Feudales Schloss mit demokratischer Fassade
Seit ihrer Unabhängigkeit ringen die lateinamerikanischen Staaten um echte Volkssouveränität
von Renaud Lambert
Noch im Jahr 2010 schrieb der ehemalige französische Botschafter in Brasilien und ausgewiesene Kenner Lateinamerikas Alain Rouquié: „Nach Jahrzehnten der Instabilität und der Diktaturen scheint die Demokratie inzwischen überall Fuß gefasst zu haben.“ Und er schwärmte nach der Wahl von Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien (2003), Michelle Bachelet in Chile (2006) und Evo Morales in Bolivien (2006): „Von nun an kann eine Frau, ein Indio oder ein Arbeiter ins höchste Staatsamt gelangen.“1
Zehn Jahre später bot sich ein anderes Bild. Der „Indio“ war durch einen Staatsstreich gestürzt worden,2 der „Arbeiter“ wurde von einer von der Rechten instrumentalisierten Justiz anhaltend schikaniert. Und während Frau Bachelet ihre Amtszeit immerhin beenden konnte, wurde in Brasilien die 2011 gewählte Regierungschefin Dilma Rousseff durch parlamentarische Intrigen3 aus dem Amt entfernt.
Man konnte sich mit Rouquié darüber freuen, dass es in Brasilien 2003 zum ersten Mal seit 43 Jahren einen geordneten Machtwechsel gab, und man konnte positiv vermerken, dass Präsident Hugo Chávez in Venezuela die Bevölkerung mehr am politischen Leben des Landes beteiligte und Präsident Rafael Correa in Ecuador seine zweite Amtszeit 2017 friedlich beendete, was keinem seiner sieben Vorgänger im Jahrzehnt davor gelungen war.
Aktuell besteht weniger Anlass zur Freude. Die Demokratie in Lateinamerika erlebt gerade eine neue Periode der Instabilität, genauer: einen Rückfall in den Autoritarismus. Wie ist das zu erklären? Liegt die Ursache vielleicht gerade in den vorausgegangenen Fortschritten? Wie Ikarus, der mit jedem Flügelschlag in Richtung Sonne seinem Absturz näher kommt, scheinen die lateinamerikanischen Demokratien dazu verdammt, die Voraussetzungen ihres Scheiterns zu schaffen, während sie auf ihr Ziel zusteuern.
Mögen Militärs mit dunklen Sonnenbrillen als nachgerade ikonisch für den Subkontinent geworden sein – ursprünglich sind die lateinamerikanischen Republiken auf demokratische Prinzipien gegründet, ihre Unabhängigkeit wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von den weißen kreolischen Eliten im Namen der Aufklärung proklamiert. Simón Bolívar, „der Befreier“ (El Libertador), schrieb am 6. September 1815 in seinem berühmten Brief aus dem jamaikanischen Exil, den Amerikanern sei im kolonialen spanischen System nur der Platz von Leibeigenen, allenfalls der von Abnehmern von Waren zugewiesen, höhere Ämter seien ihnen verwehrt: „Wir waren nie Vizekönige oder Gouverneure, selten Erzbischöfe oder Bischöfe; nie Diplomaten, Soldaten nur in den unteren Rängen.“
Doch die Initiatoren der Befreiungskriege waren eben Angehörige der weißen Minderheit, der besitzenden Elite europäischer Herkunft, hebt Rouquié hervor. Sie wollten Unabhängigkeit von einem Mutterland, das ihnen zwar Reichtum, aber keine Macht gewährte. In den Verfassungen, die in den unabhängigen Staaten in Kraft traten, verzichteten diese Eliten keineswegs auf ihre Privilegien: Das Wahlrecht zum Beispiel blieb auf die „Fähigen“ beschränkt.
Der argentinische Schriftsteller Esteban Echevarría (1805–1851) erklärte: „Allein die kollektive Vernunft ist souverän, nicht der kollektive Wille. Folglich kann die Volkssouveränität nur in der Vernunft des Volkes liegen, und nur der gebildete und vernünftige Teil der Gesellschaft ist berechtigt, sie auszuüben. Demokratie ist nicht die Despotie der Massen oder der Mehrheit, sondern die Herrschaft der Vernunft.“5
Und Rouquié resümiert: „Für die liberalen Eliten Südamerikas war die Demokratie angesichts des Zustands der Gesellschaft eigentlich unmöglich, aber alternativlos“, denn nur durch sie sei die Unabhängigkeit zu rechtfertigen gewesen. Dieselben Leute, die die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben, machten anschließend auch die Gesetze.
Damals kam es zu einer Auseinandersetzung, die bis heute das politische Leben auf dem Subkontinent bestimmt. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die die Volkssouveränität der bestehenden Hierarchie unterordnen, die sie als natürlich und unveränderlich betrachteten. Es sind die Verfechter einer Demokratie ohne Gleichheit oder, wie Rouquié es ausdrückt, „ohne Bürger“. Ihnen gegenüber stehen all jene, die die bestehende Ordnung umwälzen und die in den Verfassungen verankerten Prinzipien in die Realität umsetzen wollen.
Diese Gliederung des politischen Raums steht im Kontext einer spezifischen Einbindung ins globale Wirtschaftssystem, die der Ökonom André Gunder Frank folgendermaßen beschrieb: Im Gegensatz zu den nordamerikanischen Kolonien, denen „die geologischen und klimatischen Bedingungen und eine Bevölkerung fehlten, die für die Entstehung einer Exportwirtschaften notwendig sind“, lieferte Südamerika Europa die Rohstoffe, die es für die industrielle Revolution brauchte, und konsumierte dafür dessen verarbeitete Waren.6
Die kreolische Oligarchie hatte nicht vor, ihr opulentes Leben durch die Unabhängigkeit aufs Spiel zu setzen. Sie verdankte es demselben Prinzip, das auch den transatlantischen Warenverkehr antrieb: dem Freihandel. Unter diesen Bedingungen implizierte „die Übergabe der Macht keineswegs einen Wandel der Gesellschaft“, wie der chilenisch-argentinische Historiker Luis Vitale erklärte. „Diente der Liberalismus in Europa der Industrie-Bourgeoisie als Waffe gegen den Landadel, wurde er hier von den Besitzenden gegen das spanische Monopol eingesetzt. Dort unterstützte er den Protektionismus der Industrie, hier den Freihandel.“7
Durch die „Unabhängigkeit“ verstärkte sich die wirtschaftliche Dynamik, der Lateinamerika unterlag. Der Brite George Canning bemerkte in einem Brief vom 17. Dezember 1824 zutreffend: „Spanisch-Amerika ist frei und, wenn wir es richtig anstellen, ist es englisch.“8 Die wirtschaftliche Entwicklung des Subkontinents blieb stecken. Schuld daran war eine starke Konzentration des Reichtums, ein schwacher Binnenmarkt und eine kümmerliche Industrie. Aus dieser Falle hat sich die Region bis heute nicht befreit, auch wenn es zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere Anläufe dazu gab.
Als der Erste Weltkrieg und dann der Börsencrash von 1929 zu einer Unterbrechung der internationalen Handelsströme führten, entschieden sich die meisten lateinamerikanischen Länder für eine Politik, die als „Importsubstitution“ bezeichnet wurde und auf die Förderung der heimischen Industrie abzielte. Dabei sollten die gesellschaftlichen Strukturen unangetastet bleiben.
Doch ohne eine Umverteilung des Reichtums konnte keine ausreichende Binnennachfrage entstehen. Die Industrieproduktion blieb daher auf wenige, für eine wohlhabende Bevölkerungsschicht bestimmte Konsumgüter beschränkt, wie beispielsweise Schuhe von edler Qualität. Dies hätte nur durch eine aktive Industrialisierungspolitik geändert werden können, die die Weichen für die Herstellung von Bedarfsgütern gestellt hätte.
Ein weiteres Hindernis beim Versuch einer eigenständigen industriellen Entwicklung war, dass die Marktlogik nicht angetastet werden sollte. Da die lateinamerikanischen Länder ihre eigenen Investitionsgüter nicht selbst produzieren konnten, mussten sie diese importieren. „Sie ersetzten eine Art von Importen durch eine andere“, erläutert Frank.
Der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes drückte es 1963 in einem offenen Brief an die Nordamerikaner so aus: „Dieser naive und liberale Kapitalismus hat sich über die feudalistischen Strukturen gelegt, ohne sie zu zerstören. Er hat die Masse der Bauern und Arbeiter ihrem Schicksal überlassen und den Fortschritt allein einer städtischen Minderheit vorbehalten. Das ist Lateinamerika: ein verfallenes feudales Schloss mit einer kapitalistischen Fassade aus Pappmaché.“
Feudalismus und eine durch den Freihandel zur Unterentwicklung verdammte Wirtschaft, dazu die unangenehme Nähe zu den USA, die Lateinamerika bald als ihren „Hinterhof“ betrachteten: Der Weg zur Emanzipation war nicht leicht, darüber waren sich Frank, Fuentes und Vitale im Klaren.
„Mit einem leeren Magen, einem leeren Kopf, leeren Hütten ist bekanntlich keine Demokratie möglich“, schrieb Fuentes. „Demokratie ist nicht der Ursprung, sie ist ein Ergebnis.“ Deshalb: Nieder mit der „formalen Demokratie“, der dysfunktionalen, bürgerlichen Demokratie, die die Völker der Region beherrscht und die gerade nicht als Werkzeug zur Veränderung der Welt dient! Lang lebe die „wahre Demokratie“, die das Ziel der Emanzipationsbewegungen ist!
Die Wahlurnen könne man dabei vergessen, so Fuentes, denn nur durch eine Revolution würden die lateinamerikanischen Republiken die Ideale verwirklichen, aus denen sie hervorgegangen sind. „Die Revolution!“, wütete Fuentes. „Sie rufen den Himmel an, sie ringen die Hände und weinen über die Gewalt und das Blutvergießen. Ja, leider haben wir es nie geschafft, die herrschenden Klassen eines feudalistischen Landes davon zu überzeugen, dass ihre letzte Stunde geschlagen hat.“
Die Entschlossenheit der Autoren war umso grimmiger, als sie das Schicksal von Juan Domingo Perón in Argentinien (1946–1955), Getúlio Vargas (1951–1954) und João Goulart (1961–1964) in Brasilien sowie Juan Bosch in der Dominikanischen Republik (1963) vor Augen hatten. Diese Anführer hatten – durchaus auch mit autoritären Mitteln – den Abgehängten einen Platz in der Gesellschaft zu geben versucht, ohne gleich die sozialen Hierarchien umzustürzen.
„Die Revolution machen, bevor das Volk sie macht“, nennt Rouquié das. Aber selbst das war schon zu viel. Sie alle wurden von der Armee gestürzt mit der Begründung, sie seien eine Bedrohung für die Demokratie, weil sie die bestehende Ordnung infrage stellten.
Mit dem Anspruch, die Souveränität des Volkes zu verteidigen, rechtfertigen auch die Putschisten der 1970er und 1980er Jahre ihr Handeln. „Alle, die wie wir an die pluralistische Demokratie glauben, führen einen Krieg gegen die Anbeter des Totalitarismus, einen Krieg für die Freiheit und gegen die Tyrannei“, verkündete Admiral Emilio Massera, Mitglied der argentinischen Junta, die im November 1976 die Macht übernahm. Im Kontext des Ost-West-Konflikts steigerte sich der Antikommunismus zu einem „dritten Weltkrieg“, wie Massera erklärte. Er sicherte sich damit auch die wertvolle Unterstützung der USA.
Der Amtsantritt von Salvador Allende als Präsident Chiles im Jahr 1971 markierte einen Wendepunkt. Er glaubte fest daran, dass Wahlen dem demokratischen Ideal dienten. Er weckte die weltweite Begeisterung einer Linken, die den bewaffneten Kampf, nicht aber die Hoffnung aufgegeben hatte. Aller Augen waren damals auf Chile gerichtet. Der französische Sozialist und spätere Präsident François Mitterrand verlieh seiner Faszination während einer Südamerikareise Ausdruck: „Chile stellt eine interessante und originelle Kombination dar. Die Annahme der Volksbewegung, dass sie auf legalem Weg gewinnen kann, ist berechtigt, und zwar durch das allgemeine Wahlrecht und den Druck der Arbeiter in den krisengeschüttelten Branchen“ (Le Monde, 15. November 1971).
In den Augen der herrschenden Klasse rechtfertigte Allendes Kühnheit indes die Zerschlagung der Demokratie – im Namen der Demokratie. „Ich habe die Demokratie als politisches Konzept immer respektiert und bewundert“, erklärte ausgerechnet General Pinochet, der Allende 1973 stürzte. „Trotz ihrer Qualitäten erweist sie sich jedoch ohne geeignete Modifikationen als völlig unfähig, dem Kommunismus etwas entgegenzusetzen.“9
Anderswo verlief es ähnlich, und bis 1978 waren nur Kolumbien, Venezuela und Costa Rica der Diktatur entgangen. Kolumbien erlebte allerdings einen blutigen Bürgerkrieg, und Venezuela war durch den 1958 geschlossenen Puntofijo-Pakt ruhiggestellt, ein Arrangement, mit dem sich die beiden wichtigsten politischen Gruppierungen Macht und Pfründen teilten.
In den 1980er Jahren stürzten nach und nach die autoritären Regime, es folgte eine Übergangsphase. Aber die „restaurierten Demokratien“ seien weniger repräsentativ als die anderen, bemerkt Rouquié: „Sie sind die Erbinnen der Diktaturen, wenn nicht gar ihre Gefangenen.“ So überlebte in Chile die von Pinochet hinterlassene Verfassung, die die Grundlage der neoliberalen Ausrichtung der Wirtschaft wie auch der Privatisierung der Universitäten darstellt. Erst mit dem Referendum von 2020 wurde eine grundlegende Verfassungsänderung in die Wege geleitet.
Diese „ausgehandelten“ Übergänge stellten die Demokratie gewissermaßen unter Vormundschaft, denn die Militärs – zum Deal gehörte gewöhnlich deren Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung – lauerten stets im Hintergrund. Argentinien etwa erlebte in den Jahren 1987 und 1988 drei Militärrevolten.
In Chile verfasste Ernesto Ottone, der frühere Berater von Präsident Ricardo Lagos (2000–2006) und Ex-Kommunist, ein Buch, in dem es heißt: „Wir stellten uns die Frage, was ist unser Minimalziel für Lagos’ Regierungszeit?“ Die Antwort war einfach: „Dass er die geplanten sechs Jahre im Amt bleiben und danach auf seinen eigenen Beinen hinausgehen möge.“ Das konnte nur gelingen, wenn die politischen Kämpfe „in einem engen Rahmen“ ausgefochten werden, „der die Einheit Chiles nicht gefährdet und die demokratische Regierbarkeit garantiert“. Das bedeutete, „auf jedwedes Projekt zu verzichten, das die Voraussetzungen einer Tragödie wie 1973 reproduzieren könnte“.10
Solch ein Verzicht fällt allerdings nicht allzu schwer, solange sich die politischen und wirtschaftlichen Eliten über die Vorteile der von den Diktaturen selbst eingeleiteten Übergangsphasen einig sind. Ottone und seinem Co-Autor Muñoz Riveros, einem ehemaligen Berater Michelle Bachelets, zufolge „lässt sich nicht leugnen, dass die Politik der Diktatur zumindest indirekt bei der Entstehung des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Fiasko der Periode 1970 bis 1973 eine Rolle gespielt hat“.
Ähnliches äußerten viele Intellektuelle, deren radikalste Vertreter den Diktaturen zum Opfer gefallen waren. Viele der Überlebenden waren inzwischen zur Überzeugung gelangt, die Machtergreifung des Militärs sei durch eine Periode kollektiver Irrationalität provoziert worden. „Wir alle sind mitverantwortlich für den Zusammenbruch der Demokratie in Chile“, verkündete der ehemalige Präsident Patricio Aylwin (1990–1994) und der amtierende Präsident Lagos bei den Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Ermordung Allendes.
Ernesto Ottone und Muñoz Riveros unterstützen diese Sichtweise und zitieren den französischen sozialdemokratischen Denker Laurent Joffrin: „Die sozialistische Revolution ist ein gefährlicher Mythos, die einen totalitären Leviathan freisetzt, wenn sie erfolgreich ist, und Terrorismus, wenn sie scheitert.“ Damit stricken sie weiter an der Theorie der „zwei Dämonen“, der zufolge die Roten und die Braunen gleichermaßen an der Entstehung von Diktaturen schuld sind.
Die Regierungen der Übergangszeit bemühten sich also vor allem darum, den Leviathan nicht „freizusetzen“. Der Preis dafür war eine Welt, in der sich die Missstände weiter verschlimmerten und Aufruhr provozierten. Denn die dramatische soziale Ungleichheit, die politische Marginalisierung beträchtlicher Bevölkerungsteile, die Unterwerfung unter den Freihandel und der lange Arm Washingtons existierten weiterhin. Kurz: eine Welt, die es immer noch nicht schafft, die Bedingungen für echte Demokratie zu schaffen. „Jedes zweite Kind lebt in unserem Land in Armut“, sagte Argentiniens Präsident Alberto Fernández in seiner Antrittsrede am 10. Dezember 2019: „Solange es einen Mangel an Brot gibt, gibt es keine Demokratie.“
Für all jene, die weiterhin an die Souveränität des Volkes glauben, bleibt also noch viel zu tun. Dass die aus den ausgehandelten Übergängen hervorgegangenen Institutionen den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht gerecht werden und dass Wahlen allzu oft nur in gebrochenen Versprechen enden, lässt so einige zu dem Schluss kommen, die eigentliche Politik finde woanders statt: nämlich auf der Straße, weit entfernt von den Palästen.
Putschversuche, Intrigen und Blockaden
Als Beispiel mögen die Proteste in Bolivien Anfang der 2000er Jahre dienen, mit denen wichtige Erfolge gegen die Privatisierung der Wasser- und Gasversorgung errungen wurden. Diese Strategie skizzierte John Holloway in seinem 2002 erschienenen Buch „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“.11 Darin führt er auch die Zapatisten in Chiapas als Beispiel an.
Kritiker eines solchen Ansatzes merken an, damit werde die Macht letztlich den Konservativen überlassen. Sie halten an der Hoffnung fest, dass trotz ihrer begrenzten Möglichkeiten der Weg über Wahlen der richtige sei, um Lateinamerika aus seiner feudalistischen Gefangenschaft zu befreien. Wobei sie jedoch von vornherein betonen, dass Wahlen allein nicht ausreichten.
So erklärte Lula da Silva bereits 1985, lange vor seiner Wahl zum Präsidenten: „Wir versuchen die Spielregeln der Demokratie zu respektieren. Wir glauben, dass das Parlament kein Selbstzweck ist, sondern nur ein Mittel. Wir werden versuchen, es so gut wie möglich zu nutzen. Sollten wir erkennen, dass wir über den parlamentarischen Weg, über den Weg von Wahlen, nicht an die Macht kommen, werde ich die Verantwortung übernehmen, der Arbeiterklasse zu sagen, dass sie sich einen anderen Weg suchen muss.“12 Nach zwei Amtszeiten als Präsident räumte er ein, dass einige Zugeständnisse nötig waren: „Käme Jesus nach Brasilien, er müsste sogar mit Judas ein Bündnis eingehen.“13
Und so kam es, dass in mehreren Ländern Politikerinnen und Politiker gewählt wurden, die sich der „Demokratisierung der Demokratie“ verschrieben hatten. Die „rosarote Welle“ begann 1998 in Venezuela mit Hugo Chávez, 2002 folgte in Brasilien Lula da Silva, 2003 in Argentinien Néstor Kirchner, 2005 in Bolivien Evo Morales, 2006 in Ecuador Rafael Correa, 2007 wieder in Argentinien Cristina Fernández und 2010 in Brasilien Dilma Rousseff.
Wie der gerade abhebende Ikarus bemühten sie sich, ihre Länder dem demokratischen Ideal näher zu bringen, mit unterschiedlichem Erfolg. Sie versuchten, die Unterprivilegierten zu gleichberechtigten Bürgern zu machen und ein Staatswesen aufzubauen, das den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht wird. Die sozialen und wirtschaftlichen Fortschritte dieser Zeit sind umfassend dokumentiert. Wählen schien wieder sinnvoll.
In seiner jährlichen Studie über die Einstellung der Lateinamerikaner zur Demokratie stellte das chilenische Meinungsforschungsinstitut Latinobarómetro 2010 fest, dass „die öffentliche Unterstützung für die Demokratie seit 2007 stetig zunimmt“. Zum ersten Mal seit 1995, als der Indikator für die Demokratiezufriedenheit zum ersten Mal zum Einsatz kam, gab es vier Jahre in Folge einen kontinuierlichen Anstieg.
Aber je weiter es mit der Demokratisierung voranging, desto stärker war sie bedroht. Der herrschenden Klasse drohte der Verlust ihrer traditionellen Macht, und das wusste sie zu verhindern. Es kam zu Putschversuchen, manipulierten Amtsenthebungsverfahren und wirtschaftlichen Blockaden durch die Arbeitgeberseite – auch in Brasilien, wo sich da Silva und seine Nachfolgerin Rousseff durch das Bemühen um Aussöhnung ausgezeichnet hatten.14
Kam es schließlich zum Machtwechsel, nutzen die Konservativen oft die Gelegenheit zur Verfolgung ihrer ehemaligen Gegner. Infolgedessen klammern sich die wenigen im Amt verbliebenen Progressiven an ihre Posten, auch wenn sie damit die demokratischen Regeln missachteten. Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro warnte 2016 seine Gegner: „Sie werden niemals einen Fuß in den Miraflores-Palast setzen, weder mithilfe von Stimmzetteln noch von Kugeln.“15
Im Jahr 2002 war es in Venezuela zu einem Putsch gegen Chávez gekommen. Der Arbeitgeberpräsident Pedro Carmona hatte sich zum Präsidenten erklärt, die Nationalversammlung und die Justizbehörden aufgelöst und Gouverneure und Bürgermeister abgesetzt – doch ein Volksaufstand ließ den Staatsstreich scheitern.
Die politischen Erben von Carlos Fuentes, die sich nun um Chávez scharten, gaben ihm den Rat, die Gelegenheit zu nutzen. Wie ein Brasilianer, der damals dabei war, berichtete, rieten sie ihm: „Die Opposition hat bewiesen, dass sie den Willen des Volkes nicht respektiert. Dies ist der ideale Moment, um die Wahlen auszusetzen. Das wird Ihnen die Zeit geben, die Sie brauchen, um die notwendige Transformation durchzuführen und endlich die Volkssouveränität in Venezuela zu etablieren.“
Chávez lehnte ab. Er begnadigte die Putschisten in der Hoffnung, dass sie sich künftig an die Spielregeln halten würden. Doch sie intrigierten und warfen dem Mann, der sie vor dem Gefängnis bewahrt hatte, seine „autoritären Tendenzen“ vor. Tendenzen, die sie durch ihre Machenschaften mit hervorgebracht hatten.
Ikarus greift nach dem Himmel – sein Fall ist tief. Es bleibt die Frage: Wie baut man mit Nichtdemokraten eine Demokratie auf?
2 Siehe Renaud Lambert, „Das Ende der Ära Morales“, LMd, Dezember 2019.
3 Siehe Laurent Delcourt, „Hexenjagd in Brasilien“, LMd, Mai 2016.
4 Simón Bolívar, Brief von Jamaika, 6. September 1815.
5 Esteban Echevarría, „Dogma socialista y otras páginas políticas “, Buenos Aires (Estrada) 1846.
8 Carlos Fuentes u. a., „Whither Latin America?“, New York (Monthly Review Press) 1963.
9 Augusto Pinochet, „The Crucial Day“, Santiago (Editorial Renacimiento) 1982.
12 Zitiert nach: Christian Dutilleux, „Lula“, Paris (Flammarion) 2005.
13 „Democracia em vertigem“,Dokumentarfilm von Petra Costa, Netflix, 2019.
14 Geisa Maria Rocha, „Null Hunger“, LMd, September 2010.
15 „Ni con balas ni con votos entran a Miraflores“, El Nacional, Caracas, 4. November 2016.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert