten unlängst Tränen in den Augen wegen eines Buchs, das angeblich die Ikone entweiht. Die neue Mammutbiografie,5 im Rahmen eines Forschungsprojekts der Columbia University entstanden und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, erwähnt beiläufig homosexuelle Kontakte des jungen Malcolm; das hat die Basis schwarzer Communitys und deren Aktivisten erschüttert. Die Vorgänge fallen zwar in Malcolms vormuslimische Schurkenzeit, aber scheinen gleichwohl unerträglich, ebenso wie vermutete außereheliche Affären seiner Frau Betty.

Bemerkenswert ist: Die Kritiker entrüsten sich nicht aus religiösen Gründen; sie sehen vielmehr einen Angriff auf Malcolms Männlichkeit, und die ist ein zentrales Element seines Ikonenstatus. Wir befinden uns hier auf schwierigem sozialpsychologischem Terrain, mit den Ausläufern historischer Traumata. Die Herrschaft des weißen Mannes über schwarze Sklavinnen und die Erniedrigung durch erzwungenen gleichgeschlechtlichen Sex im Gefängnis, das sind zwei Stichworte, die ahnen lassen, welche Abgründe sich auftun, wenn es um das Thema bedrohter schwarzer Männlichkeit geht.

Malcolm statt als Ikone als einen Menschen zu beschreiben, das ist heute noch gewagt. Dabei war auch der Autor der umstrittenen Biografie durchaus sein Fan; er verstarb kurz vor Erscheinen des Buchs. An seiner Stelle führt ein jüngerer Historiker aus dem Columbia-Projekt nun die Debatten. Zaheer Ali, 39, gehört zur neuen ambitionierten Elite von Black-History-Experten, ein smarter Intellektueller, verbindlich und leger, in Lederjacke und T-Shirt. In einem Café auf dem Columbia-Campus erzählt er von seiner „ganz persönlichen Reise mit Malcolm“.

Zuerst kam er mit ihm durch Hiphop-Texte in Berührung, in den späten 1980ern; dann entdeckte er in Malcolm das perfekte Vorbild für seinen eigenen intellektuellen Ehrgeiz, eiferte ihm nach, schrieb am College jedes Referat über ihn. „Wenn griechische Geschichte anstand, schrieb ich über Malcolm als tragischen Helden.“ Erst viel später begann er sich zu emanzipieren. Hatte Malcolm nicht auch das gesagt: Bleib deiner Community treu und entfalte deine Flügel!? Das hat Zaheer Ali getan, er hat sich von der Ikone, dem Übermenschen verabschiedet, aber ist dem Symbol Malcolm und dem Anliegen treu geblieben. „Schwarze wurden so viel angegriffen, diskreditiert und überkritisiert, dass es wichtig ist, jemanden zu haben, der gegen all das immun ist. Und Malcolm ist diese Figur – kompromisslos und nicht kompromittiert. Er war nicht käuflich.“ Und er könne nicht wie Martin Luther King vom amerikanischen Mainstream vereinnahmt werden.

Trotzdem nun die nervöse Debatte um die Interpretation von Malcolms Erbe; zwei Gegenbücher sind schon erschienen beziehungsweise angekündigt.6 Die Angst, Malcolm zu verlieren, hat vielleicht mit Malcolm gar nicht so viel zu tun. Vor dem überdimensionalen Foto des Helden, stets mit Mikrofon und Krawatte, geht es vielmehr um die schwierige Frage, worin Black Power heute besteht – nach der Desillusionierung über Obama, in einem Klima von Populismus und Islamfurcht.

„In dem Prozess, einen amerikanischen Islam herauszubilden, fühlen sich die Afroamerikaner an den Rand gedrängt; sie sehen ihr Erbe missachtet“, sagt Zaheer Ali, und dann erzählt er noch die Geschichte von der Fernsehserie mit dem Titel „All-American Muslim“. Sie war ein gut gemeinter Versuch, am Beispiel von fünf muslimischen Einwandererfamilien in Michigan zu zeigen, wie normal und superamerikanisch ihr Leben sei. Werbekunden nahmen das übel, zogen sich vom Sender zurück; die Serie löste einen Disput über Islamophobie aus, noch bevor sie ausgestrahlt wurde. Aber da war noch etwas anderes, sagt Zaheer Ali: „In der Serie kam kein einziger Schwarzer vor. Er hätte gestört.“

Zum Schluss zwei Personen, die einen Ausblick erlauben auf einen möglichen amerikanischen Islam der Zukunft, jenseits der bisherigen Definitionen von Schwarz und Weiß.

