08.04.2021

Der lange Abschied von Pinochet

zurück

Der lange Abschied von Pinochet

Chile wählt endlich seinen Verfassungskonvent

von Franck Gaudichaud

Das Gespenst des Generals, Santiago im November 2019 ESTEBAN FELIX/ap
Audio: Artikel vorlesen lassen

Man hätte erwartet, dass Alondra Carrillo sich freut, aber nein. Sie ist wütend. Schon seit vielen Jahren wartet die junge Feministin aus Santiago de Chile darauf, dass die Verfassung aus den Zeiten der Diktatur unter General Pinochet (1973–1989) endlich abgeschafft wird. Doch seit dem Übergang zur Demokratie haben die Regierungen den Status quo beibehalten – bis eine breite Protestbewegung die Regierung zwang, der Abfassung einer neuen „Carta Magna“ zuzustimmen, und das mitten in der Pandemie.

Eine Internetplattform wurde eingerichtet, über die sich die rund 2000 Parteiunabhängigen, die für die Mitarbeit an dem Verfassungsprojekt kandidieren, Unterstützung sichern können. Alondra Carrillo bewarb sich mit Hilfe der Coordinadora Feminista 8M, die die Frauenstreiks am 8. März mit­or­ga­nisieren.1 Heute, am 2. März, ist sie wütend. Die Wahlbehörde hat gerade die Bedingungen bekanntgegeben, und es ist klar: Die Unabhängigen haben nicht die gleichen Chancen wie Kandidatinnen großer Parteien. Carrillo weiß, dass die 450 parteilosen Bewerber, die bereits genügend Unterschriften für eine Kandidatur gesammelt haben, noch einen langen Weg vor sich haben.

Seit dem Ende der Militärdiktatur 1989 wurde Chile häufig als erfolgreiches Modell präsentiert, doch in der zunehmend ungleichen und zersplitterten Gesellschaft werden immer mehr Risse sichtbar. Studierende, Hafenarbeiter, Bergleute, Feministinnen und sexuelle Minderheiten, Opfer des privatisierten Rentensystems, verschuldete Mittelschichtler: Seit 2006 gingen immer wieder verschiedene gesellschaftliche Gruppen auf die Straße. Für die Ausbreitung zum Flächenbrand fehlte nur noch ein Zündfunke. Dieser Funke war die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr um wenige Cent im Oktober 2019.

Wegen der anhaltenden Proteste wurde der gesamte U-Bahn-Verkehr in der 6-Millionen-Einwohner-Stadt Santiago lahm­gelegt. Nächtelang lieferten sich die Carabineros, die örtliche Polizei, Schlachten mit Demonstrierenden. In zehn Städten wurde eine Ausgangssperre verhängt. Zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur marschierte die Armee wieder in den Straßen auf. Präsident Piñera tönte martialisch: „Wir befinden uns im Krieg gegen einen mächtigen, erbarmungslosen Feind, dem nichts, auch kein Mensch, heilig ist und der bereit ist, grenzenlose Gewalt und Kriminalität einzusetzen.“2 Der Feind war das eigene Volk, vor allem die Jugend.

Am 25. Oktober 2019 gingen etwa 2 Millionen Menschen auf die Straße. Die Medien sprachen von den größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes. „Chile ist erwacht!“, hieß es. Alle Klagen über die unzureichende Demokratisierung des Landes und die brutale Wirtschaftspolitik kamen wieder hoch. Auf der Plaza Italia, die Plaza de la Dignidad (Platz der Würde) getauft wurde, wehten die Fahnen der indigenen Mapuche neben der Nationalflagge. Die Regierung, die mit dem Rücken zur Wand stand, hob den Ausnahmezustand auf, Piñera entließ zwei Minister und kündigte ein paar vorsichtige sozialpolitische Maßnahmen an.

Doch die Proteste gingen weiter, ebenso wie die Unterdrückung. Nach Recherchen von Amnesty International haben „die Carabineros in breitem Umfang die Rechte der Demonstrierenden verletzt“.3 Innerhalb von 44 Tagen wurden in den Krankenhäusern über 12 000 Verletzte behandelt. Etwa 2000 hatten Schussverletzungen, und fast 350 litten unter schweren Augenschäden. Tausende Fälle von Misshandlungen in den Kommissariaten und Hunderte Anzeigen von sexuellen Übergriffen durch Vertreter der Staatsgewalt überfluteten die Gerichte.4 Aber an der Kultur der Straflosigkeit änderte sich nichts.

Zudem warten 2000 Menschen immer noch – teils seit über einem Jahr – auf ihr Urteil, 200 davon befinden sich in Untersuchungshaft, darunter auch Minderjährige. Sie sollen als politische Häftlinge betrachtet werden, fordert die kommunistische Abgeordnete Camila Vallejo und verlangt eine Amnestie.

Ein Sieg, aber für wen?

Die Exekutive verstand, dass sie eine politische Lösung für die Krise finden musste. Die parlamentarische Opposition schien nicht in der Lage, die Kraft der Straße zu nutzen, ihre Führungsriegen wurden von dieser breiten, dezentralen Bewegung überholt, die die linke Mitte für 30 Jahre Neoliberalismus mitverantwortlich macht. Die Regierungsmehrheit, die vor allem aus der Nationalen Erneuerungspartei (Renovación Nacional, RN) und der Unabhängigen Demokratischen ­Union (Unión Demócrata Independiente, UDI) gebildet wird, unternahm daraufhin den Versuch, die Lage durch einen parlamentarischen „Pakt für sozialen Frieden und eine neue Verfassung“ zu stabilisieren.

Christdemokraten und Sozialisten (die das Land von 1990 bis 2010 regiert hatten) stimmten zu, ebenso eine Mehrheit der Frente Amplio (FA), einer jungen Koalition kleiner Linksparteien, die aus den Studierendenprotesten von 2011 hervorgegangen war. Die Opposition mit Ausnahme der Kommunisten „kapitulierte ehrlos vor der Rechten, die sie mit dem Schreckgespenst eines zusammenbrechenden Rechtsstaats und eines Militärputschs eingeschüchtert hatte“, wie der Journalist Manuel Cabieses schrieb.5

Die Rufe nach einem Rücktritt Piñeras wurden tatsächlich leiser. Ein Teil der Linken sah in dem für Oktober 2020 vorgesehenen Referendum die Chance, das neoliberale Präsidential­regime abzulösen und demokratischere Institutionen zu schaffen. Sie träumten sogar von einer Wiederverstaatlichung der Kupfer- und Lithiumindustrie und der Wasserversorgung, von einem plurinationalen Staat, in dem die Rechte der Indigenen anerkannt würden.6 Doch am Tag des Referendums machte nur die Hälfte der Stimmberechtigten mit. 78 Prozent sprachen sich für eine neue Verfassung aus. Die zweite Frage der Abstimmung zielte auf die Zusammensetzung der verfassunggebenden Versammlung; hier sprachen sich 79 Prozent der Ja-Stimmen für eine direkte Wahl der Mitglieder aus. Die Wahl, die für den 10./11. April geplant war, wird coronabedingt auf den 15./16. Mai verschoben. Das Parlament hat die Verschiebung bestätigt.

Zweifellos markierte diese Entwicklung einen Neubeginn in der chilenischen Politik. In der 200-jährigen Geschichte des Landes hatte es bislang nur Verfassungen von Gnaden der Oligarchie gegeben. Diesmal soll also eine Versammlung dafür zuständig sein, in der auch Indigene vertreten sein werden – wenn auch nicht so viele, wie diese gefordert hatten. Außerdem werden Männer und Frauen paritätisch beteiligt sein – eine Weltpremiere. Nach den auf neun bis zwölf Monate veranschlagten Beratungen soll die neue „Carta Magna“ dann wieder per Volksabstimmung angenommen werden. Das ist ein Sieg. Aber für wen?

Nachdem Piñera seinem Sturz mit knapper Not entgangen war, gelang es ihm, die Situation wieder unter Kon­trol­le zu bringen: Galt er vorher noch als Verkörperung aller Probleme des Landes, scheint er heute der Garant des Wandels zu sein. Im Zentrum der öffentlichen Debatte stehen wieder die Institutionen. Parallel zur Wahl der Versammlungsmitglieder finden auch Kommunal- und Regionalwahlen statt. In der Folge wird die kommende Präsidentenwahl (der erste Wahlgang ist für November angesetzt) die Öffentlichkeit beschäftigen.

Der rechte Flügel der Regierungskoalition ist empört, dass das Verfassungswerk General Pinochets auseinandergenommen werden soll. Die Konservativen bestanden darauf, von einem „Verfassungskonvent“ und nicht von einer verfassunggebenden Versammlung zu sprechen, und so muss dieses Gremium auch in einem engen Rahmen arbeiten, der von einem vorbereitenden Fachausschuss gesetzt wird. Die Verfassungsgeber können beispielsweise internationale Verträge (etwa Freihandelsabkommen) nicht infrage stellen.

Jeder vorgeschlagene Artikel muss mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden, so dass die Konservativen eine gewisse Sperrminorität besitzen, weil sie mit einer Stimme sprechen. Dagegen konnten sich die parlamentarische Mitte und die Linkskoalition rund um die Kommunisten nicht auf gemeinsame Listen für die Wahl zur Verfassungsversammlung einigen. Auch die Gelegenheit, Kandidatinnen und Kandidaten aus der Protestbewegung mehr Raum zu geben, wurde nicht genutzt: Das Wahlreglement orientiert sich am Verhältniswahlrecht der Parlamentswahl, das Wahlbündnisse bevorzugt und den führenden Listen überproportional viele Sitze zuspricht.

In jedem Fall haben diejenigen Kandidaten, die es geschafft haben, als Parteilose zur Wahl antreten zu dürfen, lediglich Anrecht auf genau eine Sekunde Sendezeit pro Person bei der Fernseh-Wahlwerbung. So behalten die sogenannten repräsentativen Organi­sa­tio­nen ihr Monopol, sie werden jeweils über mehrere Hunderttausend Dollar verfügen (die UDI über 800 000), während den Parteilosen 1700 Dollar pro Person zugestanden werden. Jetzt versteht man, warum Alondra Carrillo so wütend ist und warum man in ihrem Umfeld von einem Wahlgesetz „im Dienste der Herren“ spricht.

Dennoch war es eine gute Entscheidung anzutreten, findet sie – ebenso wie der Umweltaktivist Lucio Cuenca und die feministische Rechtsanwältin Karina Nohales. Die Unabhängigen machen sich im Übrigen keinerlei Illusionen. Es wird ein langer Kampf werden, mit einem Fuß in der Protestbewegung, mit dem anderen in der Verfassungsversammlung. „Wir haben unsere Forderungen auf der Straße formuliert und verteidigt, und wir wollen unsere Stimme auch im Verfassungskonvent zu Gehör zu bringen“, erklärt Nohales.7

Andere zeigen sich gegenüber der Beteiligung am Konvent wesentlich kritischer. Sie sehen in einer solchen nach den Wünschen der Machthabenden gestrickten verfassunggebenden Versammlung eine Falle, die gerade über der Protestbewegung zuschnappt. Die Wahl vom 15./16. Mai werde dem System lediglich einen neuen demokratischen Anstrich verleihen, sagen sie – nach dem Motto: Man ändert die Verfassung, damit sich nichts ändert.

So ähnlich formulierte es Ende 2020 auch Außenminister Andrés Allamand, ein früherer Anhänger der Militärdiktatur. Diejenigen, die eine völlige Umgestaltung Chiles durch die neue Verfassung befürchten, versuchte er zu beruhigen: Ganz im Gegenteil werde es der neue Verfassungstext „ohne den geringsten Zweifel“ erlauben, „einige Grundpfeiler der chilenischen Wirtschaft beizubehalten, wie etwa den Schutz des Privateigentums, der unternehmerischen Freiheit und der Gleichbehandlung von einheimischen und ausländischen Investoren“.8

Nach den letzten Umfragen haben die Konservativen Grund, sich zu freuen: Ihnen werden über 40 Prozent der Sitze im Verfassungskonvent vorhergesagt, eine komfortable Sperrminorität. Die Linke rund um PC und FA kann hingegen nur mit knapp 20 Prozent rechnen, und die Parteilosen werden voraussichtlich unter 5 Prozent bleiben. Getragen vom Erfolg der Corona-­Impfkampagne, gewinnt Präsident Pi­ñe­ra in den Umfragen wieder dazu, und manche seiner Freunde träumen schon von einem neuen Sieg bei der Präsidentschaftswahl im November – wenn nicht eine neue Protestbewegung die Verhältnisse ein weiteres Mal infrage stellt.

1 Siehe Franck Gaudichaud, „Aufstand der Frauen“, LMd, Mai 2019.

2 CNN Chile, 20. Oktober 2019.

3 „Ojos sobre Chile: violencia policial y responsabilidad de mando durante el estallido social“, Amnesty International, Mexiko, Oktober 2020.

4 Siehe Luis Sepúlveda, „Explosion in Chile“, LMd, Dezember 2019.

5 Manuel Cabieses Donoso, „Caperucita roja y la derecha feroz“, Diario y Radio U Chile, 18. Januar 2021.

6 Siehe Eliana Vidal, „Brief aus Valparaíso“, LMd, Dezember 2020.

7 „Candidatas independientes de la Coordinadora 8M que van a la Convención: ‚Nuestra voz es indelegable‘“, El Desconcierto, 18. Februar 2021.

8 Rocío Montes, „Andrés Allamand: ‚Sería un gravísimo error que Chile se refundará en la nueva Constitución“, El País, Madrid, 14. November 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Franck Gaudichaud ist Professor für Lateinamerikanistik an der Universität Toulouse und Herausgeber von „Gouvernements progressistes en Amérique latine (1998–2018): La fin d’un âge d’or.“, Rennes (Presses universitaires) 2021.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2021, von Franck Gaudichaud