Die Kabylen von Ménilmontant
von Arezki Metref
Ein eisiger Regenschauer geht auf die Place Jean-Ferrat nahe der Metrostation Ménilmontant im 20. Pariser Arrondissement nieder. Grüppchen alter kabylischer Männer flüchten von ihren Bänken und suchen unter den Vordächern der Restaurants Schutz. Wegen der Pandemie sind sie geschlossen, aber hineingehen würden sie auch unter normalen Umständen nicht. Viele der algerischen Cafés und Bistros im Viertel haben sich in hippe Bars oder Lounges verwandelt und sind viel zu teuer für die „Chibanis“ (Maghrebinisch-Arabisch für „Die Alten“). Dabei sprechen die meisten der alten Kabylen nicht einmal Arabisch, verstehen es zum Teil auch nicht.
Sie treffen sich jetzt draußen oder beim McDonald’s an der Ecke. Selbst Le Soleil, eine Mischung aus Pariser Brasserie und maurischem Café, hat geschlossen.1 Für die Letzten aus der alten Generation der kabylischen Einwanderer ist das fast, als habe man ihnen ein Heiligtum genommen.
Die meisten Kabylen in Frankreich leben in Paris und der Region Île-de-France, im Norden oder in der Region um Lyon oder in Marseille. Abdallah B.2 stammt aus Beni Ourtilane in der Kleinen Kabylei und arbeitet in einem Kleiderladen am Boulevard de Ménilmontant. Er macht sich Sorgen: „Viele der Alten leben unter sehr prekären Bedingungen in Heimen oder Notunterkünften. Sie haben schon viele Krisen mitgemacht, sie haben sehr viel Geduld, aber die Pandemie ist sehr belastend für sie.“ Er zeigt auf einen alten, gebeugten Mann mit abwesendem Blick, dem die Maske schief im Gesicht hängt: „Er lebt seit 60 Jahren in Frankreich, und seit dem Ende des Algerienkriegs war er jedes Jahr in der Kabylei. 2020 mussten er und alle anderen wegen Corona in Frankreich bleiben. Für ihn wäre es das Schlimmste, hier zu sterben und nicht in der Heimat begraben zu werden.“
Seit März 2020 sind die Grenzen Algeriens für alle geschlossen, auch für im Ausland lebende Staatsbürger. Es gibt nur wenige organisierte Flüge dorthin, und die Chibanis kämpfen unter Mühen um einen Platz in einem Flugzeug. Täglich bilden sich Schlangen vor dem Konsulat nahe der Place de la Nation.
Diese Situation empört die jungen Aktivisten des „Hirak“, der jüngsten algerischen Protestbewegung.3 Wir treffen sie vor einem Café in der Rue de Ménilmontant, das Speisen zum Mitnehmen verkauft. Meziane Abane, 37, früher Journalist bei der französischsprachigen Tageszeitung El Watan, musste Algerien im Juni 2019 überstürzt verlassen, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Seit seiner Ankunft in Frankreich engagiert er sich in der kabylischen Gemeinschaft. „Für die Einwanderer hier ist Hirak nicht nur eine Bewegung der Jugend“, erklärt er. „Auch alte Kabylen sind dabei. Sie sind mit dem politischen Kampf vertraut und kommen regelmäßig zu den Kundgebungen auf der Place de la République.“
Bei diesen sonntäglichen Versammlungen fällt die große Zahl von Kabylen sofort auf. Wie ihre arabischsprachigen Landsleute fordern sie Demokratie für Algerien, aber auch die Anerkennung ihrer Berberidentität. Einige rufen sogar nach Autonomie oder Unabhängigkeit für die Kabylei, ohne sich um die vorwurfsvollen Blicke zu scheren.
