Norwegen und sein Attentäter
von Rémi Nilsen
Am 22. Juli 2011 verwüstete eine Bombe das Osloer Verwaltungsviertel, in dem sich der Amtssitz des Ministerpräsidenten und die meisten Ministerien befinden. Im Handumdrehen erklärten die Terrorismusexperten den Anschlag zum Werk von Islamisten. In der Innenstadt fielen wütende Passanten auf offener Straße über Ausländer her.1
Als dann jedoch die Nachricht vom Blutbad auf der 50 Kilometer entfernten Insel Utøya eintraf, kamen Zweifel auf: Warum sollten weltweit agierende islamistische Terroristen Dutzende Jugendliche im Sommercamp der Jugendliga der Arbeiterpartei (AUF) ermorden?
Der Mörder Anders Behring Breivik, den die Polizei noch am selben Tag festnahm, war groß, blond und blauäugig. Er ist in einem gutbürgerlichen Viertel von Oslo aufgewachsen und war früher ein Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei (Fremskrittspartiet). Norwegen stand unter Schock.
Ein Mensch, der kaltblütig Kinder umbringt, ist per definitionem ein Psychopath. Und da Breivik offensichtlich Einzeltäter war, hätten die Medien den Massenmord wahrscheinlich als Amoklauf eines Wahnsinnigen dargestellt. Doch Breivik bestand darauf, dass seine Tat politisch motiviert gewesen sei. Er habe darauf aufmerksam machen wollen, dass die „Kulturmarxisten“, also die gesamte Linke, dabei sei, Europa den Muslimen auszuliefern
In dem 1 500-seitigen „Manifest“, das Breivik im Internet veröffentlichte, befasst er sich mit Themen, die in Norwegen keineswegs tabu sind. Zum Beispiel mit der Angst vor dem Untergang der christlichen europäischen Kultur, die durch eine allzu großzügige Migrationspolitik bedroht sei. Dabei verpackt er seine Islamophobie in Phrasen, die sich sogar auf die Allgemeinen Menschenrechte berufen. Diese Positionen sind denen der Fortschrittspartei durchaus ähnlich. So hat 2004 deren damaliger Vorsitzender Car Ivar Hagen erklärt, die Muslime hätten „seit Langem klargemacht, wie es auch Hitler getan hat, dass ihr langfristiger Plan darauf zielt, die Welt zu islamisieren […] Sie sind schon tief nach Afrika vorgedrungen und auch in Europa weit vorangekommen – also müssen wir uns wehren.“
Vor den Parlamentswahlen von 2009, bei der die rot-grüne Koalition2 eine Mehrheit erzielte, die Fortschrittspartei jedoch mit 22,9 Prozent der Stimmen3 zur zweitstärksten Kraft wurde, warnte der jetzige Vorsitzende Siv Jensen im Wahlkampf vor einer „schleichenden Islamisierung“ des Landes. Und noch im August 2010 hat Christian Tybring-Gjedde, ein Nachwuchspolitiker der Fortschrittspartei, die sozialdemokratische Arbeiterpartei beschuldigt, „der norwegischen Kultur einen Dolchstoß zu versetzen“. Und der Parteisprecher für Einwanderungsfragen twitterte den Satz: „Ich fürchte, ein neuer Kreuzzug ist unausweichlich.“
Als Plattform dienen der Fortschrittspartei vor allem drei Websites. Eine davon, Right.no, erhält Zuschüsse vom Außenministerium. Die Sites deklarieren sich als „islamkritisch“ und proisraelisch, sie verurteilen den Antisemitismus. Einer ihrer wichtigsten Inspiratoren ist ein Blogger namens Fjordman, von dem Breivik gesagt hat, er sei eine Zeit lang sein Vorbild gewesen. Fjordman legte erst nach dem Anschlag seine Identität offen, um nicht mit Breivik in Verbindung gebracht zu werden.
Fjordman heißt in Wirklichkeit Peder Jensen. Der ehemalige Student der Arabistik, heute Hilfspfleger in einer Einrichtung für geistig Behinderte, war 2002 für eine propalästinensische Menschenrechtsorganisation in Hebron tätig. Seitdem steht er auf der Seite Israels, wobei er sich auf die Verschwörungstheorien beruft, die Bat Ye’or in dem Buch „Eurabia“4 verbreitet hat. Der Autorenname ist ein Pseudonym. Dahinter verbirgt sich Gisèle Littman Orebi, eine aus Ägypten stammende britische Jüdin, die in ihrem Buch verbreitet, die europäischen Regierungen hätten beschlossen, sich mit den Muslimen zu verbünden und die weiße Bevölkerung im Austausch für eine garantierte Erdölversorgung zu verraten.
Diese irrwitzige Theorie macht sich an der Erdölkrise von 1973 fest.5 Als Beweis für die Verschwörung wird auf die „massive“ Zuwanderung von Bevölkerungsgruppen verwiesen, die angeblich eine besonders hohe Geburtenrate aufweisen. Deshalb befinde sich Europa bereits im Krieg. Mit dieser Ideologie fordern Fjordman und seine Komplizen zum „aktiven Widerstand“ auf, wobei sie ganz unverfroren auf den Widerstand gegen die Besetzung Norwegens durch die Nazis verweisen.
„Das sind nicht die klassischen Neonazis, die auf der Straße Muslime verprügeln“, erklärt der Ethnologieprofessor Thomas Hylland Eriksen, der über Fragen der multikulturellen Gesellschaft forscht. „Das sind nicht die männlichen Arbeitslosen, die auf der Straße stehen, weil ihre Fabrik dichtgemacht wurde. Die gehören zur unteren Mittelschicht, die haben viel gelesen, wenn auch nur äußerst selektiv.“6
Migranten, Islamophobie und eine frustrierte Mittelschicht
Gibt es überhaupt ein Einwanderungsproblem in Norwegen? Die Politik der Öffnung für ausländische Arbeitskräfte wurde bereits 1975 beendet. Viele Pakistaner waren ins Land gekommen. Sie bilden heute – in erster und zweiter Generation – die größte ethnische Gruppe aus einem außereuropäischen Land und machen zugleich die Mehrheit der 90 000 Norweger muslimischen Glaubens aus. Wobei daran zu erinnern ist, dass es in Norwegen keine strikte Trennung von Kirche und Staat gibt. Das evangelisch-lutherische Bekenntnis gilt vielmehr als „öffentliche Religion des Staates“, der sich 86 Prozent der 5 Millionen Einwohner zurechnen.7
Die seit 1975 gekommenen Einwanderer waren vor allem EU-Bürger aus Schweden, Polen, Frankreich oder Deutschland, die in der Industrie Arbeit fanden, oder aber Flüchtlinge und Asylbewerber, für die strenge Aufnahmekriterien gelten. Die Einwanderer und ihre Nachkommen sind heute gut integriert. Die Arbeitslosigkeit ist bei ihnen zwar mehr als doppelt so hoch wie im Landesschnitt (7,7 gegenüber 3,3 Prozent); in der zweiten Generation schrumpft die Differenz aber auf 1 Prozentpunkt.8
Bestätigt wird diese Integrationsleistung durch eine Umfrage aus dem Jahr 2010, in der 70 Prozent der Norweger von sich sagten, dass sie „die Kultur der Immigranten und ihre Teilnahme am aktiven Leben schätzen“, und der Aussage zustimmten, „dass die eingewanderten Arbeitskräfte aus einem nichtskandinavischen Land positiv für die norwegische Wirtschaft sind“.9
Für Norwegens multikulturelle Gesellschaft ist die Integration also offenbar kein kontroverses Thema. Wie lässt sich dann aber die Islamophobie erklären? Norwegen ist dank seiner Erdölvorkommen und seiner Fischereiindustrie ein reiches Land ohne größere Staatsschulden und war deshalb von der globalen Finanzkrise kaum betroffen. Der Anteil der Berufstätigen an der Bevölkerung ist mit 70 Prozent sehr hoch. Der Wohlfahrtsstaat funktioniert. Es gab keine drastischen Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben (trotz einer Reorganisation, der etliche soziale Einrichtungen zum Opfer fielen). Das Land leistet sich nach wie vor den großzügigsten Sozialstaat der Welt. Seit Jahren bescheinigt der Human Development Report der UN den Norwegern die höchste Lebensqualität in der Welt.
Aber auch ihnen blieben neoliberale „Reformen“ nicht erspart, die von der Arbeiterpartei durchgesetzt wurden. Das lässt sich an den Einkommensunterschieden und der wachsenden sozialen Ungleichheit ablesen. Der linke Thinktank „Manifest senter for samfunnsanalyse“ stellt in einem Report fest: „Seit 1990 ist die Differenz zwischen dem, was die Ein-Prozent-Gruppe der reichsten Norweger verdient, und dem Durchschnittseinkommen deutlich schneller gewachsen als in Großbritannien oder den USA.“10 Der Anteil der Mittelschichten am Geldvermögen (etwa Bankkonten und Aktien) hat sich zwischen 1984 und 2008 halbiert. Die Einkommen der Reichsten sind stark angestiegen, der Anteil der Löhne am Wertzuwachs dagegen ist gesunken.
Erst das macht verständlich, warum die Einwanderungsfrage zu einem zentralen Thema werden konnte. Die Neoliberalen sind, gestützt auf den arbeitgebernahen Thinktank Civitas, um den Beweis bemüht, dass das skandinavische Modell des Wohlfahrtsstaats nicht mehr funktionieren könne – obwohl die tägliche Realität zeigt, dass Steuereinnahmen und Wachstum das System gut finanzieren können.
