13.07.2012

Wir Touristen

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Wir Touristen

Von der Sommerfrische zum CouchSurfing von Philippe Bourdeau und Rodolphe Christin

Wir Touristen
Zahlen und Fakten
Urlaub macht Arbeit

Kaum war der Tourismus zum Massentourismus geworden, redeten die Kritiker schon vom „neuen Opium für das Volk“.1 Statt sich für Politik zu interessieren, ließen sich die Bürger von der „Obsession des Jahresurlaubs“2 vereinnahmen und ablenken.

Dabei war noch vor 130 Jahren ein „Recht auf Faulheit“, wie es Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, in seinem auch heute noch provokanten Essay einforderte, für die Mehrheit der Bevölkerung undenkbar. Lafargue hielt es für eine denkbar schwierige Aufgabe, „das Proletariat zu überzeugen, daß die Parole, die man ihm eingeimpft hat, pervers ist, daß die zügellose Arbeit, der es sich seit Beginn des Jahrhunderts ergeben hat, die schrecklichste Geißel ist, welche die Menschheit je getroffen hat“. Arbeit sei „eine dem gesellschaftlichen Organismus nützliche Leidenschaft“ nur dann, „wenn sie weise reglementiert und auf ein Maximum von drei Stunden täglich beschränkt wird“.3

Das gehobene Bürgertum begab sich schon im 19. Jahrhundert auf Reisen: zur Kur in Baden-Baden, wo bereits 1805 als erstes modernes Hotel der Badische Hof entstand, auf Gesellschaftsreise nach Ägypten, die seit 1864 das Berliner Reisebüro Louis Stangen anbot, zur Gebirgstour in die Schweiz mit Edward Kennedys 1860 gegründeten „Alpine Club“. Dagegen ist der bezahlte Urlaub für Arbeiter und Angestellte eine relativ junge Errungenschaft: Der erste Vertrag über sechs bezahlte freie Tage im Jahr kam 1909 in Deutschland zustande, zwischen der Metallarbeiter-Gewerkschaft und 32 Unternehmern.4

Während im nationalsozialistischen Deutschland ab 1933 auch die Freizeit unter die Kontrolle des totalitären Regimes geriet (die populärste NS-Institution war die zur Deutschen Arbeitsfront gehörende Unterorganisation „Kraft durch Freude“, abgekürzt KdF), führte die französische Volksfrontregierung 1936 einen rechtlichen Anspruch auf bezahlten Urlaub ein, der etwa in den USA noch 1940 erst einem Viertel der Arbeiter zustand.

Mit dem Aufschwung der Tourismusindustrie nach 1945 wurde die emanzipatorische Dynamik des bezahlten Urlaubs von der Ideologie der Gewinnmaximierung überformt. Die Erholungsreise wurde zum marktfähigen Produkt. Der Urlauber soll möglichst viel Geld ausgeben, das war und ist das Ziel der Tourismusbranche, die heute direkt oder indirekt 9 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet (siehe Zahlen und Fakten, S. 15).

In der künstlichen Parallelwelt implantierter „Themen-“ oder „Erlebnisparks“ ist der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung so gut wie ausgeschlossen. Spezielle touristische Transportmittel – wie die Gondel durch Venedig oder aufs Matterhorn – werden unentbehrlich. Und fast alles ist vorgeschrieben: Wo man wohnen, wohin man gehen, wie man sich verhalten soll. Zum Beispiel angesichts eines Bären, der sich aus dem Abfall ernährt, den zu viele Touristen auf ihren Wanderungen zurückgelassen haben.

Der „Park“ wird zum Idealmodell des geschützten Raums, in dem das gute Leben endlich möglich wird. „Hier erfinden wir ein anderes Leben“, verspricht die Marketingabteilung der Französischen Nationalparks auf ihrer Webseite. Gerade Nationalparks bieten sich den Besuchern als Orte an, wo sich ihre Hoffnung erfüllt, „etwas Anderes“, Unerwartetes, Authentisches zu erleben. Tatsächlich dienen auch sie nur einem kalkulierten Zweck. Ihre Anziehungskraft beruht auf dem positiven Gefühl, das man bei dem Gedanken an den so sehnsüchtig erwarteten Urlaub mit dem Begriff „anderswo“ verbindet. Von diesem Anderswo erhofft man sich – im Kontrast zu dem urbanen Alltagsleben – ein Erleben, das die gewohnten Zwänge hinter sich lässt, also Entfremdung durch Arbeit und finanzielle Einschränkungen, soziale Kontrolle oder soziale Isolation, Unsicherheit und Zeitdruck des Alltagslebens. Und das weder Verkehrsstaus noch Lärm und schlechte Luft kennt.

