Bolivien und sein latenter Bürgerkrieg
Präsident Arce trat im November sein Amt mit dem Versprechen an, alle, die an dem Staatsstreich von 2019 beteiligt waren, vor Gericht zu bringen. Nach Polizisten und Militärs wurde nun auch die Interimspräsidentin Jeanine Áñez verhaftet. Das Verfahren gegen sie erscheint rechtlich fragwürdig.
von Fernando Molina
Zwei Sichtweisen, zwei Formeln in den sozialen Netzwerken, zwei politische Welten, die sich feindlich gegenüberstehen. Die eine Formel zu den Ereignissen im Gefolge der Wahl vom Oktober 2019 lautet „Es war kein Putsch, und es war Betrug.“ Die andere: „Es ist keine Rache, es ist Gerechtigkeit.“ Beides sind Negationen, die vor allem dazu dienen, Angriffe der Gegenseite von vornherein abzuwehren: Die einen wollen keine Putschisten sein, die anderen wollen nicht als autoritär dastehen.
Die erste Formel stammt von den Gegnern von Ex-Präsident Evo Morales und seiner Partei MAS (Movimiento al Socialismo). Nach ihrer Theorie führte zu Morales’ Sturz allein sein Wahlbetrug.1 Was wirklich passiert ist, darf nicht beim Namen genannt werden. Dann müsste man nämlich sagen: „Es war kein Putsch, es war ein Aufstand.“ Beides würde aber eine antidemokratische Haltung implizieren. In dieser Version der Ereignisse darf beim Sturz von Morales keine Gewalt im Spiel gewesen sein. Der Präsident sei am Abend des 10. November zurückgetreten, weil er Angst vor der Wut „des Volkes“ über sein Festhalten am Amt2 bekommen habe, also letztlich „aus Feigheit“. Deshalb habe er sich ins Ausland abgesetzt.
Nach dieser Lesart bieten die Ereignisse vom November 2019 also gar keinen Anlass für ein gerichtliches Vorgehen. Oder, wie Morales’ damaliger Gegenkandidat Carlos Mesa sagt: „Wir werden verfolgt, indem man einen Staatsstreich erfunden hat, den es nie gab.“
Geht man also wie Mesa davon aus, dass kein Putsch und auch kein Volksaufstand stattgefunden hat, heißt das: Die Verfolgung der Militärs, die Morales den Rücktritt mit solchem Nachdruck „nahelegten“, dass er nicht nein sagen konnte, ist nicht gerechtfertigt. Und schon gar nicht die Ausweitung des Strafprozesses auf die Interimspräsidentin Jeanine Áñez und deren engste Mitarbeiter, auch wenn sie als unmittelbare Amtsnachfolgerin von Morales’ Rücktritt profitierte.
Das andere Lager, das der MAS, streitet ab, dass es bei den Wahlen im Oktober 2019, aus denen Morales als Sieger hervorging, irgendwelche Unregelmäßigkeiten gegeben habe. Hier hält man dergleichen Behauptungen für eine Erfindung der Opposition, der Medien und der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten). Der Vorwurf des Wahlbetrugs sei gezielt in die Welt gesetzt worden, um die Gesellschaft in Aufruhr zu versetzen. Anschließend hätten die Verschwörer das Chaos genutzt, um die Polizei gegen die Regierung aufzuhetzen und das Militär zum Eingreifen zu bewegen.
Beides ist in Bolivien wie überall auf der Welt strafbar.
Kurz nachdem die MAS mit den Wahlen vom 18. Oktober 2020 zurück an die Macht kam, strengte sie gegen die belasteten Militär- und Polizeichefs einen Prozess an: die „Akte Staatsstreich“. Aus den oben genannten Gründen wurde der Prozess von der Opposition beanstandet, doch er stützte sich auf objektive Fakten, die auf Video aufgezeichnet und von Millionen Menschen in Bolivien gesehen und diskutiert wurden. Die Fakten mögen unterschiedlich ausgelegt werden, aber aus Sicht der Justiz genügt das Beweismaterial als Grundlage für einen Prozess. Die Anklage ermittelte auch gegen Luis Fernando Camacho, den Anführer der rechten Protestbewegung gegen Morales, dessen Vater, ein bekannter Geschäftsmann aus Santa Cruz,3 unter dem Verdacht steht, den Polizeiaufstand – ganz oder teilweise – finanziert zu haben.
Doch der MAS gingen diese Ermittlungen nicht weit genug. Um von einem „Staatsstreich“ reden zu können, mussten sämtliche Schritte der Opposition als Bestandteil der Verschwörung angesehen werden. Folglich wurde die „Akte Staatsstreich“ erweitert – interessanterweise allerdings nicht um den erwähnten Camacho, der bei den Regionalwahlen am 7. März mit 55 Prozent der Stimmen zum Gouverneur der wohlhabenden, konservativen Region Santa Cruz gewählt wurde. Die Staatsanwälte zogen es vor, ihn in Ruhe zu lassen, was ein erster Hinweis darauf ist, dass die Politik hier ihre Finger im Spiel hatte.
Aus juristischer Sicht erschien die Ausdehnung der Ermittlungen zunehmend fragwürdig. Ex-Präsidentin Áñez wurde von dem Haftbefehl überrascht, ihr blieb keine Zeit, ins Exil zu gehen. Von den fünf ihrer engsten Minister, gegen die die Justiz ebenfalls vorging, befanden sich die beiden „hartgesottensten“ bereits außer Landes. Zwei weitere wurden wie ihre ehemalige Chefin festgenommen. Sie alle sitzen heute im Gefängnis. Der letzte ist weiterhin flüchtig.
Dass man gegen die Genannten juristisch vorgeht, ist auf den ersten Blick nicht zu beanstanden. Die Regierung Áñez setzte wiederholt Armee und Polizei gegen die Bevölkerung ein: Bei der Niederschlagung von Demonstrationen kamen über 30 Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Die Militarisierung der Gesellschaft nahm zu, auch in der Zeit der Corona-Einschränkungen. Die MAS wurde mit verschiedenen Formen von lawfare massiv behindert. Luis Arce kam mit dem Versprechen an die Macht, die Rechtsverstöße zu untersuchen und ihnen nachzugehen. Dass Áñez und ihre Minister für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, fordert die Parteibasis ebenso wie Teile der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen.
Das Problem ist nur, dass man der früheren Senatorin Áñez eine Beteiligung an dem „Staatsstreich“ als solchem kaum nachweisen kann. In der Zeit unmittelbar vor Morales’ Abgang war sie eine Figur in der dritten oder vierten Reihe. Strenggenommen hätte man Añez nur für das vor Gericht stellen können, was sie sich nach ihrer Machtübernahme hat zuschulden kommen lassen. Dafür hätte man ein separates Verfahren gegen sie eröffnen müssen. Das hat man aber nicht getan, weil sie als Ex-Präsidentin Immunität genießt. Über ihr Regierungshandeln kann nur das Parlament richten.
Für die Einleitung eines parlamentarischen Verfahrens gegen eine Ex-Präsidentin ist laut Verfassung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, die die MAS nicht hat. Aus diesem Grund konnte – und kann – Áñez nicht angeklagt werden. Da die aktuelle Administration jedoch Áñez nicht unangetastet lassen konnte, beschloss man, sie in die „Akte Staatsstreich“ aufzunehmen, unter der Anklage des Terrorismus, der Volksverhetzung und der Verschwörung.
Das ist in mehrerlei Hinsicht fragwürdig: Man unterstellt, dass diejenigen, die von dem Machtwechsel profitiert haben, ihn auch mit verursacht haben müssen. Das ist vielleicht nicht ganz logisch, aber es geht hier ja auch nicht um Logik. In dieser Art Rundumschlag-Prozess geht es vor allem um Politik. Die Grenzen bestimmt allein das Kräfteverhältnis von Regierung und Opposition.
Keine wirklich unabhängige Justiz
Eine Mehrheit innerhalb der MAS will „dem Rechtsempfinden Genüge tun“ und die führenden Köpfe der Rechten und rechten Mitte für ihre Rolle in der „Áñez-Diktatur“ zur Rechenschaft ziehen. Andere sind da vorsichtiger, aber das sind nicht viele. Währenddessen stürzt sich das Oppositionslager in eine Leistungsschau der Superlative, um das ganze Verfahren zu attackieren: „Der größte Missbrauch aller Zeiten“, heißt es, die Morales-Diktatur sei zurück, „schlimmer als eine Militärdiktatur“.
Es gab auch eine Beschwerde bei der OAS. Ihr Chef Luis Almagro schlug daraufhin vor, alle wichtigen Rechtsverstöße der Regierungen Morales und Áñez von internationalen Kommissionen oder Gerichten untersuchen zu lassen.4 Die großen Medien, die schon eine Kampagne „gegen politische Verfolgung“ losgetreten haben, haben Almagros Vorschlag begeistert aufgegriffen. Erste Massendemonstrationen haben auch schon stattgefunden – die größte davon in Santa Cruz – und es wird sicherlich sehr bald weitere geben.
Gouverneur Camacho hat Santa Cruz zum „Zufluchtsort für politisch Verfolgte“ ausgerufen und erklärt, wenn er je nach La Paz zurückkehren sollte, dann, „um wieder eine tyrannische Regierung zu besiegen“. Prompt verkündeten die Verbände der Kokabauern von Cochabamba, sie würden gegen „die selbstherrlichen Gouverneure, die die Regierung von Bruder Luis Arce destabilisieren wollen“, mobilmachen.
Kurz: Bolivien ist wieder in zwei Lager gespalten. Die soziale und ethnische Polarisierung, die nie ganz verschwunden war, hatte nach dem Erdrutschsieg von Luis Arce im Oktober 2020 erst einmal an Sprengkraft verloren. Doch mit der ersten Aktion gegen einen Angehörigen des weißen Bürgertums kehrte sie sofort wieder zurück in die politische Arena, aufgeladen mit explosiver Wut gegen die MAS.
Und die volksnahe Partei, die vor allem ärmere Bevölkerungsgruppen mobilisiert, ist ihrerseits voller Ressentiments für das, was ihr nach 2019 angetan wurde. Wut gegen Ressentiments: Wieder einmal ist ein Zustand erreicht, der den latenten Bürgerkrieg befeuert, den Bolivien seit Langem in sich trägt, auch wenn er sich in unserer „demokratischen Epoche“ nicht offen zeigt. Er ist da, immer, er belastet alle politischen Beziehungen.
Ob sich die Frontlinien verhärten, wird davon abhängen, ob die MAS weitere Gegner anklagt oder nicht; ob es ihr gelingt, die Ermittlungen gegen Áñez parlamentarisch und außerparlamentarisch zu untermauern; und auch vom Verlauf der derzeitigen Wirtschaftskrise. Sollten die finanziellen Probleme die Regierung zu unpopulären Sparmaßnahmen zwingen, könnte die Krise der Opposition in die Hände spielen.
Bolivien hat keine tatsächlich unabhängige Justiz, da diese stets danach strebt, sich in den Dienst der jeweiligen Regierung zu stellen. Beide Lager geben sich gegenseitig die Schuld an diesem Missstand und lassen außer Acht, dass er unabhängig von der jeweils herrschenden Ideologie alle Regierungsepochen hindurch existierte. Das wichtigste Anliegen von Staatsanwälten und Richtern ist es, ihren Job und die damit verbundenen Pfründe zu behalten. Damit würden sie sich allerdings auch selbst in die Abhängigkeit der Herrschenden begeben, mahnte anlässlich der Ereignisse in Bolivien der chilenische Menschenrechtsanwalt und Direktor von Human Rights Watch, José Miguel Vivanco.
Wie die Dinge liegen, hätte jedes gerichtliche Vorgehen, welcher Art auch immer, den jeweiligen politischen Gegner empört. Doch aus der Reaktion Carlos Mesas auf die Verhaftung von Jeanine Áñez kann man schließen, dass er sich über eine Anklage wegen Menschenrechtsverletzungen weniger echauffiert hätte. Er räumte nämlich ein, dass „die Verantwortung für die Vorfälle in Sacaba und Senkata“ – gemeint sind die Massaker, die unter der Übergangsregierung dort an Bauern und Dorfbewohnern verübt wurden – untersucht werden müssen.
Auch viele Intellektuelle und Journalisten im In- und Ausland verurteilen die aktuellen Vorgänge und bezeichnen sie als neue Phase des lawfare, nur mit umgekehrten ideologischen Vorzeichen. So zeigte sich José Miguel Vivanco, der eigentlich das Vorgehen der MAS gegen Jeanine Áñez unterstützt, von Präsident Arce „enttäuscht“, weil dieser dieselbe „Instrumentalisierung der Justiz“ betreibe, deren Opfer er selbst in der Vergangenheit geworden sei.
Schätzungsweise 30 bis 40 Prozent der Bolivianer:innen gestehen der MAS nicht die geringste Legitimation zu. Dieser Teil der Bevölkerung, der fast das gesamte kulturelle Kapital des Landes auf sich vereint, wendet sich der extremen Rechten zu und träumt davon, dass sich das wiederholt, was 2019 stattgefunden hat. Unter diesen Voraussetzungen darf die Regierungspartei keinen Fehler begehen, der sie, und sei es nur vorübergehend, ihre politische Führungsrolle kostet. Denn die braucht sie, um lebendig zu bleiben.
In der Vergangenheit hat die MAS durch ihr Beharren auf der wiederholten Kandidatur von Evo Morales ihre Glaubwürdigkeit verspielt und so ihre Macht verloren. Vielleicht ist das jetzige Verfahren gegen Jeanine Áñez ein ähnlich fataler Fehler. Noch ist es zu früh, um das einschätzen zu können. Aber es ist ein Schritt in die falsche Richtung.
1 Siehe Renaud Lambert, „Das Ende der Ära Morales“, LMd, Dezember 2019.
3 Siehe Maëlle Mariette, „Die Faschisten von Santa Cruz“, LMd, August 2020.
Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold
Fernando Molina ist Journalist und Autor, unter anderem von „Historia contemporánea de Bolivia“, Santa Cruz de la Sierra (Gente de Blanco) 2016.
© El dipló, Buenos Aires; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin