Diplomatischer Zoff um die Westsahara
von Aboubakr Jamaï und Khadija Mohsen-Finan
Am 2. März 2021 erklärte der marokkanische Außenminister Nasser Bourita in einem Schreiben an Regierungschef Saadeddine Othmani, er habe wegen „tiefgreifender Missverständnisse“ mit der Bundesrepublik Deutschland seine ministeriellen Abteilungen angewiesen, „alle Kontakte und jede Interaktion auszusetzen“. Dieser ungewöhnliche Vorgang zeigt, wie sehr die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Ländern in den letzten Jahren gewachsen sind.
Im Bericht der International Crisis Group über den Westsaharakonflikt1 vom März heißt es, Marokko habe Bedingungen für die Ernennung eines neuen UN-Sondergesandten gestellt. Der letzte, Ex-Bundespräsident Horst Köhler, war im Mai 2019 zurückgetreten. Die Regierung in Rabat erklärte, es sei „schwierig, sich gegen Berlin zu behaupten“, man wolle keinen deutschen Gesandten mehr. Die deutsche Unnachgiebigkeit machte den marokkanischen Diplomaten allerhand Ärger, und ein letzter Tropfen brachte das Fass zum Überlaufen: Nachdem US-Präsident Trump am 11. Dezember 2020 angekündigt hatte, er werde die Souveränität Marokkos über die Westsahara anerkennen, weigerte sich Deutschland, mitzuziehen.
Einige Tage später bekräftigte Berlin erneut seinen Willen, „zu einer gerechten, dauerhaften und für beide Seiten akzeptablen Lösung unter Vermittlung der UN zu gelangen“, und beantragte kurz darauf eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats zum Thema Westsahara, die dann am 21. Dezember 2020 stattfand.
In dieser Sitzung betonte der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen die zentrale Bedeutung des UN-Prozesses und distanzierte sich von der US-Initiative.2 Er gab Marokko sogar ausdrücklich die Schuld am Scheitern des Prozesses, den die UN Anfang der 1990er Jahre eingeleitet hatten und der eigentlich zur Abhaltung eines Unabhängigkeitsreferendums hätte führen sollen. „10 000 Siedler wurden von Marokko in die besetzte Region gebracht“, erklärte Heusgen. Deutschland sieht in dieser Umsiedlung von Marokkanern in die Westsahara – mit dem Ziel, die Zahl der Stimmberechtigten zu vergrößern – die Ursache für das Stocken des Referendums.
Allerdings unterhält Berlin weiter sehr enge Beziehungen zu Rabat und bezeichnet Marokko als engsten Verbündeten in der Region, ein Freundesland, gegenüber dem man sich großzügig und solidarisch zeigt. So gab die deutsche Regierung am 2. Dezember, kurz vor Heusgens Erklärung, Hilfsgelder in Höhe von knapp 1,4 Milliarden Euro frei, davon 202 Millionen Euro in Form von Spenden, der Rest als zinsvergünstigte Darlehen zur Unterstützung einer Reform des marokkanischen Finanzsystems und für den Kampf gegen Corona.
Warum hat Marokko mehr als zwei Monate mit seiner Reaktion gewartet, wenn die Spannung zwischen den beiden Staaten schon Ende 2020 so groß war? Der Auslöser könnte ein offener Brief gewesen sein, in dem einige US-Senatoren am 17. Februar 2021 Präsident Biden aufforderten, Trumps Beschluss zu revidieren: „Wir beschwören Sie mit allem Respekt, diese unselige Entscheidung zurückzunehmen und die USA wieder an der Organisation eines Referendums über die Selbstbestimmung des Volkes der Westsahara zu beteiligen.“
Berlin schert aus
Auch die Äußerungen des US-Außenamtssprechers Ned Price vom 22. Februar deuten auf eine mögliche Distanzierung von der Trump-Entscheidung hin. Price bekräftigte die Zufriedenheit der Biden-Regierung mit der Normalisierung der Beziehungen zwischen Marokko und Israel, fügte dann aber hinzu, dass die USA „den UN-Prozess unterstützen, um zu einer gerechten und dauerhaften Lösung des Konflikts zu gelangen“.
Diese Stellungnahme verrät, dass die Biden-Regierung Trumps Entscheidung über die Westsahara zwar nicht zurücknimmt, sie aber auch nicht klar und deutlich verteidigt. Und sie zeigt auch, dass Washington die UN und Minurso (Mission der Vereinten Nationen für das Referendum in Westsahara) weiterhin als zentrale Akteure im Prozess der Konfliktlösung betrachtet.
Schon einen Monat zuvor musste Marokko feststellen, dass der Sogeffekt der Trump-Initiative begrenzt war. Dabei hatte Rabat mit einer – gemeinsam mit den USA initiierten – virtuellen Konferenz zur Unterstützung ihres Autonomieplans3 am 15. Januar 2021 genau darauf gehofft. Der Erfolg der Konferenz hing von der Zahl der Teilnehmerstaaten und vor allem von deren geostrategischer Bedeutung ab.
Frankreich war jedoch außer den USA das einzige westliche Land, das teilnahm. Auch die afrikanische Beteiligung blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Marokko hatte gehofft, durch seine offensive Wirtschaftspolitik und den Beitritt zur Afrikanischen Union 2017 mehr Staaten des Kontinents für seine Saharapolitik zu gewinnen. Aber Südafrika, Nigeria, Äthiopien und sogar Kenia blieben der Konferenz fern.