Für die angebliche Krise des Sozialstaats machten und machen die Fortschrittspartei und Teile der Partei Høyre (Die Rechte) die Migranten verantwortlich. Im Frühjahr 2011 erschien eine Regierungsenquete zum Thema „Migranten im Arbeitsleben“. Sie wurde von der Rechten sofort dazu benutzt, gegen die Einwanderungsgesellschaft und den Wohlfahrtsstaat zu wettern. Die Botschaft lautete, dass die Gesellschaft durch „die nichtwestlichen Immigranten“ einen „Nettoverlust“ erleide. Die Befunde des Reports waren zwar weit weniger eindeutig, aber allein die Tatsache, dass eine rot-grüne Regierung eine Kommission zu diesem Thema einsetzt, zeugt von einem radikalen Wandel.
Das norwegische Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist seit 1998 fast jedes Jahr gewachsen (nur 2009 gab es einen Rückgang), und das BIP pro Kopf ist das drittgrößte in Europa, davor lagen nur die Steueroasen Liechtenstein und Luxemburg. Doch der wachsende Wohlstand hat die Zunahme der sozialen Ungleichheit verschleiert. Und die Frustration der Wähler, die sich benachteiligt fühlen, wird von der populistischen Rechten ausgebeutet. Das gilt vor allem für die Mittelschichten, die seit Anfang der 1990er Jahre immer weiter hinter die Reichen zurückfallen.
So sieht es auch der schwedische Wirtschaftswissenschaftler Ali Esbati, ehemals Vorsitzender der schwedischen Partei Linke Jugend und heute Forscher beim Osloer Thinktank Manifest: „Wenn die politische Diskussion über die Reform des Sozialsystems, die Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt oder die notwendigen wirtschaftlichen Maßnahmen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht ernsthaft genug geführt wird, rücken andere Themen ins Blickfeld wie zum Beispiel die kulturellen Konflikte.“
Der Ethnologe Eriksen sieht „keinen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen der ökonomischen Stagnation und dem Erstarken einer populistischen Rechten“. Allerdings sympathisierten mit der radikalen islamophoben Rechten viele Bürger, die sich benachteiligt fühlen: „Sie empfinden, dass ihr Lebensstandard stagniert; sie fühlen sich an den Rand gedrängt und von der Gesellschaft ausgeschlossen. Nach dem 22. Juli gab es viele, die lautstark daran erinnerten, dass man nicht auf sie gehört hätte. Sie betrachten sich als wesentliche Kraft der Nation, können sich aber nicht mehr mit ihr identifizieren, weil sich ein anderes Verständnis der nationalen Gemeinschaft durchgesetzt hat: ein eher kosmopolitisches und egalitäres, das mehr auf die Bürgergesellschaft abhebt als auf die ethnisch-nationale Zugehörigkeit.“
Die populistische Rechte strebt im Grunde danach, diesen „Volkswillen“ zu repräsentieren. Genauer gesagt, den Willen derer, die Ali Esbati so beschreibt: „Sie gehören in bestimmten Bereichen zur Elite und können es nicht ertragen, dass diejenigen, die sie verachten, sich in der Gesellschaft weiter nach vorn schieben und damit sichtbarer werden. Sie hassen die Arbeiterbewegung, die Organisationen für die Befreiung der Frauen und erst recht jene Figuren des akademischen und kulturellen Lebens, die sich für eine andere Gesellschaftsordnung aussprechen.“
Eine Stimme dieser populistischen Rechten ist der „Terrorismusexperte“ Helge Lurås vom renommierten Norwegischen Institut für Internationale Angelegenheiten (Nupi). Er hat noch am Tag des Attentats im russischen Fernsehen (Russia Today) erklärt, die Verantwortung für das Attentat liege bei den Multikulti-Anhängern, weil diese „mit ihrer Immigrationspolitik den Volkswillen erstickt haben“.
Der unvorstellbare Gewaltakt vom 22. Juli 2011 hat zwar in Norwegen stattgefunden, aber die rechte Welle ist keineswegs auf Skandinavien beschränkt. Ihre tieferen Ursachen liegen jenseits von Nordeuropa, meint Ali Esbati: „Im gesamten Westen haben in den letzten Jahrzehnten die gut organisierten Kräfte des Kapitalismus gegen die ökonomische Stagnation gekämpft, indem sie die Ausbeutung verstärkt und die alten Bastionen der Arbeiterbewegung geschleift haben.“ Esbati meint damit vor allem die Angriffe auf die Rentensysteme, das öffentliche Gesundheitswesen und die Rechte der Arbeiter. Daher witterten die rechten Kräfte nicht nur in Skandinavien, sondern überall die Chance, „die allgemeine Angst auszubeuten und eine soziale Landschaft herzustellen, die durch ethnische und religiöse Trennlinien zerklüftet ist“.