08.04.2021

In der Mitte der Nacht

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In der Mitte der Nacht

In vorindustrieller Zeit schliefen die meisten Menschen in zwei Phasen, erst die künstliche Beleuchtung hat diesen Schlafrhythmus verändert

von Roger Ekirch

Andrea Grützner, Tanztee, ohne Titel 3, 2014, 44 x 64 cm
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Zum Herbstbeginn 1878 wanderte der damals 27-jährige Robert Louis Stevenson zwölf Tage lang durch die Cevennen. Seine einzige Reisebegleitung war eine Eselin namens Modestine. Erst fünf Jahre später sollte der schottische Schriftsteller seinen Abenteuerroman „Die Schatzinsel“ veröffentlichen, der seinen literarischen Ruhm begründete. Eines Nachmittags schlug Stevenson sein Lager auf einer kleinen, von Pinien umsäumten Lichtung auf. Die Sonne war gerade untergegangen, als er sich nach dem Abendessen in seinem Schlafsack ausstreckte und die Schirmmütze über die Augen zog.

Er schlief jedoch nicht bis zum Morgen durch, sondern wachte kurz nach Mitternacht auf, zündete sich eine Zigarette an und genoss die innere Ruhe. Später schrieb er über diese nächtlichen Stunden als kleine Flucht aus „der Bastille der Zivilisation“ und fragte sich, „durch welch unhörbare Aufmunterung und sanften Hauch der Natur all diese Schläfer zur gleichen Stunde ins Leben zurückgerufen werden?“1

Stevenson wusste nicht, dass er in jener Herbstnacht einem Schlafrhythmus folgte, der lange allgemein verbreitet gewesen war. Bis in die Moderne wurde der Schlummer der meisten Menschen in Westeuropa – nicht nur der Schäfer und Holzfäller, die von Berufs wegen Etappenschläfer waren – mitten in der Nacht von einer oder mehreren wachen Stunden unterbrochen. Die Menschen standen auf, um ihre Notdurft zu verrichten, zu rauchen oder sogar ihren Nachbarn einen Besuch abzustatten. Viele blieben auch einfach nur liegen, schliefen miteinander, beteten oder dachten über ihre Träume nach, die sich gewöhnlich kurz vor dem Erwachen aus diesem „ersten Schlaf“ einstellten.

In der Geschichtswissenschaft schien man lange kein Interesse daran zu haben, herauszufinden, was es eigentlich mit diesem unterbrochenen Schlaf auf sich hat, der in verschiedensten Quellen, von Gerichtsprotokollen über Tagebücher bis hin zu literarischen Werken, mehr oder weniger bruchstückhaft erörtert wurde.

Die erste Schlafphase wurde im Lateinischen als „primo somno“ oder „concubia nocte“ bezeichnet, woraus im Italienischen später der „primo sonno“ oder „primo sono“ wurde. Im Französischen sprach man vom „premier sommeil“ oder „premier somme“ („ersten Schlaf“ beziehungsweise „Schläfchen“), der in der englischen Übertragung zum „first nap“ („erstes Nickerchen“) oder sogar „dead sleep“ („Tiefschlaf“) wurde. Das nächtliche Erwachen, das Stevenson poetisch als „nächtliche Auferweckung“ beschreibt, wurde allgemein „watch“ oder „watching“ („Nachtwache“ oder „Wachen“) genannt.2

Beide Schlafphasen waren etwa gleich lang. Die Menschen wachten nach Mitternacht auf und schliefen nach einer kurzen Wachphase erneut bis zum Morgen. Natürlich gingen nicht alle zur selben Zeit zu Bett oder standen zur selben Stunde wieder auf, auch nicht diejenigen, die sich früh genug zur Ruhe begaben, um beide Schlafphasen zu erleben. Und wer gewöhnlich erst nach Mitternacht schlafen ging, wird wahrscheinlich vor Tagesanbruch auch nicht noch einmal aufgewacht sein.

Auf den ersten Blick liegt es nahe, diesen von der Nachtwache unterbrochenen Schlaf als kulturelles Erbe des frühen Christentums zu betrachten. Die wohl mit Abstand bekannteste Regel aus dem um 540 entstandenen Regularium des Ordensgründers Benedikt von Nursia ist die Anweisung an die Mönche, um Mitternacht aufzustehen, um Bibelverse und Psalmen zu rezitieren. Bis ins späte 12. Jahrhundert waren die Benediktiner der maßgebliche Orden in Westeuropa; und in allen ihren Klöstern wurde das nächtliche Beten praktiziert.

Tatsächlich tauchen die oben genannten Begriffe aber auch schon bei spätantiken, nichtchristlichen Autoren auf, wie den beiden Griechen Pausanias oder Plutarch, oder noch früher in der römischen Geschichte „Ab urbe condita libri“ des Titus Livius oder in Vergils „Aeneis“, die beide im 1. Jahrhundert vor Christus entstanden. Sogar in der „Odyssee“, die Ende des 8. oder Anfang des 7. Jahrhunderts vor Christus verschriftlicht wurde, ist von dem unterbrochenen Schlaf die Rede. Zudem fand man noch im 20. Jahrhundert in einigen außereuropäischen Kulturen entsprechende Hinweise, dass hier ein ähnlicher Schlafrhythmus gang und gäbe war wie in Europa zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert.

Im Gegensatz zu Stevensons Spekulationen hatte das nächtliche Erwachen jedoch nur wenig mit dem Schlaf in freier Natur zu tun, auch wenn Schäfer und Jäger diesen Umstand für sich zu nutzen wussten. Nach den Experimenten, die in den 1990er Jahren am National Institute of Mental Health (NIMH) in Bethesda, Maryland, durchgeführt wurden, war das möglicherweise der Dunkelheit geschuldet, die in der vorindustriellen Zeit in den meisten Häusern herrschte.

Der Psychiater Thomas Alvin Wehr und sein Team versuchten damals „prähistorische“ Schlafbedingungen zu rekonstruieren: In dem Experiment sollten die Pro­ban­d:in­nen mehrere Wochen ohne künstliches Licht leben. Am Ende hatten sie einen Schlafrhythmus angenommen, der dem in den alten Quellen beschriebenen überraschend ähnlich war. Da sie bis zu 14 Stunden pro Nacht ohne künstliches Licht auskommen mussten, lagen sie zunächst zwei Stunden wach, dann schliefen sie vier Stunden. Anschließend erwachten sie für zwei bis drei ruhige und als angenehm empfundene Stunden, bis sie schließlich wieder einschliefen und nach vier Stunden endgültig erwachten.

In dieser Zwischenphase einer „angstfreien Nachtwache“ schütteten die Teilnehmer des Experiments vermehrt bestimmte Hormone aus; so war vor allem ihr Prolaktinspiegel deutlich erhöht. Dank dieses sogenannten Brutpflege-Hormons können etwa Hennen über einen langen Zeitraum bewegungslos brüten. Wehr zufolge lässt sich der besondere Bewusstseinszustand in dieser Wachphase mit einer Meditation ver­gleichen.3

Auch wenn in der Neuzeit die Menschen, die nach Mitternacht erwachten, weitaus früher wieder einschliefen als die Pro­ban­d:in­nen in dem NIMH-Experiment, standen damals etliche richtig auf. Viele hatten sicherlich nur das Bedürfnis, ihre Blase zu entleeren. Andere nutzten die Gelegenheit, um zu rauchen, nach der Zeit zu sehen, das Feuer wieder anzufachen oder zu arbeiten. Der Landwirt Henry Best of Elmswell, der im 17. Jahrhundert lebte, stand zum Beispiel immer „ungefähr um Mitternacht“ auf, um seine Felder vor herumstreunenden Tieren zu schützen.

Mütter sahen nach ihren Kindern oder erledigten liegengebliebene Hausarbeit, wie etwa Wäschewaschen. „Oft ist es Mitternacht, wenn wir vom Bett uns erheben“, klagte etwa die Dichterin und Wäscherin Mary Collier in ihrem 1739 veröffentlichten Poem „The Woman’s Labour, an Epistle to Mr. Stephen Duck“.4 Wer mitten in der Nacht aufstand, dem boten sich aber auch noch ganz andere Möglichkeiten. Kleinkriminelle etwa nutzten die Dunkelheit, um Geschäfte, Werften und andere städtische Arbeitsplätze in aller Ruhe auszuplündern. Und auf dem Land stahl man Brennholz oder machte sich über die Obstgärten her.

Dagegen blieben die meisten Leute vermutlich im Bett liegen, wenn sie nachts aufwachten, und viele Paare hatten dann Sex. Im 16. Jahrhundert erklärte der französische Arzt Laurent Joubert, solche frühmorgendlichen sexuellen Kontakte ermöglichten es den Landarbeitern, Handwerkern und anderen Werktätigen überhaupt erst, Kinder zu zeugen. Da die meisten von ihnen beim Zubettgehen viel zu erschöpft waren, hätten sie vor allem „nach dem ersten Schlaf“ Sex, wenn „sie mehr Vergnügen haben, es nach ihren Wünschen und fröhlich tun“.

In vielen Fällen wird diese Stunde allerdings eher wie ein Zustand zwischen Schlafen und Wachen beschrieben. Wurde man nicht von einem befremdlichen Traum aufgeschreckt, dann traten beim ersten nächtlichen Erwachen häufig zwei Phänomene gleichzeitig auf: unzusammenhängende Gedanken, die kommen und gehen, „wie es ihnen gefällt“, verbunden mit einem Gefühl tiefer Befriedigung.

In der anschaulichen Beschreibung, die Nathaniel Hawthorne in der Kurzgeschichte „The Haunted Mind“ („Der heimgesuchte Geist“, 1835) gibt, heißt es: „Wenn Sie eine Stunde des Erwachens wählen könnten, so wäre es diese. Sie haben einen Zwischenraum gefunden, in den sich die Angelegenheiten des Lebens nicht hineinmischen, wo der vergängliche Augenblick fortdauert und wirklich zur Gegenwart wird.“ Die ersten Stunden des Tages konnten ein Moment großer persönlicher Freiheit sein.

Wenn die Menschen aus ihrem „Mitternachtsschlaf“ erwachten, blickten sie häufig wie durch ein Kaleidoskop auf die leicht verschwommenen, aber plakativen Bilder ihrer Träume. Wie schon in der Antike spielten Träume auch in der Neuzeit eine wichtige Rolle. Man glaubte, dass sie die Zukunft wie auch die Vergangenheit enthüllten, schätzte deren prophetische Qualitäten und die Möglichkeit, über Träume ein tieferes Verständnis für den Zusammenhang zwischen Körper und Seele zu erlangen. Manche Träume spiegelten den Gesundheitszustand des Körpers, wie Aristoteles und Hippokrates behaupteten, während andere ein Schlaglicht auf das Innerste der Seele warfen.

Lange vor den Philosophen der Romantik des 19. Jahrhunderts und vor Sigmund Freud interessierte sich der neuzeitliche Mensch für seine Träume. Sie vermittelten ein tieferes Verständnis für die eigene Persönlichkeit und offenbarten den Gläubigen ihre Beziehung zu Gott. Für die unteren Klassen waren Träume zudem nicht nur Selbsterfahrung, sondern sie boten auch wie der Gottesdienst in den prächtig ausgestatteten Kirchen die Möglichkeit, für einen kurzen Moment dem täglichen Leid zu entrinnen. So erklärt der Protagonist einer Fabel von Jean de La Fon­taine: „Aus goldnen Fäden spinnt die Parze nicht mein Leben, / kein üppig Himmelbett ist meinem Schlaf beschert; / Doch ist mein Schlummer darum minder wert? / Wird er mich wen’ger fest umschlingen?“

In den nächtlichen Visionen verschwamm zuweilen die Grenze zwischen der realen und der nicht sichtbaren Welt. Eine solche Verwirrung kannte man von Menschen, die soeben aus dem Schlaf erwacht waren: „Lov. Is this a Dream now, after my first Sleep?“, fragt sich Lord Lovel in Ben Jonsons Theaterstück „The New Inn“ von 1629. Bei Arbeiterinnen und Bürgern wurde diese Verwirrung zweifellos durch den beliebten Zeitvertreib unterstützt, sich gegenseitig mit Geschichten und Legenden zu unterhalten. Eine übliche Erzähltechnik bestand nämlich darin, einen ganzen Wust an Details aufzubieten, wodurch die Erzählungen zerfaserten und sich der Struktur des Traums annäherten; vielleicht sollte damit auch die Wahrhaftigkeit des Erzählten betont werden.

Zwischen Träumen und Wachen

Hätten die Menschen in vorindustrieller Zeit bereits durchgeschlafen, dann hätten sich viele dieser Visionen beim Aufstehen vermutlich einfach in Luft aufgelöst – „davonfliegend, wenn das Licht zurückkommt“, nach den Worten des Dichters und britischen Goethe-Übersetzers John Whaley. Für diejenigen, die nach ihrem ersten Schlaf nach Mitternacht erwachten, sah es jedoch völlig anders aus. Vielleicht waren sie noch wenige Augenblicke zuvor in einen Traum versunken gewesen, so dass ihnen die nächtlichen Visionen lebendig vor Augen standen, bevor sie erneut in die Unbewusstheit zurückglitten. Nach diesem Aufwachen hatte man wohl auch genügend Zeit, um die Struktur des Traums aus dem anfänglichen Chaos ungeordneter Bilder herauszuschälen.

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde der von einem Wachintervall unterbrochene Schlaf deutlich seltener. Diese Entwicklung begann in den bourgeoisen städtischen Haushalten und breitete sich allmählich auch auf alle anderen Klassen aus, mit Ausnahme sehr entlegener Gemeinden. Doch das Phänomen verschwand nicht von heute auf morgen. Die Dunkelheit wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchbrochen: mit der Industrialisierung, dem wachsenden Überfluss und den Freizeitvergnügen der Bourgeoisie, allen voran in den Großstädten Englands. „Das Leben wird zu jeder Stunde der Nacht wach gehalten“, sagte 1801 ein Beobachter über London.

Die Professionalisierung der Polizei, nächtliche Handelsgeschäfte, der Übergang zur Nachtarbeit und vor allem die Elektrifizierung von Häusern und Straßen führten dazu, dass es nachts immer seltener richtig dunkel wurde.5 Eine einzige Gaslaterne ist zwölfmal lichtstärker als eine Kerze oder Öllampe, und das Licht, das eine einzige elektrische Glühbirne Ende des 19. Jahrhunderts erzeugte, war sogar hundertmal stärker. Die Wissenschaft ist sich inzwischen einig, dass künstliche Beleuchtung oder deren Abwesenheit enorme Auswirkungen auf den Körper hat. „Jedes Mal, wenn wir eine Lampe anschalten“, meint der Chronobiologe Charles A. Czeisler, „nehmen wir, ohne dass wir es bemerken, eine Droge zu uns, die unseren Schlaf beeinflusst.“ Die offensichtlichsten Folgen sind die Veränderungen der Körpertemperatur und des Melatoninspiegels im Gehirn.

Die Wiederentdeckung der durch eine Wachphase geteilten Nachtruhe zeigt, dass der durchgängige Schlaf, der seit 200 Jahren zur unhinterfragten Norm wurde, in Wahrheit ein relativ neues Phänomen darstellt und ein Produkt der Moderne ist. Diese Erkenntnis könnte uns helfen, gängige sogenannte Schlafstörungen besser zu verstehen. Aus historischer Perspektive wäre es zudem wichtig zu wissen, ob „dieses Arrangement einen Kommunikationskanal zwischen Traum und Wachleben bot, der mit der Verdichtung und Verstetigung des Schlafs allmählich abgeschnitten wurde“, wie der Schlafforscher Wehr meint.

Im Gegensatz zu nichtwestlichen Gesellschaften, die Institutionen zur Traumdeutung besitzen, haben unsere Erkenntnisse über unsere nächtlichen Visionen immer mehr abgenommen, und damit auch das Verständnis unserer intimsten Regungen und Gefühle. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass die zeitgenössische Technik zwar in der Lage ist, das Innerste des Gehirns zu durchleuchten – doch indem sie die Nacht zum Tag machte, wohl ausgerechnet einen der ältesten Zugänge zum menschlichen Seelenleben verschüttet hat.

1 Robert Louis Stevenson, „Reise mit dem Esel durch die Cévennen“, Moers (Editions La Colombe) 2008.

2 Alle Zitate stammen aus Roger Ekirchs Buch „La Grande Transformation du sommeil“, Paris (Éditions Amsterdam) 2021.

3 Thomas A. Wehr, „A ‚clock for all seasons’ in the human brain“, in: R. M. Buijs und andere (Hg.), „Hypothalamic Integration of Circadian Rhythms“, Amsterdam (Elsevier) 1996.

4 Collier hatte Ducks 1730 veröffentlichtes Gedicht „The Thresher’s Labour“ gelesen und fand, der Landarbeiter würdigte nicht, dass auch die Frauen schwere Arbeit leisteten.

5 Zur Geschichte der Lichtverschmutzung siehe Razmig Keucheyan, „Es werde Nacht“, LMd, August 2019.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Roger Ekirch ist Professor am Department of History an der Virginia Tech. Der vorliegende Artikel basiert auf dem ersten Kapitel seines jüngsten Buchs „La Grande Transformation du sommeil. Comment la révolution industrielle a bouleversé nos nuits“, Paris (Éditions Amsterdam) 2021.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2021, von Roger Ekirch