Hinsichtlich der Westsahara vertritt die deutsche Diplomatie eine differenziertere Position als andere europäische Staaten mit sehr gute Beziehungen zu Marokko. In einem Interview vom 12. Januar 2021 erklärte der deutsche Botschafter in Marokko, Götz Schmidt-Bremme, der Saharakonflikt habe „schon zu lange gedauert“4 . Der von Marokko vorgeschlagenen Autonomieplan sei zwar eine „realistische und praktische“ Lösung, doch er stelle Deutschland nicht vollständig zufrieden. Es müsse eine juristische Lösung geben, erst dann werde man deutsche Unternehmen ermuntern, in der Sahara zu investieren. Sonst bestehe die Gefahr von Klagen der Frente Polisario beim Europäischen Gerichtshof. Die Polisario, die Befreiungsorganisation der Westsahara, wird von den UN als legitime politische Vertretung der Sahrauis anerkannt.
Mit diesem Argument zeigte der deutsche Diplomat die Hauptschwäche des Autonomieplans auf. Marokko will, dass die internationale Gemeinschaft seine Vorstellungen dieser Autonomie ohne Wenn und Aber akzeptiert. Und da liegt das Problem. Selbst wenn die internationale Gemeinschaft das Prinzip annehmen würde, würde es Rabat schwer haben, den Bewohnern der Westsahara seine Institutionen aufzuzwingen. Angesichts zahlreicher Menschenrechtsverletzungen werden die Sahrauis weder einen Sicherheitsapparat akzeptieren, der nur dem König rechenschaftspflichtig ist, noch eine Rechtsprechung im Namen des Monarchen, die keinerlei Unabhängigkeit von der Exekutive genießt.
Zur gegenwärtigen Krise hat auch der Fall Mohamed Hajib beigetragen. Der Deutschmarokkaner wurde 2010 in Marokko verhaftet und wegen Terrorismus zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. 2017 wurde er entlassen und kehrte nach Deutschland zurück, wo er einen Youtube-Kanal betreibt, auf dem er Menschenrechtsverletzungen in Marokko anprangert.
Hajibs Engagement in Deutschland ruft bei den marokkanischen Behörden schlechte Erinnerungen an den Fall Zakaria Moumni wach. Der frühere Kickbox-Champion hatte 2014 in Frankreich gegen den Chef des marokkanischen Inlandsgeheimdienstes Abdelatif Hammouchi Anzeige wegen Folter erstattet. Daraufhin hatte ein französischer Untersuchungsrichter Hammouchi vorgeladen und damit eine Krise zwischen Paris und Rabat ausgelöst.
Die Befürchtungen im Königspalast sind durchaus begründet. Denn der Fall Mohamed Hajib könnte sich als noch heikler erweisen. Mit der Begründung, seine Videos würden zum Terrorismus aufrufen, hatte die marokkanische Justiz Interpol gebeten, einen internationalen Haftbefehl gegen Hajib zu erlassen. Ohne Erfolg: Interpol verwies auf die Mitteilung einer Arbeitsgruppe des UN-Menschenrechtsrats von 2012, in der auch Berichte des deutschen Botschaftspersonals in Rabat berücksichtigt wurden und die Hajibs Angaben über Folter während seiner Haft in Marokko für glaubwürdig erklären.5
Noch schlimmer war für Rabat, dass Hajib in seinen Videos den Leitern der marokkanischen Geheimdienste mit Gefängnis drohte und von Ermittlungen gegen Hammouchi in Deutschland sprach. Diese Reden konnten zunächst als leere Phrasen durchgehen, bis am 24. Februar 2021 vor dem Oberlandesgericht Koblenz ein früheres Mitglied des syrischen Geheimdienstes wegen Beihilfe zur Folter verurteilt wurde. Das Urteil unterstreicht die Entschlossenheit der deutschen Gerichte, das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht durchzusetzen.
Marokko fürchtet zudem, dass der Fall dem Image seiner „Sicherheitsdiplomatie“ schaden könnte. Die regimetreue Presse spricht unermüdlich von geheimdienstlichen Erfolgen, dank derer nützliche Informationen an befreundete Staaten weitergegeben werden können.
Wenn der marokkanische Geheimdienst von Rabat jedoch instrumentalisiert wird, um Ermittlungen in eine bestimmte politische Richtung zu drehen, steht seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Der spanische Journalist Ignacio Cembrero hatte bereits 2016 in seinem Buch „La España de Alá“ aufgedeckt, dass marokkanische Dienste Aktivisten für die Unabhängigkeit der Westsahara als islamistische Terroristen denunziert haben.
Außenminister Nasser Bourita folgt mit seiner Entscheidung, die Beziehungen zu Deutschland auszusetzen, der diplomatischen Linie von König Mohammed VI., die gegenüber Frankreich und Spanien durchaus erfolgreich war. Bei Deutschland hat es Marokko aber möglicherweise mit einem Staat zu tun, der sich weigert, die „globale Partnerschaft“, wie das marokkanische Regime sie bezeichnet, zu akzeptieren. Zu dieser gehört für Rabat neben wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Zusammenarbeit wie selbstverständlich auch die Anerkennung der marokkanischen Souveränität über die Westsahara.
1 „Time for International Re-engagement in Western Sahara“, ICG Briefing, 11. März 2021.
4 Abrufbar über Youtube (auf Französisch).
6 Opinions adopted by the Working Group on Arbitrary Detention, Nr. 40/2012.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Khadija Mohsen-Finan ist Politologin an der Université Paris I. Aboubakr Jamai ist Journalist.
© Orient XXI; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin