08.04.2021

In den Ritzen des Staates

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In den Ritzen des Staates

Die italienische Mafia hat ihre eigenen Gesetze. Allein mit juristischen Mitteln ist sie nicht zu besiegen

von Giovanni Ierardi

Kalabrische Landarbeiter bei der Besetzung von Großgrundbesitz, 1947 akg-images
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Seit dem 13. Januar findet im „Gerichtsbunker“ von Lamezia Terme in der kalabrischen Provinz Catanzaro – der ärmsten Region Italiens – ein Mammutprozess statt. Vor dem Hintergrund des Strafverfahrens gegen mutmaßliche ’Ndran­ghe­ta-Mitglieder lohnt sich ein genauerer Blick auf die italienische Mafia und ihre verschiedenen Zweige: die kalabrische ’Ndran­gheta, die sizilianische ­Cosa Nostra, die neapolitanische Camorra und die apulische Sacra Corona Unita.

Die Dimensionen des Prozesses sind beeindruckend: 355 Angeklagte, gegen die 438 Tatvorwürfe vorliegen, 600 Anwälte, 30 Zivilparteien, dazu Journalisten aus aller Welt. Ein 3300 Quadratmeter großes Callcenter wurde zum hochgesicherten Verhandlungssaal umgerüstet und mit modernster Netzwerktechnik ausgestattet.

In diesem monumentalen Gerichtssaal will der leitende Staatsanwalt Nicola Gratteri Licht ins Dunkel der Beziehungen bringen, die von der ’Ndrangheta zur Politik und zur Wirtschaft gesponnen wurden, wobei die Kontakte zu den lokalen Eliten offenbar über die Freimaurerlogen liefen.

Die Liste der Anklagepunkte ist lang: Bildung einer kriminellen Vereinigung, Tötungsdelikte, Erpressung, Wucher, Geldwäsche, Veruntreuung öffentlicher Gelder. Dem Prozess gingen vier Jahre Ermittlungsarbeit voraus. Der Staatsanwalt steht wegen wiederholter Morddrohungen unter verschärftem Polizeischutz.

Das Verfahren läuft unter dem Namen „Rinascita-Scott-Prozess“, wobei „rinascita“ (Neugeburt) die erhoffte Befreiung der Region von der Mafia beschwört, und „Scott“ an einen 2015 verstorbenen FBI-Agenten erinnert, der Gratteri half, die Verflechtung zwischen den kolumbianischen Drogenkartellen und der ’Ndrangheta zu entwirren.

Am 13. Januar 2021 war der Staatsanwalt früh auf den Beinen. Schon um 8.30 Uhr erklärte er vor den Fernsehkameras, damit die Delikte nicht verjähren, sei Eile geboten. Und man solle den Ermittlern, der Staatsanwaltschaft und den Vollzugsbehörden vertrauen.

Gratteris Aufruf an die Öffentlichkeit weckt mannigfache Erinnerungen: an zahllose dunkle Geschäfte, an parlamentarische Berichte (der erste über die Mafia datiert von 1876), an eine ganze Galerie von Helden, Verbrechern und Staatsanwälten, die allesamt zur Geschichte Italiens gehören. Das gilt auch für den Anti-Mafia-Parlamentsausschuss, den es schon seit 1962 gibt, und Lehrstühle an Universitäten (wie Rom und Pavia), die dem Studium der Mafia gewidmet sind.

Erinnerungen werden auch an einen anderen „Maxi-Prozess“ aus den Jahren 1986/87 wach, bei dem in Palermo die Cosa Nostra auf der Anklagebank saß. Das Verfahren bedeutete das erste entschlossene Eingreifen des Staates und endete mit harten Urteilen; die Freiheitsstrafen ergaben eine Summe von 2665 Jahren.

Im kollektiven Gedächtnis Italiens blieben auch die albtraumhaften Bilder des Attentats, mit dem sich die Mafia am 23. Mai 1992 für den Prozess in Palermo rächte: ein Autobahnabschnitt in Sizilien, zerfetzt von 500 Kilo Sprengstoff; die Leichen des Richters Giovanni Falcone, seiner Frau und dreier Personenschützer.

