Mit der Zielfliege durch die Pandemie
von Evelyne Pieillier
Ob Broker, Managerin, Gesundheitsexperte oder Klimaforscherin: Alle reden von Resilienz. Besonders Politiker sind regelrecht vernarrt in das Wort. In der Rede zu seiner Amtseinführung beschwor Joe Biden die „Resilienz“ der US-Verfassung, während sich der französische Präsident ohne Furcht vor Selbstwiederholung immer wieder neue Abwandlungen einfallen lässt.
Die „Resilienzszenarien“, von denen Emmanuel Macron am 21. Februar im Sender France Info sprach, waren noch nicht der Gipfel seines Erfindungsreichtums. So würdigte er an de Gaulles 50. Todestag am 9. November 2020 vor allem den „esprit de résilience“ des Generals, den wir bislang nur als Anführer der Résistance kannten. Auch die Mobilmachung der Armee im Kampf gegen Corona im März 2020 wurde als „Opération Résilience“ bezeichnet. In Davos warb Macron für einen „resilienten Kapitalismus“ und ein erst kürzlich auf den Weg gebrachtes Pariser Gesetzesvorhaben heißt „Klima und Resilienz“.
In Frankreich machte den Begriff insbesondere der Psychotherapeut Boris Cyrulnik populär, dessen Publikationen zur Persönlichkeitsentfaltung seit der Jahrtausendwende reißenden Absatz finden.1 Cyrulnik definiert Resilienz in Anlehnung an den Soziologen Stefan Vanistandael als die „Fähigkeit, sich positiv zu entwickeln und ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden – trotz Stress oder widriger Umstände, die normalerweise in hohem Maße die Gefahr einer negativen Entwicklung in sich bergen“.2
Dass die Resilienz so hoch im Kurs steht, passt zum herrschenden Zeitgeist, das Individuum als Kapital zu betrachten, das stets bereit ist, sich selbst – natürlich nur gewinnbringend – „neu zu erfinden“. Als wären persönliche Traumata und gesellschaftliche Krisen ein und dasselbe, verschleiert die Beweihräucherung unserer psychischen Ressourcen „die permanente Anpassung des Subjekts, statt die Verhältnisse zu hinterfragen, die das Leid hervorbringen“, kritisiert der Wirtschaftswissenschaftler Thierry Ribault in seinem jüngsten Buch „Contre la résilience“.3
Die Pandemie hat der vermeintlichen Patentlösung für die Bewältigung von Krisen noch einmal einen kräftigen Schub verliehen. Nicht von ungefähr schlug das mittlerweile in das französische Innenministerium integrierte Nationale Institut für Sicherheit und Justiz im März 2020 vor, Resilienz zur „Achse der Krisenkommunikation“ zu machen: Am 17. März 2020 bekam die „Nudge Unit“ des privaten Consultingunternehmens BVA Group (Business Valuation Advisors) den Auftrag, die Pariser Regierung bei ihrem Pandemiemanagement zu beraten.4
Tatsächlich verbirgt sich hinter dem unverfänglich klingenden „Stupsen“ oder „Schubsen“, wie die wörtliche Übersetzung von nudging5 lautet, eine Suggestionstechnik, die indirekt, also ohne sichtbaren Druck auszuüben, Motivationen und Entscheidungsprozesse beeinflusst. Denn erst wenn wir uns auf diese sanfte Weise von unserer blinden Irrationalität befreit haben, kann das Erfolgsrezept, in diesem Fall die Resilienz, zum Einsatz kommen. Aber wie gelangt man da hin?
Unsere Wahrnehmungen und Interpretationen der Welt werden bekanntlich in elektrochemische Impulse umgesetzt, die in einem Netzwerk von Nervenbahnen und Nervenzellen (Neuronen) zirkulieren. Die Neurowissenschaften beschreiben diese Signalübertragungen und nehmen sie unter die Lupe: Wie hängen das Verhalten oder mentale Fähigkeiten mit dem Nervensystem zusammen? Welche Funktion erfüllt das sogenannte Glückshormon Serotonin? Was passiert im Gehirn, wenn wir denken?
Mit solchen Fragen versuchen die Neuro- und Kognitionswissenschaften herauszufinden, wie das „Rationale“ und das „Irrationale“ entstehen und wie das Bewusste und das Unbewusste miteinander verknüpft sind. Ausgehend von der Analyse von Funktionsstörungen, wollen sie den physiologischen Prozess eingrenzen, der das Normale vom Pathologischen trennt.
Die Neurowissenschaften wirken also an der Festlegung von psychischen und verhaltensphysiologischen Normen mit und werden herangezogen, um versagende „Mechanismen“ zu korrigieren, zu optimieren oder zu transformieren. Wenn bekannt ist, welche chemischen Botenstoffe zum Beispiel bei Gefühlen in Aktion treten, wäre es doch ein Jammer, diese atemberaubenden Erkenntnisse nicht zu nutzen, um Potenziale besser auszuschöpfen. Dabei leistet die Untersuchung der kognitiven Verzerrungen hilfreiche Dienste.
1979 veröffentlichten die beiden Psychologen Daniel Kahneman, der 2002 mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde, und sein Kollege Amos Tversky (1937–1996) einen bahnbrechenden Aufsatz, in dem sie aufzeigten, wie irrational manche ökonomischen Entscheidungen sind.6 Wenn der Mensch eine Fehlentscheidung trifft, liegt das daran, dass die Informationsverarbeitung – zumeist unbewusst – eine Abkürzung nimmt und es dadurch zu einer Verzerrung kommt. Diese „kognitive Verzerrung“ (cognitive bias) hat für die Informationsverarbeitung den verlockenden Vorteil, dass sie schnell vonstatten geht, also das Gehirn nicht ermüdet, und erst einmal Gewissheit schafft. Mittlerweile wurden rund 200 solcher kognitiven Verzerrungen diagnostiziert. Bei der „Bestätigungsverzerrung“ (confirmation bias) entscheiden wir uns zum Beispiel vorzugsweise für das, was zu unseren Überzeugungen passt, oder beim Framing-Effekt lassen wir uns bei unserer Entscheidung davon leiten, wie eine Botschaft präsentiert wird.
Macron will Frankreich resilienter machen
Im Gegensatz zum Irrtum, der zufällig auftritt, bilden diese Verzerrungen also ein System, das übrigens schon in der Steinzeit die Funktion hatte, „unserem Gehirn Zeit und Energie zu sparen“7 Aber was einst hilfreich war, lenkt heute „unsere alltäglichen Entscheidungen“ in die falsche Richtung.8 Die Funktionsweise der Verzerrungen lässt sich aber ebenso wie alle anderen geistigen Vorgänge modulieren, indem andere Botschaften gesendet werden. Damit die Entscheidung weniger gefühlsabhängig und dafür sachgerechter ausfällt, muss man nur die Verknüpfungen ändern.
Und hier kommen die „Nudges“ ins Spiel – die Stupser. Ein berühmtes Beispiel ist die sogenannte Zielfliege im Urinal. Sie wurde zuerst in Amsterdam eingeführt, um die Reinigungskosten in öffentlichen Herrentoiletten zu verringern, was auch sehr gut geklappt hat. Inzwischen werden weltweit Urinale mit eingebrannter oder aufgeklebter Zielfliege produziert.
Laut Ismaël Emelien, der damals als Macron-Berater die BVA-Tochter engagiert hat, ist die Zielsetzung der Nudge Unit nicht weit von der Fliege entfernt: „Wir lenken einfach den Blick der Menschen in die richtige Richtung und handeln damit absolut im Interesse der Allgemeinheit.“9 Konkret hat sich die Nudge Unit im Staatsdienst vorgenommen, „langfristig für Wohlergehen und Resilienz zu sorgen“, denn Resilienz ist keine persönliche Gnade oder eine unerklärliche Gabe – nein: Sie wird „konstruiert“.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier geht es nicht um die genialen Strategien virtuoser Werbefachleute: „Der Stupser bewirkt eine Verhaltensänderung, nicht nur einen Imagewandel“, erklärt Éric Singler, der Chef der BVA Nudge Unit. „Es geht nicht darum, eine Motivation zu erzeugen, sondern den Menschen einen Anstoß zu geben, damit sie von der Intention zum Handeln übergehen.“10 Ein Hoch auf die Fliege! Das Ziel, um mit der Philosophin Barbara Stiegler zu sprechen, ist eine „infra-bewusste Modellierung unserer Verhaltensweisen“.11
Die Nudge Unit handelt diskret; das versteht sich von selbst. Dennoch ist klar: Um Resilienz zu konstruieren, müssen beim „Normabweichler“ Schuldgefühle erzeugt und verinnerlicht werden, und verinnerlicht werden muss auch die Gratifikation des Erfolgsrezepts, das in eine strahlende Zukunft führt. Die Kognitionswissenschaften liefern der Politik lediglich das „Rüstzeug“, wie Singler sich auszudrücken beliebt, indem sie neue gesellschaftliche Normen akzeptabel machen, die fortan als moralisch, altruistisch und nützlich für alle gelten.
Man kann entsetzt sein über die ideologische Manipulation und den Zynismus des heimlichen Loblieds auf die Anpassung, wodurch mulmige Gefühle und böse Geister, die zum Widerstand aufstacheln, aus der Welt geschaffen werden sollen. Doch gleichzeitig stellt man auch mit einem gewissen Behagen fest, dass der Wunsch, jeden Menschen im Interesse der Resilienz zu transformieren, auf archaische Nötigungsinstrumente wie Bußgelder noch nicht ganz verzichten kann und dass die sogenannte öffentliche Meinung von der Innovationskraft, die angeblich in Krisenzeiten entsteht, nicht restlos überzeugt ist.
2 Boris Cyrulnik, „Die Kraft, die im Unglück liegt“, siehe Anmerkung 1, S. 14.
3 Thierry Ribault, „Contre la résilience. À Fukushima et ailleurs“, Paris (L’Échappée) 2021.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld