11.03.2021

Lichtgestalt mit kleinen Flecken

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Lichtgestalt mit kleinen Flecken

Alexei Nawalny und die Zukunft der russischen Opposition

von Hélène Richard

Solidarität mit dem Ehepaar Nawalny, Sankt Petersburg, 14. Februar IVAN PETROV/ap
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Wenn der frühere US-Botschafter in Russland, Michael McFaul, über Alexei Nawalny spricht, hat er keine Scheu vor großen Worten: „Nawalnys heroischer Kampf gleicht dem von Gandhi, King, Mandela oder Havel.“1 Ähnliches liest man überall in der westlichen Presse über den Kämpfer gegen die russische Korruption und Herausforderer Präsident Putins.

Nachdem Nawalny einen Giftanschlag im August 2020 überlebt hatte und in Deutschland behandelt worden war, entschied er sich, nicht im Exil zu bleiben. Kaum hatte er im Januar wieder russischen Boden betreten, wurde er erwartungsgemäß verhaftet und zu zwei Jahren und acht Monaten Straflager verurteilt. Sein Mut verlangt Respekt. Allerdings wird Nawalny in einem Ausmaß Interesse entgegengebracht, wie es nur wenigen Oppositionspolitikern zuteilwird.

Kaum war er verhaftet, verlangten westliche Regierungen seine sofortige Freilassung und drohten mit Sanktionen. Im US-Kongress nahm eine breite Koalition aus Demokraten und Republikanern seine Verhaftung zum Vorwand, um eine Verschärfung der bereits 2019 verhängten Sanktionen gegen alle am Bau der russisch-deutschen Erdgasleitung Nord Stream 2 beteiligten Unternehmen zu verlangen. Darüber würde sich auch das Europaparlament freuen, das im Januar mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedete, die die EU aufforderte, die Fertigstellung der Pipeline „umgehend zu verhindern“ – gegen den Willen Deutschlands und in Übereinstimmung mit den Wünschen Polens und der baltischen Staaten.

Nawalny selbst hat seine Kontakte im Ausland intensiviert. Er sähe es gern, wenn die EU ihre Sanktionen gegen sechs hohe russische Beamte ausweiten würde, die mutmaßlich in den Anschlag auf ihn verwickelt waren, darunter der stellvertretende Direktor der Präsidialverwaltung Sergei Kirijenko. Nawalny fordert Vergeltungsmaßnahmen gegen die Drahtzieher an der Spitze der Macht und das Einfrieren von Auslandsguthaben kremlnaher Oligarchen. Sein Team hat dem US-Präsidenten eine Liste mit den Namen von 35 Personen geschickt, die „Wahlfälschung zur nationalen Politik gemacht haben, staatliche Gelder stehlen und Menschen vergiften“.

Auf seiner Liste stehen – neben dem Regierungssprecher, dem Bürgermeister von Moskau, dem Ministerpräsidenten und zwei Ministern – auch Geschäftsleute, die Wladimir Putin nahestehen, und Söhne hoher Funktionäre, die verdächtigt werden, als Strohmänner für die Unterschlagung öffentlicher Mittel zu fungierten.

Washington könnte dieser Forderung folgen. Seit 2012 erlaubt der Global Magnitsky Act den USA, Korruption überall auf der Welt zu bestrafen. Die Europäische Kommission hat sich im Herbst 2020 für einen „Nawalny Act“ nach US-Vorbild eingesetzt. Angesichts des Widerstands einiger Mitgliedstaaten fand man schließlich einen Kompromiss: Am 22. Februar setzte Brüssel Sank­tio­nen gegen vier hohe russische Staatsfunktionäre wegen Verstößen gegen die Menschenrechte in Kraft. „Wir hoffen, dass dieser Mechanismus künftig auch auf Korruptionsvergehen ausgeweitet wird“, kommentierte der litauische Außenminister Linas Linkevičius.

Rechtfertigt das politische Gewicht Nawalnys in seinem eigenen Land diese internationale Aufregung? Das glaubt zumindest die Regierung in Washington, die dem Putin-Regime vorwirft, es destabilisiere die Demokratien. 2018 beschrieb Joe Biden in der Zeitschrift Foreign Affairs Russland als ein Land in den Händen „einer Clique früherer Geheimdienstler und Oligarchen“. Das Regime, so Biden, präsentiere sich „mit einer Aura der Unbesiegbarkeit, die die schwache Basis seiner öffentlichen Unterstützung vor allem unter den jüngeren, städtischen, gebildeten Russen verschleiert“.2

Die Zustimmung für Putin ist immer noch überwältigend

Lange war es der ehemalige Schachweltmeister Garry Kasparow, der als Putins größter Gegner galt – obgleich er nur über eine winzige Anhängerschaft verfügte. Nawalny ist ein glaubhafterer Anwärter auf diesen Titel. Aber wer erinnert sich noch daran, dass der frühere Blogger an der Spitze Dutzender junger Leute durch Moskau zog und „Russland den Russen“ oder „Wir wollen den Kaukasus nicht mehr durchfüttern“ skandierte? Das war im Jahr 2007, und der studierte Anwalt führte die Splitterpartei Narod (Volk).3

Drei Jahre später, nach einem Aufenthalt in den USA an der Yale University, startete er die Website Rospil zur Korruptionsbekämpfung. Mit der Veröffentlichung von Dokumenten über unredlich erworbenes Eigentum verließ er die Ufer des Nationalismus und gewann die Sympathie der westlichen Presse, ohne seinen ausländerfeindlichen Äußerungen je abzuschwören.

2013 kandidierte er bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau und erzielte mit 27 Prozent der Stimmen ein für russische Verhältnisse beachtliches Ergebnis. Obwohl er zur Präsidentschaftswahl von 2018 nicht zugelassen wurde, gelang es ihm, 200 000 Helfer und fast einhundert Unterstützungskomitees im ganzen Land zu mobilisieren.4 Seine Anhänger rief er zur „intelligenten Stimmabgabe“ auf: Sie sollten künftig diejenigen Opposi­tions­kandidaten wählen, die am ehesten den Kandidaten der Putin-Partei Einiges Russland schlagen könnten. So wollte er die Dominanz der Regierungspartei unterwandern – indem er zugelassene ­Parteien als trojanische Pferde benutzte.

Die Kommunistische Partei der russischen Föderation (KPRF) und die Nationalisten der Liberaldemokratischen Partei Russlands (LDPR) waren die größten Profiteure dieser Strategie. Bei den Regional- und Kommunalwahlen 2019/20 siegten mehrere Opposi­tions­kan­didaten mit der Unterstützung der „intelligenten“ Stimmen in Moskau, Sankt Petersburg und Provinzstädten wie Tambow (16 Abgeordnete von 18), Tomsk (17 von 27) oder Nowosibirsk (17 von 50). Mit dieser Kampagne konnte Nawalny seine politische Ausgrenzung kompensieren.

Auch sein Enthüllungsfilm „Putins Palast“, den jeder vierte erwachsene Russe gesehen haben soll,5 verschaffte ihm große Aufmerksamkeit. Nach seiner Verhaftung demonstrierten am 23. Januar 2021 an die hunderttausend Menschen im Land. Das Ausmaß der Mobilisierung erreichte das der Proteste gegen die Wahlfälschungen von 2011/12 – und das trotz massiver Repressionen und Eiseskälte.

Trotzdem stellt Nawalny keine ernsthafte Bedrohung für das Regime dar. Seit er hinter Gittern sitzt, wird er teils mit Nelson Mandela verglichen. Aber Nawalnys Lage unterscheidet sich doch sehr von der des früheren Präsidenten des ANC in Südafrika. Der hatte eine Organisation mit hunderttausend Mitgliedern hinter sich und war in seinem Land überaus populär.

Die Demonstrationen im Januar stießen bei der russischen Bevölkerung dagegen auf weniger Begeisterung: Nach Zahlen des unabhängigen Levada-Center lag die Zustimmung bei 22 Prozent. Die Zahl der Demonstrierenden geht zurück, während die juristischen Schikanen gegen Aktivisten zunehmen. Seit Ende des Sommers liegen Nawalnys Zustimmungswerte gleichbleibend bei 20 Prozent, weit hinter den 64 Prozent des russischen Präsidenten.

Internationale Diplomatie ist auch keine Lösung: Moskau scheint sich an die Sanktionen zu gewöhnen und weist jede ausländische Aufforderung zur Freilassung Nawalnys als Einmischung zurück. Putin hat das unmissverständlich klargemacht, als er während des Besuchs des EU-Außenbeauftragten Josep Borell in Moskau einen polnischen, einen schwedischen und einen deutschen Diplomaten aus Russland ausweisen ließ. Der russische Außenminister Sergei Lawrow schlug in dieselbe Kerbe, als er mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur EU drohte, „wenn Sanktionen ein Risiko für unsere Wirtschaft darstellen“.

