08.04.2021

Zu Tode schuften in Japan

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Zu Tode schuften in Japan

von Yuta Yagishita

Letzter Arbeitstag vorm Jahreswechsel in Kasumigaseki picture alliance/dpa
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Es ist halb zwei Uhr nachts. Vor den imposanten Ministerialbauten im Tokioter Regierungsviertel Kasumigaseki warten Taxischlangen. Beamte schlurfen schweren Schrittes herbei. Sie haben die letzte U-Bahn verpasst und lassen sich in einen Wagen fallen, der sie durch die Nacht nach Hause fährt.

Für Staatsbeamte in Japan ist das Alltag. Sie verfügen zwar über einen beneidenswert hohen Status und müssen Arbeitslosigkeit nicht fürchten, doch ihr Leben ist eine einzige Plackerei. Da sie für das Gemeinwohl arbeiten und stets für eventuelle Notfälle bereitzustehen haben, hat für sie das Arbeitsrecht, nach dem Beschäftigte nicht mehr als 45 Überstunden im Monat leisten dürfen, keine Geltung. Und sie haben kein Streikrecht.

Diese kanryo von Kasumigaseki, die japanische Verwaltungselite, leisten nach einer Studie von Takashi Iwamoto von der Tokioter Keio-Universität durchschnittlich 100 Überstunden im Monat, siebenmal so viele wie Angestellte im privaten Sektor. Sie liegen damit über der vom Gesundheitsministerium festgelegten karoshi-line von mehr als 80 Überstunden, ab der das Krankheitsrisiko deutlich erhöht ist und karoshi, der Tod durch Überarbeitung, droht. Die Überstunden sind in den meisten Fällen unbezahlt, das Staatsbudget ist gesetzlich streng limitiert.

„Es ist normal, dass sich die Beamten in Kasumigaseki zu Tode schuften. Ich habe manchmal mehr als 200 Überstunden im Monat gemacht“, erinnert sich der Ex-Beamte M. K. L., der anonym bleiben möchte. Er sei „zwischen zwei und fünf Uhr morgens“ mit dem Taxi nach Hause gefahren und „gegen acht wieder ins Büro. Für meine Frau war ich eine Art Phantom.“

Nach Zahlen der Beamtengewerkschaft von 2019 wurden 32,4 Prozent der Befragten wegen anhaltender gesundheitlicher Probleme behandelt; 28 Prozent hatten schon einmal Angst, an Überarbeitung zu sterben. Laut Iwamoto liegt die Suizidrate bei 16,7 pro 100 000 Personen, doppelt so hoch wie im Privatsektor. Die Nationale Personalbehörde meldete für 2019 sechs Fälle von karoshi, unter allen Arbeitnehmern Japans waren es 187.

Diese Situation hat zunächst mit der Organisation der Parlamentsdebatten und den politisch-administrativen Eigenheiten Japans zu tun. Seit 2012 hält die konservative Liberaldemokratische Partei (LDP) mit ihrem Koalitionspartner, der Mitte-rechts-Partei Komeito, die Mehrheit in beiden Kammern des Kokkai, des Parlaments. Weil Gesetzesvorlagen, die bis zum Ende einer Sitzungsperiode nicht verabschiedet sind, als gescheitert gelten, versucht die Opposition, die Gesetzesvorhaben der Regierung dadurch zu Fall zu bringen, dass sie in den Ausschüssen verzögert werden. Und die kanryo sind der Angelpunkt der Gremienarbeit.

Ihnen obliegt es, Gesetzestexte auszuarbeiten und Debatten vorzubereiten – meist in sehr kurzer Zeit, selbst wenn es um schwierige Themen geht: Die Termine für die Ausschüsse werden am Vorabend festgelegt, so dass den kanryo nur eine einzige Nacht bleibt, um die Fragen zu prüfen. „Es kommt oft vor, dass die Fragen erst gegen neun, zehn Uhr abends reinkommen. Um neun Uhr morgens, wenn das Parlament seine Arbeit aufnimmt, müssen die Beamten fertig sein“, erzählt M. K. L.