Die Brasserie als Gemeindezentrum
In Frankreich leben etwa 2,5 Millionen Menschen mit algerischen Wurzeln, rund 1,7 Millionen davon wurden in Frankreich geboren. 750 000 von ihnen besitzen nur einen algerischen Pass, die anderen sind Franzosen oder haben beide Staatsangehörigkeiten. Der Soziologe Mohand Khellil schätzte bereits 1994, dass ungefähr die Hälfte der algerischen Einwanderer in Frankreich Kabylen waren, obwohl sie in Algerien nur knapp 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen.4
Dass der Anteil unter den Migranten so groß war, hat historische Gründe. Unter Scheich Mohammed El-Mokrani kam es 1871 zu einem Kabylenaufstand, der blutig niedergeschlagen wurde. „Die Repression ging mit der Beschlagnahmung von hunderttausenden Hektar Land durch die Kolonialbehörden einher“, erklärt der Historiker Benjamin Stora. Unter den Aufständischen, die den Massenexekutionen entgingen, wurden einige nach Neukaledonien in der Südsee deportiert, wo ihre Nachfahren bis heute leben. Für die anderen hieß Überleben Exil.
Der Soziologe Abdelkader Belkhodja leitete früher das Nationale Amt für Arbeitskräfte in Algerien (Onamo), das zwischen 1963 und 1973 die Anwerbung und den Transport von Arbeitern nach Frankreich organisierte. In seiner Doktorarbeit über die algerische Auswanderung beschreibt er, wie sich die Kabylen zunächst in ganz Algerien verteilten, „als Landarbeiter, fliegende Händler und später als Ladeninhaber in den Städten“.5 1905 lockte der wirtschaftliche Aufschwung der Belle Époque die ersten algerischen Arbeiter nach Frankreich, die meisten stammten aus der Großen Kabylei. Danach waren es vor allem aus dem Dienst entlassene Soldaten kabylischer Herkunft, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Frankreich blieben.
Hocine C., 84, ist kurz nach der Unabhängigkeit Algeriens im Juli 1962 aus seinem Dorf direkt nach Ménilmontant gekommen. Wenn man ihn fragt, warum die Kabylen die größte Gruppe der algerischen Einwanderer in Frankreich ausmachen, muss er nicht lange überlegen: „Ich komme aus den Bibans-Bergen. Dort wirft die Erde nichts ab. Es gibt keine Arbeit. Wir sind ärmer als die Armen. Wir hatten keine Wahl.“ Obwohl es inzwischen andere Ziele gibt (Kanada, Deutschland, Großbritannien, die Benelux- und die Golfstaaten), kommen die meisten kabylischen Migranten bis heute nach Frankreich, zum Studieren oder zum Arbeiten.
Im Mai 2016 entbrannte in Algerien eine scharfe Polemik, nachdem die dortige Presse berichtet hatte, der französische Botschafter habe bei einem privaten Empfang in der kabylischen Stadt Tizi-Ouzou erklärt, 60 Prozent der Visa, die sein Konsulat ausstelle, gingen an Bewohner der Kabylei und 50 Prozent der algerischen Studenten in Frankreich kämen aus dieser Region.6 Das reichte aus, um Paris Günstlingswirtschaft und eine „Kabylenquote“ vorzuwerfen. Die französische Regierung musste die Äußerungen dementieren.
Fragt man kabylische Einwanderer nach ihrer Beziehung zum Gastland, stellt man fest, dass sie sich häufig nach genau den wesentlichen Zügen definieren, die ihnen zugeschrieben werden: Ganze frühere Dorfgemeinschaften bleiben zusammen und lassen sich – je nach Arbeitsmöglichkeiten – möglichst in einem Viertel nieder. In der Region Île-de-France und in Paris, wie auch in Lille, Roubaix, Marseille oder Lyon lebten viele kabylische Arbeiter in den Industrie- und Arbeitervierteln zusammen.
Eine weitere Besonderheit der Kabylen scheint es zu sein, dass sie sich oft als Eigentümer von Cafés, Restaurants oder Hotels etablieren. Abdelkrim Bouseksou, ein Informatikingenieur und Ökonom, der Anfang der 1980er Jahre nach Frankreich kam, um sein Studium zu beenden, bestätigt diese Vermutung: Ihm gehören heute mehrere Cafés, darunter La Cantine in der Rue des Maronites im 20. Arrondissement. Er versichert uns, bis zum Ende des letzten Jahrhunderts seien mehr als 50 Prozent der Bars der Île-de-France von Kabylen geführt worden.
Sie wechselten zwar den Besitzer, blieben aber in der Gemeinschaft. „Seit 1941 hat La Cantine immer einem Kabylen gehört“, erzählt Bouseksou. „Mein Onkel hat es zwischen 1950 und 1954 geführt, 2003 haben wir es zurückgekauft. So ist das immer gelaufen. Ein Kabyle verkauft lieber an einen anderen Kabylen.“
Für diese Neigung zu Berufen im Gastgewerbe und der Hotellerie gibt es eine historische Erklärung. Anfangs eröffneten die Kabylen kleine Cafés sozusagen als Erweiterung des Dorfs, als Gemeindezentrum zur gegenseitigen Unterstützung. Während des Algerienkriegs wurden diese Orte dann auch von der Unabhängigkeitsbewegung genutzt; für Spendensammlungen, Unterstützertreffen und sogar für Verhöre von Personen, die man beschuldigte, die gemeinsame Sache verraten zu haben.
Ende der 1950er Jahre überließen die Auvergnats (Zugewanderte aus der Auvergne), denen bisher die meisten Pariser Bars und Café-Restaurant-Hotels gehört hatten, einige Lokale im Osten der Stadt den Kabylen. Nach der Unabhängigkeit 1962 profitierten die Algerier dann von einem Paragrafen in den Verträgen von Évian, der ihnen als einzigen Ausländern erlaubte, Lokale mit Alkoholausschank zu führen. Deshalb wurden viele Pariser Bistros und Cafés in den 1960er und 1970er Jahren von Kabylen übernommen.
Der Historiker Mohamed Harbi erinnert daran, dass die Inhaber anfangs als Elite der algerischen Einwanderer galten. „Die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse war wie ein Fluch, den man so schnell wie möglich abschütteln wollte.“ Auch heute noch gilt das Gastgewerbe als gute Alternative, selbst für Leute, die ein Studium absolviert haben.
Amine, 33, der Sohn von Abdelkrim Bouseksou, hat einen Masterabschluss in Wirtschaft und Immobilienrecht gemacht, aber dann ist er der Familientradition gefolgt und hat ein Café gekauft. „Ich bin im Tenon-Krankenhaus im 20. Arrondissement geboren und in Les Lilas und Romainville aufgewachsen. Ich habe die Bistros immer geliebt. Für zwischenmenschliche Beziehungen sind sie ein außergewöhnlicher Ort. Ich trage die Berberkultur und die Pariser Kultur in mir. Und auch die Bistrokultur wird vererbt, mein Bruder ist nach dem Studium auch dahin zurückgekehrt.“
Ein anderer häufiger Beruf für die Kabylen in Paris ist der des Taxifahrers. Auch für die junge, gebildetere Generation. „Als Taxieur habe ich mein Studium finanziert“, sagt Bouseksou. Auch hier funktioniert die Solidarität innerhalb der Gemeinschaft. Wenn ein junger Mann Taxi fahren will, findet er jederzeit einen „Cousin“, der ihm seine Lizenz vermietet oder sogar überlässt. Die Leute aus dem Tamurt (dem Land) legen zusammen, um bei der Finanzierung zu helfen.
Viele unserer Gesprächspartner sagen, dass die Franzosen offenbar nicht imstande seien, zwischen Kabylen und Arabern zu unterscheiden. „Wenn ich sage, ich bin Algerier, antwortet man mir: ‚Also bist du Araber?‘ Ich bin stolz, Algerier zu sein, aber ich bin kein Araber“, betont Mancer M., Philosophiestudent aus Bouira. Karima Dirèche, Autorin eines Buchs über die Geschichte der kabylischen Einwanderung im 20. Jahrhundert7 , spricht von einem „gewaltigen soziologischen Missverständnis“, weil man in Frankreich auch auf offizieller Ebene die Kabylen den Arabern zuordne.
