Neom, Masdar, Saadiyat
Fragwürdige urbane Utopien auf der Arabischen Halbinsel
von Akram Belkaïd
Seit 30 Jahren befindet sich die Arabische Halbinsel in einem Immobilienrausch, der offenbar durch nichts zu bremsen ist. Weder die Finanzkrise von 2008 noch die ständigen geopolitischen Spannungen zwischen den Ölmonarchien und ihrem Nachbarn Iran, der Krieg im Jemen oder die Auswirkungen der Coronapandemie konnten den Bauboom stoppen. Nicht nur dehnen sich die Städte immer weiter aus – das Phänomen ist besonders im Emirat Dubai zu beobachten1 –, es entstehen gerade auch etwa ein Dutzend neue Städte.2
Die bekannteste ist Neom, die im Nordwesten von Saudi-Arabien am Roten Meer an der Grenze zu Jordanien und der ägyptischen Sinai-Halbinsel geplant ist. Die zukünftige Megacity geht auf eine Initiative von Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS) zurück. Sie soll sich über 26 000 Quadratkilometer erstrecken – eine Fläche größer als Mecklenburg-Vorpommern – und zum Symbol der Modernisierung und wirtschaftlichen Diversifizierung des wahhabitischen Königreichs werden.
Ihr Name bedeutet „neue Zukunft“ und setzt sich zusammen aus dem griechischen Wort „neo“ und dem Buchstaben „m“, der für das arabische Wort „mustaqbal“ (Zukunft) steht. Allein die Häufigkeit, mit der der Name Neom in den offiziellen Verlautbarungen Riads auftaucht, zeigt den Stellenwert des Projekts. Keine Rede von MBS, kein Bericht, keine Werbung für Saudi-Arabien in den westlichen Medien, ohne dass Neom erwähnt wird.
Bis 2030 sollen 500 Milliarden US-Dollar in die Megastadt investiert werden. Glaubt man den Verantwortlichen, wird Neom nicht nur wegen seiner avantgardistischen Technologie, sondern auch wegen seines Managements die Stadt des 21., ja sogar des 22. Jahrhunderts. Der Science-Fiction-Schriftsteller Jules Verne hätte seine Freude gehabt: In Neom soll so gut wie alles automatisiert sein: flächendeckend schnelles Internet, Roboter, die den Bewohnern ihre Wünsche erfüllen, Flugtaxis, Drohnen, die die Einkäufe nach Hause liefern, und autonome Autos, die ihre Insassen ohne Chauffeur von A nach B transportieren.
Die begrünten Wohnhäuser sind im Hinblick auf Umweltschutz und Nachhaltigkeit mit der modernsten Gebäude- und Energietechnik ausgestattet. Um in einer konfliktträchtigen Region eine Insel des Friedens zu schaffen und gleichzeitig die Unerwünschten, die der Reichtum der Stadt anziehen könnte, auszusperren, soll Neom mit einem Gesichtserkennungssystem gesichert werden. Riad verspricht, die Zukunftsstadt werde durch die Nutzung von erneuerbaren Energien (Sonnen-, Wind- und Gezeitenkraft) und ein integriertes Wasser- und Materialrecyclingsystem zu 100 Prozent ökologisch sein. Kurzum, Neom ist eine technologische Utopie, die es mit dem Silicon Valley aufnehmen und sowohl die jungen Start-ups als auch die großen Namen der globalen Tech-Branche ans Rote Meer locken soll.
Die Immobilienmakler machen lange Gesichter
Die saudische Regierung will bei der Verwaltung der Zukunftsstadt neue Wege gehen und ihr eine weitgehende administrative und steuerliche Autonomie gewähren. Neom soll durch ein privates, börsennotiertes Unternehmen gemanagt werden, dem die Finanzführung und Stadtentwicklung anvertraut wird. Dem Plan liegen die Ideen des neoliberalen US-Wirtschaftswissenschaftlers und ehemaligen Chefökonomen der Weltbank Paul Romer zugrunde.
In seiner „endogenen Wachstumstheorie“ beschreibt Romer autonome Städte als Wachstumsmotor, die nach eigenen, insbesondere die sozialen Fragen betreffenden Regeln agieren. Als Vorbilder für sogenannte Charter Cities3 dienen ihm Hongkong oder Singapur. Der Einfluss Romers zeigt ein weiteres Mal, wie offen die Ölmonarchien am Golf gegenüber neoliberalen Ideen sind, und seien sie auch noch so radikal.
Neom ist darüber hinaus auch ein Werkzeug der Diplomatie für das saudische Königshaus. Im November 2020 verbrachte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einen halben Tag auf dem Baugelände und traf sich mit Kronprinz MBS.4 Auf der Tagesordnung stand sowohl die Beteiligung israelischer Firmen an dem Mammutprojekt als auch eine gemeinsame Strategie zur Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern.5
Und dem ägyptischen Verbündeten schlugen die Saudis vor, mit einer riesigen Brücke über das Rote Meer ebenfalls bei Neom einzusteigen. Beide Seiten denken über den Aufbau einer Zulieferindustrie an der ägyptischen Ostküste und im Süden der Sinai-Halbinsel nach.
Die große Frage ist nur, ob Neom wirklich einmal das Licht der Welt erblicken wird. Saudi-Arabien ist davon zwar fest überzeugt, doch die jüngere Geschichte in der Region erweckt Zweifel. Vor zehn Jahren machte bereits Masdar City Schlagzeilen, ein Stadtprojekt etwas bescheideneren Ausmaßes im Emirat Abu Dhabi.6 Auch hier war Paul Romer Ideengeber, ebenso wie der US-Ökonom Jeremy Rifkin, der damals Wasserstoff als Energiequelle propagierte. Mit Masdar („Quelle“ auf Arabisch) wollte Abu Dhabi gegenüber seinem Rivalen Dubai aufholen, beide Mitglieder der Vereinigten Arabischen Emirate.
Wie das saudische Neom sollte auch Masdar technologisch das absolute Nonplusultra darstellen. Eine grüne Stadt mit 50 000 Einwohnern und null Abfall, in der sich Universitäten, Forschungslabore und Technologieunternehmen gegenseitig befruchten. Heute allerdings herrscht eher Ernüchterung.
Immerhin erheben sich schon die Anfänge der Zukunftsstadt aus dem steinigen Gelände, zudem konnte sich Abu Dhabi unter anderem dank dieses Projekts erfolgreich um den Sitz der Internationalen Organisation für erneuerbare Energien (Irena) bewerben. Doch viel mehr hat die neue Stadt nicht zu bieten.
Nur wenige große Unternehmen haben sich in Masdar niedergelassen. Studierende zieht es selten in die Stadt, und wer doch in Masdar seinen Abschluss gemacht hat, findet hier anschließend selten eine Arbeit. Die Immobilienmakler, die den neu entstandenen Wohnraum bei einer reichen Kundschaft aus der Golfregion, aber auch aus dem Westen vermarkten sollen, machen lange Gesichter. Beim Start des Projekts 2008 hieß es, bis 2016 würden 80 Prozent der Wohnfläche in der neuen Stadt verkauft sein. Mittlerweile peilen die Emiratis dieses Ziel für 2030 oder sogar erst 2040 an.
Dieselbe Enttäuschung zeigt sich bei anderen Projekten, die Anfang der 2010er Jahre großspurig angekündigt worden waren. Auf der künstlich vergrößerten Insel Saadiyat („Glück“) in Abu Dhabi wurde zwar manches fertiggestellt – etwa das vom französischen Architekten Jean Nouvel entworfene Museum Louvre Abu Dhabi. Doch mehrere Wohnhäuser harren mangels Käufern oder Finanzierungsmöglichkeiten der Vollendung. Im Sultanat Oman verlief das Vorzeigeprojekt Blue City im Sande, ebenso Pearl City in Bahrain.
„Viele dieser Projekte geraten durch Spekulation und den Wunsch nach kurzfristigen Gewinnen von Anfang an ins Schleudern“, erklärt ein in Dubai ansässiger französischer Architekt. „Dann schlägt das Realitätsprinzip zu. Das Angebot an Wohnraum ist dreimal größer als die Nachfrage. Um das auszugleichen, müsste man Käufer von außen gewinnen, vor allem aus Europa oder Asien. Das kann gar nicht funktionieren.“
Die vielen Bauprojekte am Golf, seien es neue Städte, Stadterweiterungen oder Urlaubsresorts, zeigen jedoch, dass die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft immer noch an den Erfolg glauben. Laut dem katarischen Wirtschaftsministerium sind 25 Prozent der weltweiten Baukranflotte derzeit auf der Arabischen Halbinsel im Einsatz. In Dubai, wo mehr als 200 Nationalitäten zusammenleben und nur etwa 15 Prozent der Bevölkerung eine emiratische Staatsangehörigkeit haben, gibt es Pläne für mindestens drei künstliche Inseln mit Wohntürmen, Golfplätzen, Vergnügungsparks und riesigen Malls, für die die Region inzwischen berühmt ist.
All dies hat seinen Preis: Die sechs Golfmonarchien sind die weltweit größten Umweltverschmutzer. Jeder Einwohner produziert durchschnittlich 45 Tonnen Treibhausgase im Jahr, das Ökosystem Meer droht durch die teils mit Chemikalien versetzten Rückstände aus den Entsalzungsanlagen zu kippen.
In der Gegend, in der Neom entstehen soll, erreichen die Temperaturen im Sommer bis zu 50 Grad Celsius. Auf die Frage, warum neue Städte in einer so heißen Region gebaut werden, haben die Verantwortlichen nur eine Antwort: „Technologie“. Sie soll auch die Probleme lösen, die durch die intensive Klimatisierung verursacht werden. In den großen Hotels werden ab Mai sogar die Schwimmbäder gekühlt. Auch wenn Fluorkohlenwasserstoffe (FKWs), anders als Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCWKs), die Ozonschicht nicht angreifen, so tragen sie doch erheblich zur Erwärmung des Klimas bei. Die Golfstaaten sind aber nicht bereit, die Nutzung von Klimaanlagen zu reduzieren.
1 Siehe Elisabeth Blum und Peter Neitzke, „Dubai ist keine Stadt“, LMd, August 2013.
5 Siehe Akram Belkaïd, „Neuer Beziehungsstatus“, LMd, Dezember 2020.
6 Siehe Akram Belkaïd, „Auf nach King Abdullah Economic City“, LMd, August 2008.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Zuerst erschienen: LMd Paris (Hg.), Manière de Voir, Nr. 175, 2021