Cyrus McGoldrick, 24, sitzt in diesen Tagen auf den meisten Podien, wenn es um Islamfeindlichkeit geht. Der Bürgerrechtsaktivist, Sohn einer Iranerin und eines irischstämmigen Amerikaners, gibt sich demonstrativ als Muslim zu erkennen, mit Vollbart und Häkelmütze. Die Sichtbarkeit ist ein Statement, gegen Anpassung und Wegducken. „Viele eingewanderte Muslime haben geglaubt, sie könnten von den weißen Privilegien profitieren“, sagt er. „Aber Islamophobie und Rassismus kommen aus denselben Quellen; es sind dieselben Leute, die gegen Muslime und gegen Schwarze sind.“ Der berühmte 9/11 war sein erster Tag in der Highschool. McGoldrick setzt auf seine Generation, die Nach-9/11-Generation, um einen amerikanischen Islam jenseits ethnischer Zersplitterung zu entwickeln. „Wir haben die Mittel, wir haben alle Möglichkeiten, unseren eigenen, authentischen Islam hervorzubringen.“

Dem könnte Sherman Jackson, afroamerikanischer Professor für Islamwissenschaft,7 zustimmen, nur mit einem anderen Akzent. Den schwarzen Muslimen gehe es heute ähnlich wie früher den schwarzen Christen, sagt er, als sie darum rangen, eine eigene Stimme zu finden in einem von Weißen dominierten Christentum. Das ist eine theologische Herausforderung, und Jackson, der wichtigste religiöse Intellektuelle des afroamerikanischen Islam, nimmt sie an. Das heißt: Die weiß-arabisch geprägte sunnitische Lehre kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Von marginalisierten Konsumenten islamischer Ideen sollten schwarze Muslime zu deren Produzenten werden. Und das, meint der Professor, hätte Malcolm bestimmt gefallen.

Fußnoten: 1 Wichtige Hinweise verdankt die Autorin der Islamwissenschaftlerin Katrin Simon, Freie Universität Berlin, die zu den wenigen deutschen Kennern des afroamerikanischen Islam zählt. 2 Eine exakte Zahl ist nicht verfügbar: Religionszugehörigkeit wird bei Volkszählungen nicht ermittelt. Angesichts von 2,6 Millionen erfassten Moscheebesuchern wird die Gesamtzahl der Muslime bei 7 Millionen vermutet. 3 Wer den Mord beging, ist bis heute ungeklärt. 4 49 Prozent der US-Amerikaner haben ein negatives Islambild; im Oktober 2001 waren es 39 Prozent. 5 Manning Marable, „Malcolm X – A Life of Reinvention“, New York (Penguin Books) 2012. Professor Marable war Gründer von diversen Black-Studies-Studiengängen. 6 Herb Boyd und andere, „By any means necessary. Malcolm X: real, not reinvented“, Chicago (Third World Press) 2012, und Jared Ball und Todd Steven Burroughs, „A Lie of Reinvention: Correcting Manning Marable’s Malcolm X“, Baltimore/Maryland (Black Classic Press) August 2012. 7 Siehe Sherman Jackson, „Islam and the Blackamerican“, New York (Oxford University Press, USA) 2005, und „Islam and the Problem of Black Suffering“, New York (Oxford University Press, USA) 2009. Charlotte Wiedemann ist freie Autorin von Auslandsreportagen mit dem Schwerpunkt „Islamische Lebenswelten“. 2006 gründete sie die interkulturelle NGO Sawasya, www.sawasya.de. Zuletzt erschien von ihr „Ihr wisst nichts über uns. Meine Reisen durch einen unbekannten Islam“, Freiburg (Herder) 2008. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.07.2012, von Charlotte Wiedemann