„Als in den 1980er und 1990er Jahren das staatliche Bildungswesen Einwandererkindern anbot, ihre Muttersprache als Unterrichtsfach zu belegen, dachte man nur an Arabisch, obwohl man mit vielen Kindern zu tun hatte, die nur Berbersprachen kannten und in einem ausschließlich berbersprachlichen Umfeld lebten“, erklärt Dirèche. 2020 erlag auch Präsident Macron in der Debatte über den Kampf gegen den „Separatismus“ diesem Missverständnis, als er den Unterricht der arabischen Sprache als punktuelle Lösung anpries, ohne die Berbersprachen zu erwähnen. Eine Untersuchung des Beirats für die Förderung regionaler Sprachen und linguistischer Vielfalt im Inland ergab, dass 1999 etwa 1,5 bis 2 Millionen Menschen in Frankreich lebten, die Kabylisch, Schlöh, Tarifit oder Chaoui sprachen.
Die ersten Einwanderer konnten mit ihrer Muttersprache in dem unbekannten Umfeld überleben. Bouseksou erinnert sich: „Die Neuankömmlinge waren meistens Analphabeten. Sie wurden von der Gemeinschaft in Empfang genommen, untergebracht und versorgt. Man gab ihnen Geld, erklärte ihnen, wie man sich in Paris bewegt. Man begleitete sie zur Arbeit, bis sie den Weg kannten. Sie lernten kein Französisch, weil sie weiter in ihrer Gemeinschaft, in gewisser Weise also in ihrem Dorf lebten.“
Die Gruppe der Arbeitsmigranten, zu der die Alten auf den Bänken in Ménilmontant gehören, wird immer kleiner. Der Ethno-Psychotherapeut Hamid Salmi sieht an ihrer Stelle eine junge Generation gebildeter Kabylen, Unternehmerinnen, Beamte, Abgeordnete, Lehrerinnen, Sozialarbeiter. „Diese neue Gemeinschaft besteht aus den Kindern der dritten Generation und politischen oder kulturellen Exilanten und Studierenden, die jedes Jahr aus der Kabylei und anderen Regionen Algeriens nach Frankreich kommen.“
Die Neuankömmlinge sprechen natürlich ihre Muttersprache. Bei denen, die in Frankreich geboren sind, ist das nicht mehr selbstverständlich. Nadia T. arbeitet in der Schulbetreuung. Sie ist als Baby nach Frankreich gekommen. „Ich bin in der Normandie aufgewachsen, und wir waren die einzige kabylische Familie. Ich wurde von meiner Mutter und meinem älteren Bruder erzogen. Seinetwegen spreche ich heute noch Kabylisch. Sobald mein anderer Bruder und ich zu Hause Französisch sprachen, rief er: ‚Achou?‘ (Was?) und zwang uns, Kabylisch zu reden.“
In den Familien sprechen die Eltern oft Kabylisch und die Kinder antworten auf Französisch. „Ich verstehe es, aber ich spreche es viel schlechter als meine Eltern“, bestätigt die Ärztin Rachida Dabi. „Früher war ich im Sommer immer in Algerien, da konnte ich es etwas auffrischen, zumindest für eine Weile.“ Ähnliches erzählt der Journalist und Autor Nadir Dendoune: „Meine Eltern wollten, dass ich ein Franzose wie alle anderen bin, deswegen haben sie nur ihr verbeultes Französisch mit mir gesprochen. Ich verstehe Kabylisch halbwegs, aber ich spreche es nicht gut. Jedes Jahr nehme ich mir vor, Unterricht zu nehmen …“ In Paris und Umgebung bieten Vereine Sprachunterricht an, aber Rachida Dabi wünscht sich, dass auch der Staat entsprechende Angebote macht.
Bier, Rotwein und Halal-Fleisch
Über die kabylischen Einwanderer in Frankreich ist eine weitere Vorstellung verbreitet: Sie würden sich besser integrieren als ihre Landsleute aus den arabischsprachigen Gebieten Algeriens. Kabylen gelten als offener für Modernität und sogar Laizismus, weil in ihren traditionellen Dorfgesellschaften die Führung der Gemeinschaft – durch die Ältesten – und die religiösen Fragen – in der Zuständigkeit der Moschee – voneinander getrennt sind.
