Schlaflos vor dem Bildschirm
von Stephanie Grimm
Unser Schlafverhalten hat sich in den letzten 150 Jahren stärker verändert als in vielen Jahrhunderten zuvor. Doch was genau ist anders geworden, seit Thomas Edison 1879 das Patent für seine „Electric Lamp“ beantragte und, im Zuge der sich beschleunigenden Industrialisierung, die Nacht im Tagesablauf zurückgedrängt wurde?
Der biologische Hintergrund ist schnell zusammengefasst: Nachts haben wir eigentlich zehnmal so viel Melatonin im Blut wie am Tag. Doch Licht – insbesondere das blaustichige, wie es unter anderem aus Tablet- und Smartphone-Displays strahlt – senkt den Spiegel dieses Hormons und erleichtert uns, den Schlaf aufzuschieben. Morgens klingelt der Wecker trotzdem. Zudem stört die Allgegenwart von Kunstlicht, auch durch die Lichtverschmutzung in dichter besiedelten Gegenden, den menschlichen Biorhythmus. Die Folge: innere und äußere Uhr laufen nicht mehr synchron.
In der Chronobiologie wird der daraus resultierende Zustand bisweilen als „sozialer Jetlag“ bezeichnet – von dem Schichtarbeitende besonders betroffen sind. Dem statistischen Bundesamt zufolge arbeiten in Deutschland 8,5 Prozent der Beschäftigten regelmäßig nachts; in den Industrienationen sind etwa 20 Prozent irgendwann einmal im Schichtbetrieb beschäftigt – mit steigender Tendenz: In unserer Always-on-Kultur sollen immer mehr Dienstleistungen zu jeder Tageszeit zur Verfügung stehen. Chronischer sozialer Jetlag mindert nicht nur die Lebensqualität, sondern bringt langfristige Probleme mit sich. Etliche Zivilisationskrankheiten – von Demenz über Herzerkrankungen bis Diabetes – werden mit Schlafmangel in Verbindung gebracht.
Wie sich der Einzug des künstlichen Lichts auf unseren Nachtschlaf auswirkt, ist nicht so klar zu beziffern – nicht zuletzt, weil Menschen ihr Schlafpensum oft falsch einschätzen. Statistische Erhebungen aus diesem Bereich sind widersprüchlich bis unzuverlässig.
So geht aus Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervor,1 dass die deutsche Bevölkerung durchschnittlich 8 Stunden und 18 Minuten schläft und damit im internationalen Vergleich nur im unteren Drittel liegt – obwohl sie das 8-Stunden-Schlafideal ja übererfüllt. Eine Erhebung im Auftrag der Techniker Krankenkasse konstatierte hingegen 2017, dass gerade mal 16 Prozent der Deutschen auf acht Stunden oder mehr kommen. 32 Prozent schlafen bis zu sieben, 28 nur sechs Stunden; ein knappes Viertel schläft noch weniger.2 Der Anteil der Menschen, die aufgrund ihrer genetischen Disposition dauerhaft mit sehr wenig Schlaf auskommen, liegt allerdings auf jeden Fall unter diesem Wert – in diesem Punkt ist sich die Wissenschaft einig.
2015 sorgte eine Studie von Ghandi Yetish für Aufsehen, die das Schlafverhalten von Menschen untersuchte, die heute noch nahezu wie unsere Jäger-und-Sammler-Vorfahren leben. Die erstaunliche Erkenntnis: Obwohl ihre Nächte in Südamerika und Afrika, wegen der Nähe zum Äquator, etwa gleichbleibend lang sind, schlafen sie kaum länger als moderne Stadtbewohner:innen: zwischen 5,7 und 7,1 Stunden.3
Was sich durch die technologischen Veränderungen der letzten anderthalb Jahrhunderte verändert hat, lässt sich also nicht eindeutig bestimmen. Ein Aspekt ist jedoch offenkundig: Dem Schlaf kommt zunehmend seine Selbstverständlichkeit abhanden. Derart ineffektiv verbrachte Zeit schreit – zumindest in den Ohren des modernen Menschen – danach, optimiert zu werden. Und wer Regeneration sucht, für den stehen zahllose Erholung versprechend Konsumangebote bereit. Statt in die Wellness-Oase oder zum Yoga zu eilen, könnte man ja auch mal einen freien Nachmittag im Bett verbringen. Und wenn daraus ein Siesta-Nickerchen wird – umso besser für das Schlafkonto.