Die Tourismusindustrie braucht daher nur ein einziges Verkaufsargument: „Überzeugen Sie Ihre unentschlossenen Kunden, dass die Dünen eine echte Kur für die Nerven sind: Ruhe, gemächliches Kameltrekking und ein unverstelltes Panorama“, heißt es in L’Echo touristique. Die „Reisefreiheit“ wird zum puren Werbeslogan, der die eigentlich politische Bedeutung des Wortes verdeckt.

Abgesehen von dem geradezu zwanghaften Bedürfnis, die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus hervorzuheben, soll die lockere Werbesprache vor allem dessen Rolle als Vorhut und Wegbereiter einer spielerischen Globalisierung festigen, die als „Liberalisierung mit menschlichem Antlitz“ und neue „touristische Weltordnung“ gefeiert wird. So jedenfalls sieht es das Wunschbild der Welttourismusorganisation vor.5

Dabei ist der Mythos vom Tourismus als Fortschrittsfaktor schon seit Längerem ebenso überholt wie das Bild vom sorglosen, freundlichen und ichbezogenen Touristen. Angesichts der vielfältigen globalen Krisen – Energieversorgung, Klimawandel, Bevölkerungswachstum, Epidemien, Kriege und Konflikte – wächst das Verantwortungs-, ja sogar Schuldbewusstsein, das immer häufiger dazu führt, dass sich tatsächlich auch das Verhalten ändert.

Manche vermeiden bewusst eine bestimmte Form des Tourismus, andere suchen nach einem professionellen, politischen oder humanitären Anlass, um eine Fernreise unternehmen zu können, ohne sich dabei als „Tourist“ zu fühlen. Oder sie besinnen sich auf die lokalen Erholungsangebote in der eigenen Stadt und der unmittelbaren Umgebung.

Und dann gibt es natürlich auch immer wieder Aussteiger, die sich dafür entscheiden, gleich für immer dort zu leben, wo sie früher ihre Ferien verbracht haben. Freilich ist der Sonnenkult auch nicht mehr so beliebt wie noch vor 30 Jahren. Die Hautkrebsrate steigt von Jahr zu Jahr, inzwischen ist der beste Sonnenschutz fast ein wichtigeres Geprächsthema als die schönsten Strände.

Mittlerweile gibt es tatsächlich eine Identitätskrise des westlichen Touristen, die vermutlich in erster Linie eine Minderheit der Mittelschicht durchleidet. Sie hat ein gewisses Misstrauen gegenüber einem räuberischen touristischen Konsumismus entwickelt, das sich darin äußert, dass der Tourist sich selbst nicht mehr als solchen wahrnehmen kann oder will. Deshalb versucht er seine Rolle und seinen Blick auf die Gesellschaft des bereisten Landes zu verändern. Er will „Land und Leute“ intensiver kennenlernen, auf der Basis anderer Beziehungen und Vermittlungen und nicht nur in der typischen Rolle des Besuchers beziehungsweise Kunden. Der eifrige Nichttourist möchte vom potenziellen Voyeur zum gewissenhaften Zeugen werden, der sich wie ein guter Bürger verhält.

Als Entwicklungshelfer, Pilger oder Protestwanderer

Wer nicht nur Konsument sein will, ist beim sogenannten Mitmachtourismus gut aufgehoben. Da böte sich etwa das CouchSurfing an, die internationale Tauschbörse für kostenlose Übernachtungen, oder das Greeter-Konzept, das 1992 zuerst in New York erprobt wurde und inzwischen ein globales Netzwerk unterhält. Die Berliner Greeter stellen sich ihren Website-Besuchern wie folgt vor: „Die freiwilligen Stadtführer lieben ihren Kiez so sehr, dass sie anderen Menschen gern einen Einblick in ihr ganz persönliches Berliner Leben gewähren möchten. Die Greeter begleiten dich durch die Stadt ohne Bezahlung und ohne ein Trinkgeld. So, wie es auch ein Freund ganz selbstverständlich machen würde.“

Seit Längerem verbreitet sich auch das Gespür für die Auswirkungen, die der Tourismus auf die Umwelt und Gesellschaft der Urlaubsländer hat. Als Reaktion auf die einschlägige Kritik gibt es zahlreiche Versuche, den Tourismus quasi neu zu erfinden. Solche Reformprojekte definieren sich etwa als Ökotourismus (siehe den Beitrag von Clotilde Luquiau auf Seite 18) oder je nachdem als nachhaltiger, solidarischer, verantwortungsvoller, ethischer, fairer Tourismus.

Die neueste Unterkategorie ist der „humanitäre Tourismus“, der allerdings eine Widersprüchlichkeit verkörpert, die er zu überwinden vorgibt: die Welt zugleich zu erleben und zu retten. Dennoch oder vielmehr gerade deshalb dürfte er sich in Zukunft immer mehr durchsetzen. Immerhin sollte man die quasi persönliche Entwicklungshilfe, die diese redlichen, manchmal aber auch schlicht opportunistischen Alternativreisenden leisten, nicht arrogant unterschätzen. Wobei man zugeben muss, dass einige der „solidarischen“ Tourismusangebote ziemlich suspekt sind. „Reisen Sie absolut verantwortungsvoll nach Vietnam – Sie werden keinem anderen Touristen begegnen“, hieß es zum Beispiel in einer Sendung von France Inter im Januar 2010. Der moralische Anspruch, „gegen den Strom zu reisen“, reduziert sich auf schlichte Tipps, wie man dem Massentourismus in der Halongbucht entkommen kann.

Die Abwendung vom klassischen Tourismus geht auf die Situationistische Internationale (S.I.) zurück, die 1957 in Paris gegründet wurde. Die Künstlergruppe, zu der sich bis zu ihrer Auflösung Anfang der 1970er Jahre nie mehr als 70 Mitglieder bekannten, lehnte die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit grundsätzlich ab. Mittels ihrer Kunstprojekte, die sie als politische Manifeste verstanden wissen wollten, versuchten sie, ganz gewöhnliche Gegenstände mit einem neuen Zauber zu versehen. Im scheinbar ziellosen Umherstreifen – das Guy Debord, Gründer und theoretischer Kopf der Gruppe, als „psychogeografische Desorientierung“ bezeichnete – sollte die veränderte Wahrnehmung des Alltäglichen quasi erwandert werden. Mit dem Ziel der Befreiung von den Zwängen der Funktionalität und des ökonomischen Nutzens. Poesie gegen Politik.

Debords Konzept ist nach wie vor aktuell. Statt krampfhaft immer neue Versionen von „alternativem“ Tourismus zu erfinden, könnte man genauso gut gleich ganz auf ihn verzichten. Es gibt bereits zahlreiche Beispiele für diese radikale und keineswegs bloß antikonformistische neue Form des Reisens: Tourneen von Amateurmusikern, spirituelle oder politische Wanderungen, Kreativurlaub oder auch längere Auslandsaufenthalte bei einem Freiwilligen- oder Friedensdienst.

Es gibt also viele Möglichkeiten, die Reise zum persönliches Abenteuer zu machen. Man muss sich nur von den vorgegebenen Codes und Verhaltensregeln frei machen, die etablierten Orte und Wege verlassen und sich auf die vielfältigen Stimmungen einlassen, die aus der Verbindung von Kunst, Architektur, Landschaft und Mentalität der Menschen entstehen.

Nachdem sich der emanzipatorische Mythos des Urlaubs abgenutzt hat, ist die Zeit für einen Posttourismus gekommen – bei dem man Ernst Blochs utopische Gleichsetzung von Freizeit und Freiraum im Hinterkopf behalten sollte.8

Fußnoten: 1 Siehe etwa bei Joffre Dumazedier, Begründer einer Soziologie der Freizeit, in: „Vers une civilisation du loisir?“, Paris (Seuil) 1962. 2 Maurice Dommanget im Vorwort zur französischen Neuauflage (1970) von Paul Lafargues „Droit à la paresse“ von 1883 (das vier Jahre später in einer deutschen Übersetzung erschien). 3 Paul Lafargue, „Das Recht auf Faulheit“, Neuauflage, Grafenau (Trotzdem Verlag) 1999, S. 33. 4 Siehe Hans Magnus Enzensberger, „Eine Theorie des Tourismus“, in: ders., „Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie“, Suhrkamp (Frankfurt am Main) 1964, S. 179–204. 5 „Gébé, L’An 01“, L’Association, coll. „Eperluette“, Paris, 2000. 6 „Globaler Ethik-Kodex für den Tourismus der Welttourismus-Organisation (WTO)“, übersetzt von Christina Kamp für den EED-Informationsdienst Tourism Watch, www.tourism-watch.de. 7 Von dem Filmemacher Guy Debord (1931–1994) wurden einige Bücher auch ins Deutsche übersetzt; die meisten sind in der Berliner Edition Tiamat erschienen, unter anderem „Die Gesellschaft des Spektakels“ (1967), Berlin (Edition Tiamat) 1996. 8 Ernst Bloch, „Das Prinzip Hoffnung“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1985. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Philippe Bourdeau ist Geograf, Rodolphe Christin Soziologe. Herausgeber von „Le Tourisme: émancipation ou contrôle social?“, Bellecombe-en-Bauges (Editions du Croquant) 2011.

Zahlen und Fakten

Auslandstourismus

200 Millionen bis 250 Millionen Menschen verbringen mindestens einen Urlaub pro Jahr im Ausland. Zu den privilegierten Globetrottern gehören:

– 26 Prozent der EU-Bevölkerung;

– mehr als 50 Prozent der Dänen, Niederländer, Norweger und Österreicher;

– mehr als 40 Prozent der Deutschen, Belgier und Briten;

– weniger als 20 Prozent der Franzosen, Italiener und Spanier.

Exportvolumen wichtiger Branchen (in Milliarden Dollar)

– Tourismus: 1 032 (30 Prozent der weltweiten Dienstleistungsexporte)

– Energiesektor: 1 800

– Chemische Industrie: 1 450

– IT-Branche: 1 300

– Landwirtschaft: 1 150

– Autoindustrie: 850

– Textilindustrie: 530

Die Tourismusbranche (Inlands- und Auslandsreisen) erwirtschaftet direkt oder indirekt 9 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) und beschäftigt 250 Millionen Menschen.

Quellen: Internationale Arbeitsorganisation (ILO); Welttourismusorganisation (UNWTO); Eurostat 2008, World Travel & Tourism Council (WTTC).

Urlaub macht Arbeit

Beim Thema Tourismus sind sich alle einig. Ferien haben nichts mit Politik zu tun, die ja anstrengend ist, vielmehr geht es dabei einzig und allein um Erholung und Vergnügen (respektive ums Geschäft). „Der Wert des Urlaubs ist der Urlaub von den Werten“, hieß es schon, als der moderne Tourismus noch in den Kinderschuhen steckte.1

Das klassische Werbemotiv ist der Urlaub als Auszeit. Da hüpfen, wie in der Reklame des Reiseanbieters Opodo, zwei Menschlein ins Wasser, die nicht nur ihre Büroklamotten am Strand zurückgelassen haben, sondern auch ihre grauen Alltagsmasken. Nach dieser Darstellung, die ja etwas Verlockendes haben soll, erfüllt sich im Urlaub also vor allem das dringende Bedürfnis, den gesellschaftlichen Zwängen zu entfliehen – eine Art kollektiver Auszeit. Daher rührt womöglich der leicht abfällige Klang des Wortes „Tourist“, in dem Leichtigkeit, Amateurhaftigkeit, Dilettantismus und sogar Zynismus mitklingen.

Doch alle Versuche, die Branche als solche völlig vom Alltag abzutrennen, müssen vergeblich bleiben. Die Leidenschaft, mit der etwa Bürgerinitiativen touristische Freizeitanlagen bekämpfen, ist dieselbe wie beim Widerstand gegen Müllverbrennungsanlagen oder Autobahnen. Der Protest gegen die „Freizeitfabriken“, der früher nur ein „nicht vor meinem Haus“ ausdrückte, hat sich längst zur Parole „Weder hier noch anderswo“ radikalisiert.

Das heitere Image des Tourismus als umweltfreundliche, Arbeitsplätze schaffende, dem Lokalpatriotismus förderliche Aktivität ist nicht mehr glaubwürdig. Vielmehr erleben wir im Urlaubsland Frankreich seit vielen Jahren immer öfter Arbeitskämpfe auch in der Tourismusbranche.

Im Februar 2004 streikten in den großen Wintersportgebieten die Seilbahnangestellten. Große Publicity erfuhr vier Monate später, während des Filmfestivals in Cannes, der fast einwöchige Streik im Luxushotel Carlton International. Im September 2005 legten erstmals die Angestellten in den Fremdenverkehrsämtern ihre Arbeit nieder, im darauffolgenden März gingen die Saisonarbeiter im Skiort Chamonix auf die Barrikaden. Und im Mai 2008 streikten die Angestellten des Reiseunternehmens Fram – zum ersten Mal in der 60-jährigen Firmengeschichte.

Dass es so lange gedauert hat, bis in Frankreich – wo Arbeitskämpfe durchaus keine seltene Sache sind – auch Betriebe der Tourismusbranche bestreikt wurden, verweist auf die besonderen Herausforderungen, vor denen die Gewerkschaften stehen. Zumal in einem Bereich, in dem die saisonale Beschäftigung so weit verbreitet ist und in dem illegale Arbeitsverhältnisse besonders häufig anzutreffen sind. P. Bourdeau u. R. Christin

Fußnote: 1 Edgar Morin, „Introduction à une politique de l’homme“, Paris (Editions du Seuil) 1965.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2012, von Philippe Bourdeau und Rodolphe Christin