Diese Vorstellung ist ein Relikt des „kabylischen Mythos“, der einst von Militärstrategen und Vordenkern der Kolonisierung gepflegt wurde. Die ersten anthropologischen Studien vom Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem die Arbeiten des Arztes und Anthropologen Paul Topinard, unterschieden zwischen Arabern und Kabylen und sprachen Letzteren Eigenschaften zu, die sie als mögliche Verbündete Frankreichs und der Kolonisierung geeignet erscheinen ließen. (Dabei standen die Kabylen, wie auch die Chouias, eine andere Berbergemeinschaft, später an der Spitze des Unabhängigkeitskampfs.) Die heutige Vorstellung hat sicher auch viel mit der scheinbar einfacheren Integration von Gemeinschaften zu tun, die „hart im Nehmen“ sind und deren religiöse Praktiken weniger sichtbar sind.
Der Sprachwissenschaftler Hacène Hireche, ein engagierter Verteidiger der Berberidentität, lebt seit Ende der 1970er Jahre in Frankreich. Für ihn kommt diese Wahrnehmung vor allem daher, dass die Kabylen „die berberische Identität durch eine Betonung der Gemeinschaft hervorheben“, um sich von den Etiketten „arabisch“ oder „muslimisch“ zu distanzieren. Es gehe um die Betonung einer eigenen Kultur, deren Wurzeln älter sind als der Islam. Dazu gehöre auch die Berufung auf historische Gestalten wie Augustinus, König Jughurta und der Berberkönigin Kahina sowie auf heutige Persönlichkeiten wie den Fußballer Zinedine Zidane oder die Sänger Mouloudji und Idir.
Die kabylischen Gemeinschaften in Frankreich und vor allem in Paris und der Banlieue erscheinen tatsächlich toleranter, vor allem was ihrem Umgang mit islamischen Verboten angeht. „In unseren Cafés ist es kein Frevel, wenn ein Arbeiter sein Bier oder seinen Rotwein trinkt“, sagt Bouseksou. „Damit ein kabylischer Arbeiter in ein Café oder Restaurant geht, muss es zwei eigentlich unvereinbare Bedingungen erfüllen: Das Fleisch muss halal sein und er muss in Ruhe seinen Rotwein trinken können.“
Hocine C. reagiert verärgert auf die Frage, ob man in Frankreich als Kabyle Vorteile gegenüber den Arabern hat. „Ich bin am 13. Oktober 1963 in Ménilmontant angekommen. Kabylen oder nicht, die Franzosen haben uns verachtet. Sie ignorierten uns. Wir existierten nicht. Wir waren ungebildet. Wir konnten kein Französisch. Für sie waren wir alle Araber, ohne Unterschied.“ Rachida Dabi hingegen meint: „Es ist nicht dasselbe, ob ich sage, dass ich aus Algerien komme oder dass ich Kabylin bin. Im zweiten Fall ist die Reaktion freundlicher.“ Sie stelle sich selbst als jemand „mit algerischer und kabylischer Herkunft“ vor.
Unsere Gesprächspartner erzählen auch vom Zerfall ihrer Gemeinschaft, und dass es schwierig sei, sich langfristig zu organisieren. Chérif Benbouriche, Mitbegründer und Leiter der Association de culture berbère (ACB), erwähnt, dass es den Kabylen, obwohl sie seit mehr als einem Jahrhundert in Frankreich leben, niemals gelungen ist, Yennayer, das berberische Neujahr am 12. Januar, als sichtbares Ereignis in der französischen Gesellschaft zu etablieren. Seine Erklärung ist, dass man unfähig sei, sich über Dorf- und Familienbande hinaus zu organisieren.
Mahieddine Ouferhat leitete früher die Sektion Einwanderung der algerischen Partei Front des Forces Socialistes (FFS) und ist heute Direktor einer Bildungseinrichtung in Saint-Denis, wo eine der größten Kabylengemeinschaften Frankreichs lebt. Er meint, es gebe eher „ein Gemeinschaftsgefühl der Kabylen als eine organisierte Gemeinde mit anerkannten Führern, Versammlungsorten und regelmäßigen Treffen“. Diese Meinung teilt auch der Journalist Mohand Bakir, der sich in Paris für den Hirak engagiert. Für ihn beruhen die kabylischen Gemeinschaften vor allem auf Verwandtschaft und der geografischen Herkunft. Sie hätten sich in Frankreich nie „zu einer breiteren, politischen, die Identität fördernden Bewegung entwickelt“.
„Immer mehr Mitglieder unserer Gemeinschaft sind in die französische Gesellschaft integriert, ihre Bindung an das Herkunftsland löst sich“, sagt Bakir. Auch was eine potenziell einigende Wirkung des Hirak angeht, ist er skeptisch. „Die Kabylen sind sehr aktiv, aber ihre Beteiligung ist individuell und unabhängig von der traditionellen Zugehörigkeit. Das Dorf und der Stammesverband auf der einen Seite und der staatliche Raum Algeriens oder der öffentliche Raum in Frankreich auf der anderen werden als Paralleluniversen wahrgenommen.“ Für Bakir ist es eine Schwäche des Hirak, dass er die große Mehrheit der Diaspora nicht erreicht, weil sie sich nicht angesprochen fühle.
Aktuell stehen die Kabylen in Frankreich vor einer neuen Herausforderung. Seit der blutigen Unterdrückung des „Schwarzen Frühlings“ 20018 hat der Rückzug der traditionellen algerischen Oppositionsparteien wie des Rassemblement pour la culture et la démocratie (RCD) oder des FFS eine kabylisch-nationalistische Bewegung erstarken lassen: das Mouvement pour l’autodetermination de la Kabylie (MAK). Die 2001 vom Sänger und Politiker Ferhat Mehenni gegründete Bewegung fordert seit 2013 die Unabhängigkeit der Region. Es ist schwer, ihre Wirkung und ihren Einfluss unter den Eingewanderten und ihren Kindern abzuschätzen, aber ihre Sichtbarkeit wächst.
Der Berber-Aktivist Hend Sadi, der seit Anfang der 1970er Jahre in Frankreich lebt, meint, dass viele Kabylen die arabisch-islamische Ideologie ablehnten, die von der total diskreditierten algerischen Regierung weiter vertreten wird. „Dadurch sinken die Hemmschwellen, und viele haben keine Angst mehr, die Unabhängigkeit der Kabylei zu verlangen. Noch vor wenigen Jahren wäre eine solche Forderung am Imperativ der ‚nationalen Einheit‘ zerbrochen.“
2 Einige der erwähnten Personen wollten anonym bleiben.
3 Siehe Arezki Metref, „Sie sind viele, und sie sind laut“, LMd, Dezember 2019.
5 Abdelkader Belkhodja, „L’émigration algérienne et ses problèmes“, Université Paris I, 1975.
6 „Le ‚quota kabyle‘ de Bernard Émié“, Le Jeune Indépendant, 13. Mai 2016.
7 „Histoire de l’émigration kabyle en France au XXe siècle“, Paris (L’Harmattan) 1997.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Arezki Metref ist Journalist sowie Autor des Romans „Rue de la nuit“, Algier (Koukou) 2019.
Organisiert im Exil
von Arezki Metref
Schon in den 1920er Jahren bildeten kabylische Einwanderer die Basis der ersten großen Partei, die für die Unabhängigkeit Algeriens eintrat: die ENA (Étoile nord-africaine, Nordafrikanischer Stern), gegründet in Frankreich. 1937 folgte die PPA (Parti du peuple algérien, Partei des algerischen Volks), die 1946 aufgelöst wurde, und als ihr Nachfolger die MTLD (Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques, Bewegung für den Triumph der demokratischen Freiheiten). Die kabylischen Migranten unterstützten also einen antikolonialen, zentralistischen Nationalismus in Algerien, obwohl dieser die kabylische Minderheit unterdrückte.
Nach der Wahl des Kabylen Rachid Ali Yahia zum Vorsitzenden der Föderation PPA-MTLD in Frankreich (1949) fanden die Forderungen der eingewanderten Nationalisten kabylischer Herkunft mehr Beachtung. Innerhalb der FLN (Front de libération nationale, Nationale Befreiungsfront), die ab November 1954 versuchte, Algerien mit Waffengewalt zu befreien, trat der Anspruch der Berber vor dem Hauptziel der Unabhängigkeit wieder in den Hintergrund. Während des Algerienkriegs wurde die kabylische Gemeinschaft in Frankreich von den Rivalitäten zwischen der FLN und der MNA (Mouvement national algérien, Nationale Bewegung Algeriens) zerrissen.
Nach der Unabhängigkeit versuchte die algerische Regierung, politische Kontrolle über die Einwanderer in Frankreich auszuüben, vor allem durch die Organisation Amicale des Algériens en Europe (Freunde der Algerier in Europa). Die kabylischen Einwanderer spielten dennoch eine wichtige Rolle in algerischen Oppositionsparteien wie der FFS (Front des forces socialistes, Front der sozialistischen Kräfte) und der PRS (Parti de la révolution socialiste, Partei der sozialistischen Revolution).
1967 wurde in Opposition zum Einfluss der Organisation Amicale des Algériens en Europe in Paris die Académie berbère gegründet, die sich für die Anerkennung der Berberidentität und der Berbersprachen in Algerien, aber auch in Marokko und Libyen einsetzte. 1978 gab Frankreich dem Druck der algerischen Regierung nach und verbot die Académie berbère. Ihr wichtigster Vertreter, Mohand-Arab Bessaoud, ein ehemaliger Offizier der Befreiungsarmee, des bewaffneten Arms der FLN, wurde verhaftet und nach Großbritannien ausgewiesen. Andere Strukturen, die nach der Académie berbère entstanden, wie die Genossenschaft Imedyazen, Radio Tiwizi und die Groupe d’études berbères an der Universität Paris VIII, setzten ihre Arbeit fort.
1980 protestierten die kabylischen Gemeinschaften in Frankreich gegen die Unterdrückung der Demonstrationen des „Berberfrühlings“, einer Bewegung, die in der Kabylei als Reaktion auf ein Auftrittsverbot des Schriftstellers Mouloud Mammeri entstanden war. Obwohl Algerien den Protestierenden Ethnisierung, Separatismus und Verbindung zum Ausland vorwarf, entwickelten Tausende junger Kabylen in Frankreich ein Bewusstsein ihrer kulturellen Identität. Eine ähnliche Mobilisierung gab es 1988, 2001 und 2019, da Frankreich sehr schnell von den Schockwellen der Aufstände in Algerien erfasst wurde.⇥A. M.
Kabylen, Berber, Algerier
von Arezki Metref
Die Bezeichnungen Algerier, Araber, Berber und Kabylen werden in Europa häufig falsch verwendet. Algerier sind Staatsangehörige des seit 1962 unabhängigen Staats Algerien, egal welcher ethnolinguistischen Gruppe sie angehören. Die Kabylen stammen aus der Kabylei, einer Berggegend östlich von Algier, und sind keine Araber, sondern Berber. Berber sind ein altes, in Nordafrika ansässiges Volk, dessen Existenz spätestens seit Herodot (5. Jahrhundert v. Chr.) bezeugt ist. Das Berberische (Oberbegriff mehrerer eng verwandter Sprachen) wird seit mehr als 2000 Jahren gesprochen. Berber leben auf den Territorien von Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Mali, Burkina Faso und Niger. Das Kabylische ist mit 5 bis 6 Millionen Sprechern nach dem Taschelhit (8 Millionen Sprecher) die zweithäufigste Berbersprache. In Algerien sprechen 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung eine Berbersprache, trotz einer seit der Unabhängigkeit massiv betriebenen Arabisierungspolitik. Dazu gehören die Kabylen, aber auch die Tuareg, die Chaouia im Aurès-Gebirge, die Mzabiten in der Region Mzab, und die Chenoui am Berg Chenoua. In Algerien, wo die Zugehörigkeit zur arabischen Welt bis heute ein politisches Dogma darstellt, spielte die Kabylei stets eine wichtige Rolle beim Kampf für die Forderungen der Berber; besonders für die Anerkennung der Tatsache, dass die algerische Identität nicht ausschließlich arabisch ist. In Algerien ist das Berberische seit 2002 „Nationalsprache“ und seit 2016 „Amtssprache“, steht aber immer noch unter dem Arabischen, das als „offizielle Sprache des Staats“ Vorrang hat.A. M.