Kritik erntet eher die Wirtschafts- und Sozialpolitik

Obwohl sich Moskau selbstsicher gibt, sollten mindestens zwei Umstände den Kreml beunruhigen. Zum einen das soziologische Profil der Demonstrierenden. Während seit 2014 das Einkommen der Bevölkerung sinkt und die Lebensmittelpreise 2020 rapide gestiegen sind (für Zucker um 70 Prozent, für Sonnenblumenöl um 24 Prozent),6 traten bei den Straßenprotesten ein „postindustrielles urbanes Proletariat“7 und deklassierte Hochschulabsolventen in Erscheinung. Für viele der Teilnehmenden war es ihre erste Demonstration.

Der Gewerkschafter und Nawalny-Vertraute Alexei Gaskarow, der Ende Januar bei einer Kundgebung verhaftet wurde, erzählte nach seiner Entlassung, er habe seine Zelle mit einem Bauarbeiter, einem Heizungsmonteur und einem Verkäufer geteilt. „Einer hatte einen Kredit, den er nicht zurückzahlen kann, der andere war wütend, weil er kein Geld für die Krebsbehandlung seiner Mutter hat … Soziale Gründe sind eine offenkundige Komponente der Proteste.“ Schon 2018 hatte eine unpopuläre Rentenreform das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Staatsmacht verstärkt.8

Sorge bereiten dem Kreml auch die Kollateralschäden der Nawalny-Affäre bei der normalerweise loyalen parlamentarischen Opposition.9 Der Vorsitzende der LDPR, Wladimir Schirinowski, schimpft zwar in den Talkshows, Nawalny sei von den Amerikanern „gekauft“, aber Sergei Furgal, Ex-Gouverneur der Region Chabarowsk, ebenfalls LDPR, wurde 2018 durch die „intelligente Stimmabgabe“ gewählt. Während seine Popularität wuchs, landete er hinter Gittern, was im letzten Sommer ebenfalls zu massiven Protesten führte.

Innerhalb der KPRF, der stärksten Oppositionspartei (sie stellt 42 der 450 Duma-Abgeordneten), die der Kreml noch nie so richtig kontrollieren konnte, ist die Spaltung noch deutlicher. Während Generalsekretär Gennadi Sjuganow Nawalny als Agenten des Auslands bezeichnete, schlossen sich mehrere kommunistische Abgeordnete den Protesten an. Einer von ihnen, der populäre Politiker Nikolai Bondarenko aus Samara, dessen Youtube-Kanal 1,28 Millionen Abonnenten hat, war sogar einige Stunden in Haft. Bei den Parlamentswahlen im September 2021 wird Bondarenko im selben Wahlkreis kandidieren wie Duma-Präsident Wja­tsche­slaw Wolodin.

Das offiziell wegen der Pandemie verhängte Verbot der traditionellen Februar-Kundgebungen der Kommunisten zum Gedenken an den Sturz des Zaren verstärkt die Radikalisierung des linken Flügels der KPRF, der sich zudem sorgt, angesichts der zunehmenden Restrik­tio­nen im politischen Leben und in den sozialen Netzwerken. Der Abgeordnete Alexander Smirnow aus der Stadt Pensa kam sogar für sieben Tage in Haft, weil er dazu aufgerufen hatte, das Verbot des Kreml zu missachten.

Nawalnys Verurteilung stört das politische Gleichgewicht in Russland. Der Kreml reagiert darauf mit der Kriminalisierung der außerparlamentarischen Opposition und bald vielleicht auch mit der Ausweisung der aufsässigsten Elemente der legalen Opposition. Wenn sich Putin bis 2036 an der Macht halten will, wie es ihm die neue, im letzten Sommer durch eine Volksabstimmung bestätigte Verfassung erlaubt, wird das bisherige Maß der Repression wohl nicht ausreichen.

1 Michael McFaul, „A Russian dissident is fighting for his life. Where is the US?“, The Washington Post, 21. August 2020.

2 Joseph R. Biden, Jr., und Michael Carpenter, „How to stand up to the Kremlin“, Foreign Affairs, Band 97, Nr. 1, New York, Januar/Februar 2018.

3 Vgl. Klaus-Helge Donath, „Im Überschwang des Nationalismus“, taz, 26. Februar 2021.

4 2018.navalny.com.

5 Eine englische Version ist auf Youtube zu sehen: youtube.com/watch?v=Lmh-nixJo6s.

6 „Russie: Vladimir Poutine face à l’envolée des prix alimentaires“, Le Figaro, Paris, 17. Dezember 2020.

7 Alexander Baunov, „The new face of Russian protest“, Carnegie Moscow Center, 25. Januar 2021: carnegie.ru.

8 Siehe Karine Clément, „Auf Kosten der Alten“, LMd, Dezember 2018.

9 Arnaud Dubien, „Quelques réflexions sur la situation politique en Russie“, Observatoire franco-russe, 26. Januar 2021: fr.obsfr.ru.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 11.03.2021, von Hélène Richard