11.03.2021

Zeig mir deine Zähne

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Zeig mir deine Zähne

Wie das französische Gesundheitssystem Arme und Normalverdiener im Stich lässt

von Olivier Cyran

Moskau, Stomatologisches Institut: Schöner lächeln im Sozialismus akg
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Es war ein mutiger Schritt, als der junge Zahnarzt Bernard Jeault 1970 beschloss, in Autun (Departement Saône-et-Loire) eine Praxis für Arme zu eröffnen. Er nahm einen Kredit auf und gründete mit vier Gleichgesinnten ein Kollektiv. Mit ihrem bescheidenen Einheitslohn verzichteten die fünf jungen Zahnärzte auf die Privilegien ihres Berufsstands, denn sie hatten vor allem ein Ziel: gesunde Zähne für alle.

Geradezu panisch reagierte allerdings die französische Zahnärztekammer, die fürchtete, Jeaults Modell könnte Schule machen und ihr System lukrativer Ein-Personen-Unternehmen zum Einsturz bringen. Also zettelte die Kammer einen Zermürbungskrieg gegen den jungen Zahnarzt von Autun an, trieben sein Kollektiv in den Ruin und entzogen ihm schließlich sogar die Approbation – aus Rache für ein Buch, in dem er von seinen ernüchternden Erfahrungen mit den „arracheurs des dents“ (den Zahnausreißern) berichtete.1

Fünfzig Jahre sind seither vergangen, doch die Ungleichheit beim Zugang zu zahnmedizinischer Versorgung ist nach wie vor eklatant. Die Schäden, die dadurch angerichtet werden, zeigen sich schon bei den Jüngsten. Laut dem zahnärztlichen Dienst leidet im letzten Kindergartenjahr ein Viertel aller Arbeiterkinder in Frankreich an unbehandelter Karies, während es bei den Kindern aus besserverdienenden Familien nur 4 Prozent sind.2

Im Erwachsenenalter geht die Schere noch weiter auseinander. Schätzungen zufolge verzichtet ein Viertel aller einkommensschwachen Haushalte auf den Zahnarztbesuch und nimmt dafür chronische Schmerzen, Schwierigkeiten beim Kauen oder ein ramponiertes Lächeln in Kauf. 2011 räumte das französische Gesundheitsministerium ein: „Die festgestellten Ungleichheiten zeigen zum einen, dass die Gruppen ungleich stark gefährdet sind: Für die Mund- und Zahngesundheit förderliche Verhaltensweisen (Zähneputzen zweimal am Tag, Fluoridierung, abwechslungsreiche Ernährung) sind in den bildungs- und einkommensstärkeren Bevölkerungsgruppen weiter verbreitet. Zum anderen werden die Behandlungsmöglichkeiten unterschiedlich stark in Anspruch genommen: Leitende Angestellte gehen häufiger zum Zahnarzt als geringer qualifizierte Bevölkerungsgruppen.“3

Diese Ungleichheiten werden, obwohl sie Millionen von Menschen betreffen und erhebliches Leid verursachen, oft negiert oder kleingeredet. Zahngesundheit, heißt es oft, unterliege der individuellen Eigenverantwortung. Wer gesunde Zähne haben wolle, müsse sich eben an die von klein auf beigebrachten Hygieneregeln halten, sich ausgewogen ernähren, Zuckerhaltiges, Alkohol, Tabak und Drogen meiden, dem Schlagstock des Polizisten oder dem Fausthieb des gewalttätigen Ehemanns aus dem Weg gehen und sich überhaupt eines anständigen Lebenswandels befleißigen. Wer das nicht tue, sei selber schuld, wenn sich die Zähne verabschieden.

Die zahnärztliche Versorgung ruht auf zwei Grundpfeilern: Selbstständigkeit der Ärzte und ein Zweiklassensystem mit Basis-Kassenleistungen einerseits und ungedeckelten, somit wesentlich lukrativeren privaten Leistungen wie Implantate oder Prothesen andererseits. Im Zwiespalt zwischen dem Eid, den sie als Berufsanfänger leisten – „Ich werde jeden behandeln, der meine Hilfe braucht“ –, und der Versuchung, einträglichere Patienten bevorzugt zu behandeln, neigen Zahnärzte erfahrungsgemäß zu Letzterem. Und es ist kein Zufall, dass sich für die „Privatanleger, die ihr Schwarzgeld ins Ausland transferieren, um es in einem vorteilhafteren Steuersystem unterzubringen, im Jargon der europäischen Steuervermeidungsexperten die Bezeichnung ‚Belgian dentist‘ etabliert“ hat.4

Ende 2018 verpflichtete der französische Bürgerbeauftragte Buchungsplattformen wie Doctolib, offen diskriminierende Hinweise wie „Diese Praxis nimmt keine Basisversicherten an“ von ihren Websites zu entfernen. Dass Menschen mit Basisversicherung, aber auch armen Leuten im Allgemeinen sowie Kindern, Senioren oder Menschen mit Behinderungen quasi die Behandlung verweigert wird, ist in Zahnarztkreisen gang und gäbe, auch wenn dies meist auf Umwegen geschieht.

Allerdings sind die Zahnärzte auch nur Nutznießer eines Systems, das sie sich nicht ausgedacht haben und in dem die für den Patienten kostenfreie Behandlungen mit den gewinnbringenden Leistungen konkurrieren: „Für eine Zahnuntersuchung bekomme ich laut kassenärztlicher Verordnung 23 Euro. Das sind Peanuts“, erklärt uns ein Zahnarzt, der mit seinem Berufsstand hadert. „Also schludere ich die Sache entweder in einer Viertelstunde hin, oder ich nehme mir eine Dreiviertelstunde Zeit. Wenn ich das aber mehrmals am Tag mache, sitze ich ganz schnell auf dem Trockenen.“

Als jemand, der hart und gewissenhaft arbeitet, kann dieser Zahnarzt knapp seinen Lebensunterhalt bestreiten. Berufskollegen, die weniger Skrupel haben und für eine professionelle Zahnreinigung 10 Minuten und keine Sekunde länger investieren, obwohl sie mindestens 30 Minuten erfordert, haben dagegen ein komfortables Auskommen.

In diesem Punkt hat die im Januar 2020 in Kraft getretene Reform „Reste à charge zéro“, die den Patienten bei bestimmten Leistungen von der Eigenbeteiligung befreit, keinen grundlegenden Systemwechsel gebracht. Zwar werden jetzt die Kosten für bestimmte Prothesen der unteren Preisklasse in voller Höhe von den Krankenkassen übernommen (wobei die Kassen das sogleich als Anlass für eine Beitragserhöhung nutzten), aber die Profitlogik, die das System bestimmt, bleibt unangetastet. Es gibt freilich heroische Zahnärzte, die alles daransetzen, jeden Patienten bestmöglich zu versorgen, und dafür einen Burn-out riskieren. Es darf aber bezweifelt werden, dass diese Helden unter den 42 000 niedergelassenen Zahnärzten Frankreichs – davon 35 000 Selbstständige – besonders zahlreich vertreten sind.

Jedem Menschen ein Recht auf Zähne zu verschaffen, mit denen man kräftig zubeißen kann; durch gemeinschaftliche Nutzung der Behandlungsapparate Kosten sparen; die Zahnärzte so entlohnen, dass sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren können und sich nicht den Kopf darüber zerbrechen müssen, wie sie möglichst viel Umsatz machen oder den Whirlpool für ihren Zweitwohnsitz finanzieren: Das Projekt, das Bernard Jeault vor einem halben Jahrhundert vorschwebte, hätte eine zweite Chance verdient.

Stattdessen wurde 2009 unter der Ägide der Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot ein Deregulierungsgesetz verabschiedet, das zur Folge hatte, dass hunderte Billig-Zahnkliniken wie Pilze aus dem Boden schossen, die Dentego, Dentimad, Dentifree, Dentalvie, Dentymed oder Dentasmile heißen. Es handelt sich – auch wenn die Bezeichnungen so klingen, als wären sie aus einem Preisausschreiben für den werbewirksamsten Markennamen hervorgegangen – um „gemeinnützige Vereine“, die keine Gewinne erwirtschaften sollen. Das Gesetz lässt ihnen allerdings genug Spielräume, um diese Klippe zu umschiffen.

Den Beweis lieferte der Dentexia-Skandal, benannt nach der gleichnamigen Kette, die 2016 pleiteging, nachdem sie bis zu 3000 Patientinnen und Patienten in unterschiedlichem Ausmaß ruiniert und verunstaltet hatte. Dentexia-Gründer Pascal Steichen war der Erste gewesen, der die Steilvorlage des Gesetzgebers nutzte. Der Handelsschulabsolvent und Verfasser der Fibel „Marketingpraktiken für den Immobilienmakler“ war ein Abenteurer mit Aktentasche und hatte von Zahnheilkunde keinen blassen Schimmer – wozu auch? Das Gesetz erlaubt jedem dahergelaufenen Geschäftemacher, in der Branche sein Glück zu versuchen.

Steichen gründete diverse Briefkastenfirmen, die der Muttergesellschaft im großen Stil mehr oder weniger ausgedachte Dienstleistungen sowie in der Türkei eingekaufte Prothesen und Implantate in Rechnung stellten.5 Seine Angestellten fertigten im Akkord ein Gebiss nach dem anderen ab. Die Umsatzmaximierung heiligte alle Mittel – auch das Ziehen gesunder Zähne und deren Ersetzung durch schlampig angefertigte und im Eiltempo eingesetzte Prothesen. Die ihrer Zähne beraubten Dentexia-Opfer gingen zwei Jahre durch die Hölle. Die besonders Verzweifelten organisierten sich und setzten Himmel und Erde in Bewegung, um die Kosten für die Restaurierung ihrer Zähne erstattet zu bekommen.6

Die Akteure, die sich derzeit auf dem Low-Cost-Markt tummeln, beteuern, dass sie in keiner Weise mit Dentexia zu vergleichen sind. Die Tatsache, dass bislang nur wenige Klagen gegen sie angestrengt wurden, scheint ihnen recht zu geben. Doch die Grundlage dieses Industriezweigs ist nach wie vor kommerzielle Ausbeutung unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit. Die beiden Gründer des Marktführers Dentego entdeckten ihre Berufung zur Zahnmedizin an der Paris School of Business, wo man für 30 000 Euro zum „Manager von morgen“ ausgebildet wird. Steichen, der inzwischen hinter Schloss und Riegel sitzt und auf seinen Prozess wartet, wird als Pionier eines Systems in Erinnerung bleiben, das viele Nachahmer gefunden hat – im Gegensatz zu dem Modell von Bernard Jeault.

1 Bernard Jeault, „Le Mal à la racine, dentistes ou arracheurs de dents“, Paris (Odilon-Média) 1995.

2 Chiffres de la Direction de la recherche, des études, de l’évaluation et des statistiques (Drees), zitiert nach: Sylvie Azogui-Levy und Marie-Laure Boy-Lefèvre, „Inégalités d’accès aux soins dentaires“, Après-Demain, Nr. 42, Paris 2017.

3 „Les inégalités de santé bucco-dentaires“, Gesundheitsministerium, Paris, 21. April 2011.

4 Michel Maus, „Tout le monde le fait! La fraude fiscale en Belgique“, Corporate Copyright, Saint-Gilles (Belgien) 2012.

5 Guillaume Lamy, „Le passé troublé du dentiste low cost“, Lyon Capitale, 28. November 2012. Siehe auch Christine Daniel, Philippe Paris und Patricia Vienne, „L’association Dentexia, des centres de santé dentaire en liquidation judiciaire depuis mars 2016: impacts sanitaires sur les patients et propositions“, Inspection générale des affaires sociales, Paris, Juli 2016.

6 Zwei Gründungsmitglieder des „Collectif contre Dentexia“, Christine Teilhol und Abdel Aouacheria, haben einen Verein für Zahnpatienten gegründet: La Dent bleue.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Olivier Cyran ist Journalist und Autor des Buches: „Sur les dents. Ce qu’elles disent de nous und de la guerre sociale“, Paris (La Découverte) 2021.

Le Monde diplomatique vom 11.03.2021, von Olivier Cyran