Es überrascht kaum, dass Schlafstörungen stark zugenommen haben, insbesondere bei jungen Menschen. Der Erhebung der Techniker Krankenkasse zufolge nehmen nur 60 Prozent der Befragten ihren Schlaf als erholsam wahr. Die Anforderungen der Arbeitswelt setzen unseren Auszeiten zu – nicht zuletzt, weil sich die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer weiter auflösen und, gefühlt oder tatsächlich, ständige Erreichbarkeit gefordert ist: ein Prozess, der durch die Digitalisierung noch beschleunigt wurde.
Auch die Coronapandemie ist ein Schlafkiller. Während noch im Juni 2020 bei einer Forsa-Studie jede:r zehnte Befragte angab, pandemiebedingt schlechter zu schlafen, hat sich dieser Wert mittlerweile verdoppelt.4 Besonders Eltern jüngerer Kinder sind betroffen; die Doppelbelastung aus Homeschooling und Homeoffice fordert nach einem Jahr Pandemie offenbar ihren Tribut.
Von der aktuellen Ausnahmesituation einmal abgesehen: Wenn sich die Arbeitswelt gegen den Schlaf verschworen hat, sind wir selbst und unser Lebensstil die Mittäter. Wir haben schlichtweg keine gesellschaftliche Kultur um dieses zentrale Bedürfnis herum entwickelt – anders als beim Thema Ernährung oder Bewegung. Aufmerksamkeit bekommt der Schlaf nicht als wertzuschätzender Aspekt des täglichen Lebens, sondern allenfalls, wenn er zum Problem wird – nicht zuletzt von der Ratgeber- und der Pharmaindustrie.
Den Schlaf in Einklang mit dem eigenen Lebenswandel zu bringen, bleibt jedem Einzelnen überlassen; Mittel, die Optimierung versprechen, boomen: smarte Armbanduhren und Apps etwa, die vorgeblich den Schlaf beobachten, um einen zum optimalen Zeitpunkt zu wecken. Der Schlaf soll für ein Maximum an Regeneration sorgen, in einem immer engeren Zeitfenster.
Zumindest die Krankenkassen haben das als Problem identifiziert: Eine weitere Umfrage – von der Barmer Ersatzkasse in Auftrag gegeben – ergab, dass knapp 40 Prozent der Bevölkerung elektronische Geräte im Schlafzimmer haben, vor allem Smartphones und Fernseher. Diese werden auch kurz vor oder nach der Nachtruhe genutzt – und stören den Schlaf entsprechend.
Durch das Vordringen digitaler Medien in alle Nischen ist Schlafmangel auch außerhalb der Industrieländer ein Thema geworden, auch dort, wo die Elektrifizierung sich noch nicht flächendeckend durchgesetzt hat. Saverio Stranges von der University of Warwick untersuchte die Schlafqualität von Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen in acht asiatischen und afrikanischen Ländern und kam zu dem Ergebnis, dass diese rapide abnimmt. Das hat wohl nicht zuletzt mit langen, durch den Verkehrskollaps in vielen Megacitys verursachten Arbeitswegen und der Allgegenwart des Smartphones zu tun. Der Studie zufolge droht „eine globale Epidemie der Schlaflosigkeit“.5 ⇥Stephanie Grimm
1 Time Use Database, OECD, 5. April 2020. Daten von 2012/13.
2 „Schlaf gut, Deutschland“, TK-Schlafstudie 2017.
Stephanie Grimm ist freie Journalistin. Autorin von „Schlaft doch, wie ihr wollt“, München (Pantheon) 2016 (vergriffen, als eBook erhältlich).
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