Sie müssen Antworten abfassen, diese mit den einzelnen Instanzen des Ministeriums abstimmen, damit es nicht zu Fehlern oder Inkohärenzen kommt. Nicht zu vergessen das Brie­fing des Ministers, der auf die Fragen ­antworten muss. „Das alles dauert leicht sechs, sieben Stunden“, sagt M. K. L. „Danach fährt man mit dem Taxi oder dem ersten Zug morgens nach Hause.“

Hinzu kommt, dass die letzten Regierungen wegen der hohen Staatsverschuldung (250 Prozent des BIPs in 2020) sukzessive Personal abgebaut haben. Dadurch und durch die Privatisierung einiger Institutionen schrumpfte das Beamtenheer zwischen 2004 und 2020 um 10 Prozent. Überall entstanden Engpässe.1 Was all dem dann die Krone aufsetzt, sind jedoch die völlig veralteten Arbeitsabläufe. Die Digitalisierung der Akten steht bislang nur auf dem Papier. Ein großer Teil des Austauschs zwischen Beamten und Abgeordneten läuft immer noch über das gute alte Fax. Videokonferenzen gelten als unhöflich und finden nur selten statt. So geschieht es immer wieder, dass Beamte über Stunden mehrere hundert Seiten dicke Schriftsätze ­ausdrucken, um Abgeordneten den Inhalt eines Gesetzesvorschlags zu erklären.

Sie nennen es „Ministerium für Zwangsarbeit“

Von diesen Missständen sind alle Ministerien betroffen, aber das Ministe­rium für Gesundheit, Arbeit und So­zia­les quält seine Beamten besonders. Es entstand 2001 durch die Fusion zweiter Ressorts und bildet seitdem eine gigantische Sammelbehörde, zu deren Aufgabenbereich Renten und soziale Sicherung genauso gehören wie die Regelung von Arbeitsbedingungen im Privatsektor oder die Organisation der Kleinkindbetreuung.

Weil die Bevölkerung in Japan rasant altert, werden die Aufgaben des Ministeriums immer wichtiger. „Seit den 1980er Jahren wurde die Zahl der Staatsbeamten kontinuierlich reduziert. Damals betrugen die Sozialausgaben jährlich 25 000 Milliarden Yen [etwas über 195 Milliarden Euro]. In 40 Jahren haben sie sich vervierfacht“, erklärt Hayato Kume, der früher im Sekretariat des Ministeriums tätig war. „Dadurch wächst zwangsläufig auch die Arbeitsbelastung.“

Der katastrophalen Arbeitssituation begegnen manche Beamte mit Galgenhumor: Sie nennen das Ministerium statt kosei-rodo-sho („Mi­niste­rium für Gesundheit, Arbeit und Soziales“) kyo­sei-­rodo-sho („Ministerium für Zwangsarbeit“).

Während der ersten Coronawelle im Frühjahr 2020 ist das Ministerium knapp am Kollaps vorbeigeschrammt. Aus verschiedenen Abteilungen wurde eine Corona-Taskforce von mehreren hundert Beamten zusammengestellt, mit dem Ergebnis, dass die normale Verwaltungsarbeit nicht mehr zu schaffen war. Die Beraterfirma Work-Life-Balance2 befragte damals 70 Beamte des Ministeriums zu ihrer Arbeitsbelastung: 30 von ihnen gaben an, zwischen März und Mai 2020 monatlich 200 Stunden zusätzlich gearbeitet zu haben, vier sogar 300 Stunden.

„Ich war zu der Zeit im achten Monat schwanger. Aber weil uns Personal fehlte, musste ich fast 80 Stunden mehr pro Woche arbeiten. Manchmal bin ich bis zwei Uhr früh geblieben“, erzählt eine junge Frau, die nicht namentlich genannt werden möchte. Mitte März hatte sie ein ungutes Gefühl und ging in ein Krankenhaus, wo die Gefahr einer Frühgeburt erkannt wurde. Im Mai brachte sie zum Glück ohne Komplikationen ihr erstes Kind zur Welt.

Immer mehr junge kanryo verlassen Kasumigaseki, weil sie die unzumutbaren Arbeitszeiten nicht mehr ertragen. Taro Kono, Minister für die Reform der Staatsverwaltung und einer der führenden Köpfe der LDP, berichtete, dass im Jahr 2019 fast 90 Beamte zwischen 20 und 29 Jahren „aus persönlichen Gründen“ kündigten, sechs Jahre zuvor waren es kaum 20.3 Die Fluchtbewegung wird zusätzlich dadurch beschleunigt, dass sich die Arbeitsbedingungen im privaten Sektor verbessert haben und die kanryo mit ihren Eliteuniversitätsabschlüssen hier auch mehr verdienen.

Kein Wunder, dass der Beruf des Ministerialbeamten immer weniger jungen Menschen attraktiv erscheint. 2018 durchliefen 22 559 von ihnen das Auswahlverfahren zum Staatsdienst, 1996 waren es noch 45 000.4 „Dieses Problem muss gelöst werden, sonst wird alles immer schlimmer. Die Ministerien arbeiten immer langsamer, die Fehler in der Verwaltung nehmen zu. Und unsere Bürger tragen den Schaden“, meint der ehemalige Beamte Hayato Kume.

Bislang hat sich trotz der Missstände niemand für das Thema interessiert. Wegen der Korruptionsskandale, die das Land in den 1990er Jahren erschütterten, haben die Japaner von ihren Staatsdienern ohnehin keine gute Meinung. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Central Research Services von 2018 erhielten sie auf einer Vertrauensskala von 1 bis 5 die Note 2,6. Und auch die politische Führung erhielt keine besseren Noten.

Die seit 2020 amtierende Regierung von Yoshihide Suga könnte nun Bewegung in die Sache bringen. Die Coronapandemie hat offenbart, dass endlich neue Arbeitsformen etabliert werden müssen: Homeoffice, Digitalisierung von Akten, Videokonferenzen. Taro Kono wurde zum Minister für Verwaltungsreform gemacht. Bei seinem Amtsantritt kündigte er an, die hanko abschaffen zu wollen, die Stempel, mit denen die Ein- und Ausgänge von Akten bestätigt wurden – ein Symbol für die Ineffizienz der japanischen Bürokratie.

Kono ordnete auch eine Untersuchung über das Ausmaß der Überstunden an. Und im Gesundheitsministerium werden dieses Jahr 582 neue Posten besetzt, eine Aufstockung um 2 Prozent – das ist in 20 Jahren nicht mehr vorgekommen. Im vergangenen Dezember verkündete der Minister: „Kasumigaseki ist in einem kritischen Zustand. Kompetente Staatsbeamte, durch endlose Überstunden zermürbt, geben ihre Karriere auf. Das muss ein Ende ­haben.“

1 „Veränderung beim Personal in den Regierungsbehörden“, (auf Japanisch), Kabinettsbüro, 16. Juni 2020, www.cao.go.jp.

2 „Untersuchung zu den Arbeitsbedingungen in den Ministerien während der Covid-19-Pandemie“, Work-Life-Balance, Tokio, 3. August 2020 (auf Japanisch), www.work-life-b.co.jp.

3 „More young Japan elite bureaucrats quitting; minister expresses concern“, The Mainichi, Tokio, 20. November 2020.

4 „Weißbuch über den Staatsdienst 2018“ (auf Japanisch), Nationale Personalbehörde Japans, Tokio, 1. Juni 2018.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Yuta Yagishita ist Journalist in Tokio.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2021, von Yuta Yagishita