Der Anschlag vom Mai 1992 war eine Zäsur in der italienischen Geschichte. Seitdem hat der Staat seinen Kampf gegen die Mafia deutlich intensiviert. Die Cosa Nostra kam immer mehr von ihren spektakulär brutalen Gewaltakten ab. Unter ihrem neuen Boss Bernardo Provenzano (1995–2006), dem Nachfolger von Salvatore „Totò“ Riina, verlegte sie sich auf eine „Strategie des Abtauchens“ und agierte fortan im Verborgenen.

Woher kommt der Ausdruck Mafia? Laut Giuseppe Pitrè (1841–1916) „ist die Bedeutung, die dieses Wort im Laufe der Zeit angenommen hat, beinahe unmöglich zu definieren“.1 Der Spezialist für die volkstümlichen Traditionen Siziliens spricht von einer „mafiösen Mentalität“. Gemeint ist eine Lebenseinstellung, zu der bestimmte Verhaltensregeln und eine eigene Rechtsprechung außerhalb von Gesetz und Staat gehören. 1960 definierte der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia in seinem Roman „Der Tag der Eule“ die Cosa Nostra als „ein System, das die Machtinteressen einer Klasse wahrnimmt, die wir mehr oder weniger als bürgerlich definieren können“. Laut Sciascia entsteht dieses System nicht in einem staatlichen Vakuum, sondern aus der Mitte des Staats: „Die Mafia ist im Grunde nichts anderes als ein parasitäres Bürgertum, das sich nicht unternehmerisch, sondern ausbeuterisch betätigt.“2

Eine andere Definition steht häufig als Graffiti auf Wänden und Mauern: „Die Mafia ist ein Riesenhaufen Scheiße!“ Doch mit Beschimpfungen allein ist das Phänomen nicht wirklich zu erfassen und erst recht nicht zu bekämpfen. Die Mafia produziert tatsächlich einen Riesenhaufen, aber der besteht aus all den Wertsachen, die sie sich mit Gewalt und Korruption ergaunert: Zigaretten, gefälschte Markenartikel, Drogen, Waffen und Geld.

Zudem hat sich längst eine „unternehmerische Mafia“3 herausgebildet, die sich aufs Verwalten, Organisieren und Akkumulieren versteht. Mit differenzierten Rollen wie Chef, Aufseher, Vertreter, Teilhaber, Geschäftspartner, Erzeuger, Zulieferer, Abnehmer und Verkäufer. Die Mafia macht und diktiert ihre eigenen Gesetze, geht Kompromisse ein, führt Verhandlungen, organisiert Schlichtungsverfahren. Sie ist gewissermaßen ein eigenes Staatsgebilde, das in den Ritzen des italienischen Staats nistet und gedeiht.

Alles begann mit der Entstehung der italienischen Nation. Doch die Einigung Italiens im Jahr 1861 war zugleich die Geburt der so schwierigen wie schmerzlichen „Mezzogiorno-Frage“. Der unterentwickelte Süden des Landes war in dem neuen Staat faktisch eine minderwertige Region. Die junge Nation zerfiel in zwei Teile, die sich wirtschaftlich, politisch und zivilgesellschaftlich auseinanderentwickelten wie zwei Organismen auf separaten Evolutionspfaden. Das Bürgertum der früheren Regionalstaaten Norditaliens, die ihre Wirtschaftskraft im Kontakt mit den Nachbarländern entfaltet hatten, übernahmen rasch die politische Hegemonie.

Im wirtschaftlich rückständigen und infrastrukturell unterentwickelten Süden dominierten die Landeigentümer. Diese „Latifundisten“ verbündeten sich aus Angst vor einer Revolte der bäuerlichen Bevölkerung wie selbstverständlich mit der Mafia. Die bestand damals aus vielen bewaffneten Banden, die auch schon gegen den „Vater des Vaterlands“ Giuseppe Garibaldi gekämpft hatten, weil dieser den Bauern versprochen hatte, das Land neu zu verteilen. Die Mafia wurde zum bewaffneten Arm der Großgrundbesitzer und verhinderte die Umverteilung von Grund und Boden.

