11.03.2021

Déjà-vu in Myanmar

zurück

Déjà-vu in Myanmar

Mit dem Putsch vom 1. Februar will das Militär die Zeit zurückdrehen. Doch vor allem die junge Generation leistet massiven Widerstand gegen die immer extremer werdende Gewalt. Sie will nicht zurück in die dunklen Zeiten ihrer Eltern.

von Christine Chaumeau

Yangon, 3. März 2021 picture alliance/aa/stringer
Audio: Artikel vorlesen lassen

Am 14. Februar 2021 postete der Bauer Lamin Oo auf seinem Twitter-Account ein Foto von einer Protestkundgebung gegen die neue Diktatur – zusammen mit einem Video von mit Stöcken bewaffneten Männern in einem Viertel der Wirtschaftsmetropole Yangon (Rangun). Im Schutz der Dunkelheit verbreiteten die Schläger dort Angst und Schrecken.

Wenige Tage zuvor hatte die Militärjunta 23 000 Häftlinge freigelassen. Es war wie bei dem Aufstand von 1988: Auch damals hatten freigelassene Kriminelle mit ihrer Gewalttätigkeit den Vorwand für das brutale Eingreifen der Militärs geliefert, und es kam zu einem Blutbad.

Auf Tausenden Twitter-Accounts erschienen Hashtags wie „Die Junta greift an“ und „Rettet Myanmar“, Hilferufe angesichts des Militärputschs, der am 1. Februar um 3 Uhr morgens alle Hoffnungen der vergangenen zehn Jahre auf eine demokratische Entwicklung zerstört hat. Die Verhaftung der gewählten politischen Vertreter, unter ihnen die faktische Regierungschefin Aung San Suu Kyi und Mitglieder ihrer Nationalen Liga für Demokratie (NLD), beendete die Aufteilung der Macht zwischen Zivilisten und Militärs.

Bei den Wahlen am 8. November 2020 hatten die Wähler der NLD zu einem triumphalen Wahlsieg verholfen: Von 1117 Sitzen (in beiden Kammern der Volksversammlung und in den Staaten- und Regionsparlamenten), über die entschieden wurde, gingen 920 an die NLD, 61 Sitze mehr als bei den Wahlen fünf Jahre zuvor. Die militärnahe Unionspartei für Solidarität und Entwicklung erhielt nur 71 der Sitze, 117 weniger als zuletzt. Diese Niederlage sei nur durch Wahlbetrug zu erklären, erklärte das Militär und rechtfertigte damit den Putsch.

Oberbefehlshaber Min Aung ­Hlaing, Vorsitzender des neuen Staatsverwaltungsrats, der jetzt das Land regieren soll, wandte sich eine Woche nach dem Coup erstmals über den Fernsehsender der Armee direkt an die Bevölkerung. Mit Orden behängt saß er vor der Nationalflagge und blickte starr in die Kamera, wobei er dem Volk versicherte, er habe die Macht auf der Grundlage der Verfassung übernommen, und es werde nach einem Jahr im Ausnahmezustand Neuwahlen geben. Er versprach, die neue Junta werde anders sein als frühere Militärregierungen, sie wolle eine „disziplinierte Demokratie“ errichten.

Auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken folgten Massenproteste. Aung Kyaw Moe vom Zentrum für gesellschaftliche Unversehrtheit, das sich für friedliches Zusammenleben und gesellschaftlichen Pluralismus einsetzt, sagte mit Blick auf die Stärke der Tatmadaw, der myanmarischen Armee: „Ein Volk von 54 Millionen Menschen gegen 500 000 Männer.“

Unter der Parole „Geeint gegen die Diktatur“ protestieren inzwischen seit Wochen Beamte und Staatsangestellte, Bankmitarbeiterinnen, Gesundheitspersonal, Lehrer, Rechtsanwältinnen und Studierende in einer landesweiten Bewegung des zivilen Ungehorsams. Am 22. Februar gab es einen Generalstreik mit Demonstrationen und Kundgebungen in über 70 Städten: Eisenbahnen standen still und Flugzeuge blieben am Boden, weil Beschäftigte nicht zur Arbeit erschienen, Gesundheitszentren und Kliniken mussten schließen, weil Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gegen die illegale Machtübernahme des Militärs auf die Straße gingen. Es war mitten in der Coronapandemie, aber für die Menschen in Myanmar ist eines klar: Sie wollen sich die Freiheit, die sie gerade erst kennengelernt hatten, nicht wieder nehmen lassen.

Die jungen Leute unter 30 sind in einem offenen Land aufgewachsen, das anders als früher über das Internet mit der Welt verbunden ist. Die junge Aktivistin Thinza Shunlei Yi, die seit dem Putsch im Untergrund lebt, sagt: „Unsere Augen sind aufgegangen und unser Geist ist aufgewacht, vor allem dank der sozialen Netzwerke.“

Sie hätten die Wahlen in den USA verfolgt, die Demonstrationen in Hongkong, hätten den Unterschied begriffen zwischen dem, wie sie selbst lebten, und den Geschichten von Unterdrückung, die ihre Eltern erzählten: Geschichten von Angst vor Willkür, vor nächtlichen Verhaftungen, Geschichten von lückenloser Überwachung und der Brutalität der Militärs. Die jungen Leute hatten auch vom Putsch von 1962 gehört, als die Tatmadaw im Namen der nationalen Einheit die gewählte Regierung gestürzt hatte. Und von den Ereignissen im Jahr 1990, als die Armee den Wahlsieg der NLD nicht anerkannte.

Eine Autorin,1 die wegen ihrer Teilnahme an den Massenprotesten gegen das Militär 1988 im Gefängnis saß, sagt: „Es lässt sich schwer in Worte fassen, was ich empfunden habe, als ich am 1. Februar aufgewacht bin. Tiefe Trauer und gewaltige Wut. Es war wie ein Rückfall in die Vergangenheit.“ Ein junger Arbeiter, der in Yangons Straßen protestiert, wählt fast die gleichen Worte: „Ich bin wütend.“ Und eine junge Frau klagt: „Was jetzt passiert, klingt fast wie das, was mir meine Mutter erzählt hat, als ich klein war.“

Mit der Machtübernahme hat sich der ehrgeizige Min Aung Hlaing vom dem langsamen Reformprozess abgewendet, den seine Vorgänger nach der Jahrtausendwende eingeleitet hatten und der eine schrittweise Rückkehr zur Demokratie und ein Ende der internationalen Isolation des Landes bringen sollte. Die von der Armee selbst geschriebene Verfassung von 2008 sicherte ihr dabei die Kontrolle über drei Schlüsselministerien: Verteidigung, Inneres und Grenzsicherung.

Außerdem haben die Streitkräfte eine Sperrminorität im Parlament, in dem 25 Prozent der Sitze für das Militär reserviert sind. Doch General Min Aung ­Hlaing fürchtete, dass die verfassungsmäßigen Garantien angesichts des großen Wandels der Gesellschaft, die das Tor zur Welt aufgestoßen hat, nutzlos sind. Er will das Land allein regieren, „ohne den Schutzschirm, den Aung San Suu Kyi ihm bot“, sagt Thet Win von der NGO Synergie, die sich für interreligiösen Dialog einsetzt. Denn Myanmar sieht 2021 ganz anders aus als 2010.

Nach Jahrzehnten der Isolation wurden parallel zu den politischen Reformen die vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen aufgehoben. Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Armutsquote halbiert, wenngleich immer noch 24,8 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle leben.2 Vor der Coronapandemie wuchs die Wirtschaft jährlich um 7 Prozent. „Myanmar war ein Paradies für Investoren“, erinnert sich ein Banker, der an der Gründung zweier Finanzinstitute beteiligt war. Doch seien durch die liberale Politik der Regierung von Aung San Suu Kyi die Konzerne der Armee „mit voller Wucht von der Konkurrenz getroffen worden. Ihre Kunden waren nicht mehr wie früher von ihnen abhängig.“

Geschäftsleute und Analysten sind sich einig: „In den letzten zehn Jahren haben die Generäle in einer Blase gelebt, ohne Kontakte zu Ausländern aus westlichen Staaten. Sie waren überzeugt, den Exzeptionalismus Myanmars zu verkörpern.“ Sie verloren die Verbindung zur Gesellschaft und vor allem zu den jungen Leuten.

„Unsere Generation lässt sich nichts gefallen“, sagen die Jungen. Auf Facebook und Twitter verbreiten sie seit dem Putsch Parolen, Plakate, Zeichnungen und Fotos. Damit ermuntern sie ihre Bewegung und bannen ihre Angst. Die Welt, in die die Militärregierung sie werfen will, kommt ihnen vor wie eine dystopische Serie nach Art von „The ­Purge“ und „Black Mirror“. Wie die protestierende Jugend in Myanmar recken sie als Zeichen des Widerstands drei Finger in die Luft, eine Anspielung auf die Filmreihe „Die Tribute von Panem“.

„Wir demonstrieren nicht für die NLD oder für Aung San Suu Kyi“, sagt Thinzar Shunlei Yi. „Unsere Bewegung geht über Parteigrenzen hinweg und über ihr Symbol hinaus. Es ist eine Mobilisierung der ganzen Gesellschaft, um die Einmischung des Militärs in die Politik ein für alle Mal zu beenden. Wir wollen eine wirklich demokratische Verfassung.“ Eine Künstlerin stimmt ihr zu. Sie sei begeistert von dem, was sie bei den Protesten in Yangon gesehen hat: Familien, sehr junge Menschen, Reiche und weniger Reiche. Sogar Menschen aus einer Wohnanlage, in der Angehörige von Militärs leben, seien mitmarschiert – obwohl die Militärjunta das Kriegsrecht verhängt und Versammlungen von mehr als fünf Personen verboten hat. Bürgerkomitees organisieren sich, um Bewohner der Stadtviertel vor nächtlichen Festnahmen zu schützen.

Die sozialen Netzwerke bieten der Bewegung eine Plattform, um den Kampf auf der Straße wie im Internet zu führen. Facebook ist zum „Blutkreislauf von Myanmar“ geworden, in dem lebenswichtige Informationen zirkulieren. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung verfügt über einen Facebook-­Account, noch vor zehn Jahren hatten nur 2 Prozent überhaupt ein Mobiltelefon.3

Um die Zensur zu umgehen, müssen Internetnutzer in Myanmar wie in China oder Vietnam ein virtuelles privates Netzwerk (VPN) installieren. Die Jungen zeigen den Älteren, wie das geht. Thinzar Shunlei Yi betont: „Solche Tools helfen uns, uns zu organisieren, aber sie sind anfällig. Die Armee kann das Internet abschalten.“ Das ist inzwischen täglich von 1 Uhr nachts bis 9 Uhr morgens der Fall – die Zeit der Angst vor Razzien.

Kann der Kampf gegen den gemeinsamen Feind, die Armee, ein kollektives Bewusstsein schaffen? Zwietracht vergiftet das Land seit seiner Gründung 1947. Die Spannungen zwischen der Mehrheit der Bamar (Birmanen) und den anderen Ethnien, die ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, ziehen sich durch die Geschichte der unerreichbaren „Union Myanmar“, wie der offizielle Landesname lautet. Die Militärs präsentieren sich gern als Garanten einer imaginären Einheit, fördern aber in Wahrheit die Spaltung. Seit 70 Jahren kommt es immer wieder zu kriegerischen Konflikten zwischen der Tatmadaw und den bewaffneten Kräften ethnischer Minderheiten. Meist geht es um die Kontrolle natürlicher Ressourcen.4

Auf der Panglong-II-Konferenz, die 2015 Militärs, Regierung und ethnische Minderheiten zusammenbrachte, versprach Aung San Suu Kyi mehr Gleichberechtigung der Bevölkerungsgruppen. Aber die Verhandlungen kamen nicht voran. Armee und NLD, beide von Bamar dominiert, betrachten die Minderheiten als „destabilisierende Elemente, die die Zentralgewalt schwächen“, wie die Analystin Carine Jaquet erklärt.

Aung San Suu Kyi verteidigte die Streitkräfte sogar vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegen die Vorwürfe ethnischer Säuberungen, begangen an den muslimischen Rohingya. 2016 und 2017 flohen über 700 000 Rohingya vor den brutalen Übergriffen des Militärs nach Bangladesch. Damit hatte sich die Armee für Überfälle der Arakan Rohingya Salvation Army (­Arsa) gerächt. Die bis dahin unbekannte Gruppe kämpft für einen unabhängigen Rohingya-Staat. Beeinflusst von Hass­propaganda, die buddhistische Nationalisten und die Armee verbreiteten, stellte sich die Bevölkerungsmehrheit damals hinter General Min Aung Hlaing und Aung San Suu Kyi. Letztere erlangte enorme Popularität, die sich in den Wahlergebnissen niederschlug.

Während der gegenwärtigen Proteste werden nun Entschuldigungen laut. Man bedauert, nicht mehr Verständnis für das Schicksal der Rohingya gezeigt zu haben, die bis vor Kurzem als Feinde galten. Zuerst müsse man sich, so der Direktor des Zentrums für gesellschaftliche Unversehrtheit, jetzt von der Armee befreien, bevor man daran denken könne, einen inneren Zusammenhalt aufzubauen: „Zunächst müssen wir uns gegen die Militärs erheben. Denn sie haben die legitime Regierung der NLD gestürzt.“

Und wie sind die Reaktionen im Ausland? Die USA haben Konten von Myanmars Regierung und einiger Generäle eingefroren und Wirtschaftssanktionen gegen einige Firmen des Militärs verhängt. Ein Analyst sagt: „Die ausländischen Investoren, die ich berate, wägen alle Optionen ab.“ Konkreter könne er nicht werden. China, als Myanmars wichtigster Handelspartner, hat euphemistisch von einem „Regierungswechsel“ gesprochen und setzt seine großen und kleinen Geschäfte fort.

Japan, zweitwichtigster Handelspartner, hat den Putsch verurteilt. Aber Verteidigungsminister Nakayama warnte: „Wenn wir [die Partnerschaft mit Myanmar] beenden, werden sich die Beziehungen von Myanmars Armee zur chinesischen Armee festigen, und das Land wird sich weiter von freien Ländern wie den USA, Japan und Großbritannien entfernen.“5

Trotzdem haben der japanische Fahrzeughersteller Suzuki und der Brauereikonzern Kirin ihren Rückzug aus Myanmar erklärt. Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar versichert, das Transitverkehrsprojekt Kaladan sei nicht gefährdet.6 Und Europa? Ist laut dem französischen Außen- und Europaminister Jean-Yves Le Drian dabei, „Sanktionen zu prüfen“.7

1 Die meisten unserer Ge­sprächs­part­ne­r:in­nen baten aus Angst vor Verfolgung um Anonymität.

2 „Poverty data: Myanmar“, Asian Development Bank, 2017.

3 „Myanmar telecommunications sector“, Yangon Stock Exchange, 30. Juli 2018.

4 Vgl. Renaud Egreteau, „Birma – Freiheit unter Kon­trolle des Militärs“, LMd, Dezember 2015, und André und Louis Boucaud, „Birmas Schätze“, LMd, Januar 2012.

5 „Japan defense official warns Myanmar coup could increase Chinas’s influence in region“, reuters, 2. Februar 2021.

6 Rahul Karmakar, „India-Myanmar Kaladan project in final stages: Jaishankar“, The Hindu, New Delhi, 15. Februar 2021.

7 „Birmanie: LUE devra ‚envisager‘ des snactions si l‘état d‘urgence n‘est pas levé, selon Jean-Yves Le Drian“, Le Figaro (mit AFP), Paris, 3. Februar 2021.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Christine Chaumeau ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 11.03.2021, von Christine Chaumeau