Der Kampf um Europas Gasmarkt
Die USA wollen russische Erdgaslieferungen einschränken, um ihren eigenen Zugang zum europäischen Markt auszuweiten. Dabei bekommt Washington tatkräftige Unterstützung aus Brüssel. Russland orientiert sich energiepolitisch derweil immer stärker nach Osten.
von Mathias Reymond
Am 26. Juli 2018 war der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, zu Gast im Weißen Haus. In einem Punkt war er sich mit US-Präsident Donald Trump einig: „Wir haben heute vereinbart, unsere strategische Zusammenarbeit im Energiebereich auszubauen“, hieß es in der gemeinsamen Erklärung. „Die Europäische Union möchte mehr Flüssigerdgas (LNG) aus den Vereinigten Staaten einführen, um die Energieversorgung zu diversifizieren.“1 Schon damals war es ein offenes Geheimnis, dass die nordamerikanischen Gasproduzenten verzweifelt nach Absatzmärkten suchten. Und der ideale Kunde war für sie der weitaus größte Erdgasimporteur der Welt, die Europäische Union.
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, die Diskussion um die Unterwasserpipeline Nord Stream 2 und der Streit um Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer haben die Förderung und globale Vermarktung von Erdgas erneut zu einem der dringlichsten geopolitischen Themen gemacht. Und das in einer Zeit, da immer mehr Staaten auf den Klimawandel reagieren müssen. Erdgas ist zwar kein erneuerbarer Rohstoff, aber doch weniger umweltschädlich als andere Energieträger wie Erdöl oder gar Kohle und ermöglicht zudem die Produktion von billigerem Strom.
Ein Grund für die steigende Nachfrage ist auch, dass Erdgas heute einfacher zu transportieren ist als noch vor 20 Jahren. Seit es in Form von LNG in Gastankern über die Meere geschickt werden kann, hat sich der einstmals regional beschränkte Absatz stärker internationalisiert. Damit sind die Export- und Importländer nicht mehr nur auf Pipelines angewiesen.2
Allerdings ist der Produktionsprozess von LNG keine einfache Sache: Das geförderte Gas wird durch Kühlung auf –161° C verflüssigt, auf Spezialtankschiffe verladen und am Bestimmungsort dann in Gas zurückverwandelt.
Neuer Exportschlager Fracking-Gas
Das geschieht in Flüssiggas-Terminals, von denen es innerhalb der EU inzwischen 26 gibt (siehe Karte auf Seite 6). Im globalen Maßstab werden heute noch 63 Prozent des exportierten Erdgases mittels Pipelines transportiert und nur 37 Prozent als LNG über den Seeweg. Doch 2005 war der Abstand – mit 78 zu 22 Prozent – noch erheblich größer.
Die Verfechter der Gasmarktliberalisierung sind vom flexibel handelbaren LNG begeistert. Börsenmakler können die Preisdifferenzen zwischen den Märkten in Europa, Nordamerika und im asiatisch-pazifischen Raum ausnutzen. Zudem läuft der Handel vermehrt über kurzfristige Kontrakte, sogenannte Spotgeschäfte, die Transaktionen von einem Tag auf den anderen ermöglichen. Demgegenüber laufen die meisten Verträge über Pipelinegas – und selbst noch manche LNG-Kontrakte – über eine Lieferzeit von 20 oder 30 Jahren.3
Allerdings hat der Pipeline-Transport einen großen technischen Vorteil gegenüber dem LNG: Der Energieverlust beträgt nur 4 bis 5 Prozent, während bei der LNG-Transformation und -Verschiffung zwischen 10 und 15 Prozent verloren gehen. Das liegt an den vielen notwendigen Zwischenschritten: von der Verflüssigung über den Transport bis zur Regasifizierung, an die sich noch der Weitertransport per Pipeline anschließen kann.
Die USA sind mittlerweile der weltweit größte Erdgasproduzent. Sie haben ihre Fördermengen in den letzten 15 Jahren um 88 Prozent erhöht; dagegen stagniert die Erdgaserzeugung in Russland, und in Europa hat sie sich im gleichen Zeitraum halbiert. Der US-Boom beruht auf einer neuen Methode zur Gewinnung von „unkonventionellem Gas“ aus tieferen Gesteinsschichten, die Anfang der 2000er Jahre entwickelt wurde: Sie nennt sich hydraulische Frakturierung (Fracking) und ist ausgesprochen umweltschädlich.4
Das Fracking wurde seit 2008 intensiv vorangetrieben. Motor dieser Entwicklung waren das „Streben der US-Regierung nach Energieunabhängigkeit“ und vor allem „bestimmte Rechtsvorschriften im Bereich der Exploration und Produktion, die besagen, dass in den USA das Grundeigentum auch das Eigentum am Untergrund
einschließt“.5 Mit anderen Worten: Ein Grundeigentümer braucht keine staatliche Genehmigung, um Rohstoffe auszubeuten, die in den Tiefen seines Grundstücks schlummern.
Die USA verbrauchen den größten Teil ihrer Fördermenge bisher selbst, aber sie erzielen immer größere Produktionsüberschüsse. Von den drei großen Weltmärkten erscheint der europäische als Absatzmarkt am lukrativsten. Washington hat auf verschiedene Weise in Brüssel Druck gemacht, um den russischen Anteil an der europäischen Erdgasversorgung zurückzudrängen. Im Juli 2017 umgarnte Trump die Teilnehmer der sogenannten Drei-Meere-Initiative. Dieses 2016 gegründete Forum vereinigt zwölf zentraleuropäische EU-Länder, die sich alljährlich treffen, um „die Zusammenarbeit für die Entwicklung der Infrastrukturen in den Sektoren Energie, Transport und Digitalwirtschaft“ zu fördern.6
Der damalige US-Präsident, der zu einem Staatsbesuch in Warschau weilte, versuchte erst gar nicht, sein Ziel zu verschleiern. Auf Betreiben Polens und gegen den Willen Deutschlands setzte er sich für den Ausbau einer europäischen Nord-Süd-Energietrasse ein, um über den Flüssiggasterminal im polnischen Świnoujście (Swinemünde) die zentraleuropäische Region mit Erdgas zu beliefern – und so den russischen Ost-West-Pipelines Konkurrenz zu machen.
Zwischen 2005 und 2011 hatten die USA noch überhaupt kein Erdgas nach Europa exportiert. In dieser Zeit war aus Washington keinerlei Einwand gegen den Bau der Gaspipeline Nord Stream 1 zwischen Russland und Deutschland zu vernehmen. Das Projekt Nord Stream 2 ist der US-Regierung ein solcher Dorn im Auge, dass sie alles tut, um die Fertigstellung der Unterwasser-Gasleitung zu verhindern.
Angesichts der internationalen Aufregung um diese Pipeline gerät ein anderer Schauplatz des Erdgasstreits in Vergessenheit. Neben der zweiten Nord-Stream-Röhre betreibt Moskau nämlich ein zweites Projekt mit dem Ziel, die Ukraine zu umgehen. Am 8. Januar 2020 hat der russische Präsident Wladimir Putin mit seinem türkischen Amtskollegen Erdoğan die Gaspipeline TurkStream eröffnet, über die Europa von Süden aus via Türkei mit Erdgas versorgt werden soll. Darüber hinaus gibt es den Plan, russisches Erdgas über einen Pipeline-Abzweig namens „Tesla“ nach Serbien, Ungarn, Bulgarien und Österreich zu liefern – und zwar über Griechenland und Nordmazedonien, die bereits zu den Kunden zählen.7
Damit würde das alte Projekt der russischen South-Stream-Pipeline wiederbelebt, die auf einer ähnlichen Trasse geplant war. Sie wurde von Moskau 2014 aufgegeben, weil Brüssel Druck auf die am Projekt beteiligten EU-Mitgliedstaaten ausgeübt hatte.8
Aufgrund der Hindernisse auf dem europäischen Markt und des wachsenden Widerstands gegen russisches Gas im Westen wendet Moskau nunmehr den Blick nach Osten. Bereits im Dezember 2019 wurde die Gaspipeline „Kraft Sibiriens“ eingeweiht, über die 30 Jahre lang jährlich 38 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach China strömen werden. Außerdem will Russland mittelfristig seine eigenen LNG-Exportkapazitäten ausbauen.
Inzwischen weiß man in Washington allerdings, dass es auf dem alten Kontinent einen noch treueren Verbündeten als den in Warschau gibt. Das ist die EU-Spitze in Brüssel, die getreu ihres neoliberalen Dogmas die Öffnung des Energiesektors für den „freien Wettbewerb“ vorantreibt. Dazu gehört, dass die Verwaltung der Pipelines von den bisherigen langjährigen Betreibern auf unabhängige Unternehmen übergehen soll. Damit will man verhindern, dass die Leitungsbetreiber ihr eigenes Erdgas bevorzugt behandeln.
Der russische Erdgasproduzent Gazprom, der das russische Pipelinenetz bisher betreibt, gerät durch die von der EU-Kommission verfassten und von Washington unterstützten Regelungen in die Zwickmühle. Mitte April 2019, nur wenige Monate nach der Einigung von Jean-Claude Juncker und Donald Trump über die Belieferung Europas mit US-Erdgas, verabschiedete das Europäische Parlament die Erdgasrichtlinie im Rahmen des dritten Klima- und Energiepakets. Damit wurde die Erdgasrichtlinie von 2009 grundlegend verändert.
Bürokratische Hürden für russische Importe
Nach Einschätzung der französischen Energieregulierungsbehörde zielt diese Änderung darauf ab, „die Anwendung der zentralen Rechtsgrundsätze der Union im Energiebereich (Netzzugang Dritter, Preisbildungsregeln, eigentumsrechtliche Entflechtung, Transparenz) bis zur EU-Außengrenze auf alle Gaspipelines auszuweiten, die in Drittländer führen oder aus Drittländern ankommen.“9
Dazu stellt der Energiepolitik-Experte und Berater Philippe Sébille-Lopez fest: „Der Text begünstigt ganz offensichtlich den Import von LNG aus den USA oder anderen Ländern; denn dem LNG bleibt dieser ganze EU-Bürokratie- und Regulierungsdschungel erspart, dessen Auswirkungen noch gar nicht absehbar sind.“10
Die USA können zwar nicht hoffen, ihre russischen und norwegischen Konkurrenten kurzfristig in puncto Liefermengen zu übertrumpfen, aber sie werden auf jeden Fall von den neuen Regeln der EU-Kommission profitieren. Denn die sehen im Zuge der „transatlantischen Zusammenarbeit“ vor, dass „unnötige Hindernisse für die Erteilung von LNG-Lizenzen beseitigt werden, um die US-Ausfuhren anzukurbeln“, und die USA „zum führenden Erdgaslieferanten in Europa zu machen“.11
Ob dieses Ziel, das die Länder Zentraleuropas offiziell verfolgen, das aber auch von Brüssel unterstützt wird, auch erreicht wird, bleibt abzuwarten. Denn auf dem Weg dahin gibt es einige Hindernisse. Zum einen dürfte Moskau reagieren, bevor die Spielregeln geändert werden. Die Förderkosten für Shelfgas in den USA liegen zwar – bei gleicher Energieeffizienz – um 22 Prozent unter denen des russischen Erdgases. Rechnet man jedoch die Kosten für Verflüssigung, Transport und Rückumwandlung in Gas dazu, so ist dieses LNG am Ende kaum konkurrenzfähig. Gazprom kann also seine relativ große Preissetzungsmacht ausnutzen, um seine Marktdominanz auszubauen. Das Unternehmen könnte etwa seinen europäischen Kunden Rabatte auf die an den Erdölpreis gebundenen Vertragspreise gewähren.
Das zweite potenzielle Hindernis hat mit dem Klimaschutz zu tun. Das erklärte Ziel der EU, ihre Erdgas-Importquellen zu diversifizieren, lässt zwar erkennen, dass die Mitgliedsländer zunächst noch weiter auf Erdgas setzen. Aber gleichzeitig hat sich die Union verpflichtet, ihren Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren und bis 2050 klimaneutral zu werden.
Diese erklärten Ziele lassen sich nur durch die Hinwendung zu den erneuerbaren Energien oder zur Atomkraft erreichen. Da Letztere spätestens seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 diskreditiert ist, bleiben nur noch die Erneuerbaren übrig. Bei aller Begeisterung für den Ausbau alternativer Energieformen wird aber oft vergessen, dass sie nicht ohne den umweltschädlichen Abbau von Erzen (unter anderem Kobalt, Lithium, Nickel und Aluminium) auskommen, die nur in einigen Ländern wie Bolivien, Brasilien, Chile, Kongo und Mosambik verfügbar sind,12 wodurch neue rohstoffliche Abhängigkeiten entstehen.
Die Weichen für den Anbruch des Elektrozeitalters – in weiten Teilen der Wirtschaft – sind bereits gestellt. Doch dieser Wandel erfordert künftig deutlich mehr Windparks, Kraftwerke, Hochspannungsleitungen, Transformatoren sowie Trenn- und Schutzschalter. Der Treibhauseffekt, den der aktuell am häufigsten eingesetzte elektrische Isolator, nämlich Schwefelhexafluorid (SF6), verursacht, ist 22 800-mal so hoch wie der von Kohlendioxid. Und der Bedarf an diesem klimaschädlichen Gas wird bis 2030 voraussichtlich um 75 Prozent steigen.13
Die plausibelste Antwort auf die Klimakrise besteht darin, mehr erneuerbare Ressourcen einzusetzen und weniger klimaschädliche Energiequellen zu nutzen. Allerdings geht diese ökologische Gleichung nur auf, wenn wir auch die Nachfrageseite einbeziehen: Auch die Produktionsketten und die Konsummuster müssen grundlegend verändert werden – durch sparsamen Energieeinsatz, die Verlagerung von Produktionsanlagen und die drastische Verringerung des Warentransports.
2 Siehe Mathias Reymond, „Energiemarkt mit beschränkter Regulierung“, LMd, Dezember 2008.
3 Mathilde Godard, „Le GNL: l’énergie fossile de demain?“, Forbes, 23. Juni 2020
4 Siehe Maxime Robin, „Dreckiger Ölboom“, LMd, September 2013.
5 Jean-Pierre Hansen und Jacques Percebois, „Énergie. Économie et politiques, Paris (De Boeck) 2019.
11 Zitiert nach Sébille-Lopez (Anmerkung 10).
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Mathias Reymond ist Wirtschaftswissenschaftler.