Der neu gebildete italienische Staat war sehr unbeliebt, weil er Steuern erhob und mit der Einführung der Wehrpflicht den armen Bauernfamilien dringend benötigte Arbeitskräfte entzog. Wo sich Widerstand regte, setzte der Staat seine Anordnungen und Befugnisse mit Hilfe der Carabinieri durch, die im Mezzogiorno wie ein Fremdkörper wirkten. All das stärkte die Mafia und ihren Rückhalt bei Teilen der Bevölkerung.

Die Mafiakultur orientiert sich an traditionellen Werten der süditalienischen Volkskultur. In den Aufnahme­ritualen, die jedes neue Mitglied durchlaufen muss, werden Werte und Eigenschaften wie Tapferkeit, Leistung, Mut und ehrenhaftes Verhalten beschworen. Diese aus alten Zeiten überkommenen Tugenden interpretiert und nutzt die Mafia natürlich auf ihre eigene Weise und entsprechend ihrer eigentlichen Ziele.

Auch die ’Ndrangheta ist aus diesem archaischen Nährboden erwachsen und hat sich im Lauf der Jahrzehnte stetig gewandelt. Im Schutz der immergrünen Macchia-Vegetation des Aspromonte-Massivs hatten sich die ’Ndran­ghetisti bis in die 1980er Jahre auf Schutzgelderpressung und Entführungen spezialisiert. Als sich die Organisation mit dem Einstieg ins Drogengeschäft zu einem internationalen Verbrechenskonzern entwickelte, hielt sie an ihren Regeln und Werten fest. Damit wurde sie zu einem Amalgam von Archaik und Moderne, Tradition und Innovation, primitiven Ritualen und moderner Unternehmerkultur. Ihre Initiationsriten blieben unverändert (Reinigung des Orts, esoterische Formeln, Blutaustausch), aber das Personal eignet sich die neuesten Errungenschaften an, um etwa mithilfe modernster Digitaltechnologien die Gewinne aus ihren Internetgeschäften zu waschen.

Eine Schlüsselrolle spielt in der Mafiakultur das Gefängnis. Es ist der Ort, an dem die Mitglieder sich bewähren und ihre Ausbildung erfahren. Dort lernen die Mafiosi, mit „pugnali, cuteddi e bastuni“ („Fäusten, Messern und Stöcken“) umzugehen, und können sich mit den erworbenen Auszeichnungen in der Organisation hocharbeiten. Etymologisch stammt das Wort „’Ndran­gheta“ (oder „’Ndranghita“) vom griechischen „anēr agathós“ ab, bezeichnet also einen Bund „tadelloser Männer“, der das Territorium bestimmter „’ndrine“ (Clans oder Familien) durchsetzt und kontrolliert.

Die ganze Widersprüchlichkeit der kalabrischen Organisation, die bis in ihren Namen hinein von einer Machokultur geprägt ist, zeigt sich an der zentralen Rolle der Mutter. Sie hat eine symbolische Funktion und ist das verbindende Element der ’ndrina. Der Clanchef, der die Gruppe zusammenhält, wird „il mamma santissima“ genannt – „der Allerheiligste Mutter“. Im Unterschied zur Cosa Nostra oder Camorra lassen sich bei der ’Ndrangheta nur sehr wenige Mitglieder als Kronzeugen der Anklage gewinnen.

Und noch ein Faktor spielt eine wichtige Rolle: Gerade in Kalabrien ist der Männeranteil im Zuge mehrerer Auswanderungswellen massiv geschrumpft. Damit fällt den Frauen – in Abwesenheit der Familienväter wie der staatlichen Autorität – die Aufgabe und die Macht zu, das soziale Leben zu organisieren. Das muss man wissen, um zu verstehen, warum die ’Ndran­gheta die Gesellschaft so tief und bis in alle Poren durchdringt.

Diese Realität kann man nur erfassen, wenn man auf Stereotype und Vereinfachungen verzichten, solche wie: Die Mafia sei ein rein kriminelles Phänomen, das nur durch die Polizei und die Gerichte zu bekämpfen sei; die Mafia werde vom Gros der Bevölkerung als Fremdkörper empfunden; die Mafia sei eine Krankheit und somit ein unabänderliches Schicksal.

Die eigentliche Frage ist nicht, ob die Mafia eines Tages in der Versenkung verschwindet. Ein längst legendärer Satz des Richters Giovanni Falcone lautet: „Die Mafia ist ein menschliches Phänomen, und wie jedes menschliche Phänomen hat sie einen Anfang, macht eine Entwicklung durch und wird auch ein Ende haben.“

Die Frage ist nur, wann und wie das Ende kommt. Die Vorstellung, der Sumpf ließe sich durch spektakuläre Prozesse und Festnahmen trockenlegen, mag notwendig und hilfreich sein, aber sie ist illusorisch.

Deshalb erklärte Falcone weiter: „Wenn wir die Mafia wirksam bekämpfen wollen, dürfen wir sie nicht zum Ungeheuer stilisieren. Sie ist weder ein Krake noch ein Krebsgeschwür. Wir müssen anerkennen, dass sie uns ähnlich ist.“

Im Kampf gegen die Mafia muss das Hauptziel sein, deren weitere Ausbreitung zu verhindern. Deshalb kommt der Bildung eine entscheidende Rolle zu. Der ideale Ort, um den „Widerstand“ zu organisieren, ist die Schule. Wie Staatsanwalt Gratteri betont, müsse alles getan werden, den jungen Menschen eine ablehnende Grundhaltung gegenüber den „Werten“ der Mafia zu vermitteln.

So sah es auch der 1992 ermordete sizilianische Richter Paolo Borselino: „Wenn die Jugend diesen Werten eine Absage erteilt, wird die allmächtige und geheimnisumwitterte Mafia sich auflösen wie ein schlechter Traum.“ Das setzt natürlich einen starken und untadeligen, einen schützenden und bürgernahen Staat voraus. Die Mafia unterstützt die Familien ihrer inhaftierten oder in Schwierigkeiten geratenen Mitglieder – auch finanziell. Damit steht der Staat in Kalabrien, bei einer regionalen Arbeitslosenrate von 20,1 Prozent (in ganz Italien nur 9,2 Prozent)4 , vor einer Herkulesaufgabe.

Auf die Frage, wie die Mafia zu bekämpfen sei, reagierte der kalabrische Schriftsteller Saverio Strati mit einer Feststellung, die er auch auf sich selbst bezog: „Ich glaube, wir – die Menschen hier im Süden – haben alle eine Mafia-Mentalität. Jeder von uns kümmert sich nur um seine eigenen Belange, um die eigene Sippschaft, die Familie. Jeder von uns möchte, wenn er von einer Institution oder einem Geschäftspartner etwas will, sofort bedient werden. Wir haben noch nicht gelernt, uns hinten anzustellen. Das mag wie ein unerhebliches Detail anmuten, aber solange wir nicht bereit sind, uns in die Schlange einzureihen, wird die Mafia wachsen und gedeihen.“5

1 Giuseppe Pitrè, „La Mafia e l’Omertà“, Catania (Edizioni Brancato) 2007.

2 Leonardo Sciascia, „Der Tag der Eule“, Berlin (Wagenbach) 2020.

3 Pino Arlacchi, „La Mafia imprenditrice. L’etica mafiosa e lo spirito del capitalismo“, Bologna (Il Mulino) 1983.

4 Istituto Nazionale di Statistica (Istat), Rom 2020.

5 Autorenkollektiv, „Strati a Petilia“, Mesoraca (Stampa Due L) 2014.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Giovanni Ierardi ist Präsident der Sektion Alto Crotonese des Istituto calabrese Raffaele Lombardi Satriani per la ricerca folklorica e sociale und ehemaliger Bürgermeister von Petilia Policastro (Kalabrien).

Le Monde diplomatique vom 08.04.2021, von Giovanni Ierardi