11.02.2021

Schottland in der Warteschleife

zurück

Schottland in der Warteschleife

Wer verspricht sich was von der Unabhängigkeit

von Rory Scothorne

Rinko Kawauchi, ohne Titel, aus der Serie „UTATANE“, 2001
Audio: Artikel vorlesen lassen

Falls Covid-19 keine Verschiebung erzwingt, werden die schottischen Wählerinnen und Wähler bereits in fünf Monaten wieder die Hauptrolle im britischen Verfassungsdrama übernehmen. Das Drehbuch ist längst geschrieben: Trotz der Pandemie werden die Wahlen zum sechsten schottischen Par­lament1 wie nie zuvor im Zeichen der Unabhängigkeitsfrage stehen.

Die Scottish National Party (SNP) steuert auf ihren vierten fulminanten Wahlsieg in Folge zu. Nach den letzten Umfragen würde die Partei auf mehr als 55 Prozent kommen; und die Unabhängigkeit des Landes stand bei den 17 letzten Meinungsumfragen auf dem Wunschzettel der Bevölkerung ganz oben. Sollte die SNP wie 2011 die absolute Mehrheit gewinnen, wird sie darin ein klares Mandat für ein neues Unabhängigkeitsreferendum sehen. Aber selbst wenn die SNP keine eigene Mehrheit erringen sollte, würden wohl die schottischen Grünen, die zurzeit sechs Sitze innehaben und in den Umfragen gerade zulegen, die fehlenden Stimmen beisteuern, denn auch sie sind für die Unabhängigkeit.

Ein verbindliches Votum braucht allerdings die Zustimmung der britischen Regierung. Der unaufhaltsamen Dynamik der SNP steht also ein unverrückbares Hindernis im Weg: die Hoheit des Parlaments in Westminster. Der britische Premier Boris Johnson, dessen erdrutschartiger Wahlsieg bei den Unterhauswahlen 2019 den neuen Aufschwung der Unabhängigkeitsbestrebungen auslöste, hat bereits verkündet, dass mindestens 40 Jahre lang kein neues Referendum stattfinden sollte.

Damit sind die Fronten für den Kampf nach den schottischen Wahlen klar: Auf der einen Seite steht die SNP als Speerspitze der Bewegung, die eine Kampagne für ein zweites Referendum plant; mit von der Partie sind einige kleinere Parteien wie die schottischen Grünen und die schottischen Sozialisten, dazu Aktionsgruppen wie die linksgerichtete Radical Independence Campaign, die populistische Organisation All Under One Banner und die Graswurzelkoalition YesAlba.

Auch aus dem schottischen Kulturleben bekommt das Anliegen energische Unterstützung. Wobei das langjährige Engagement von Künstlern und Schriftstellerinnen dem Programm der regierenden SNP einen gewissen gegenkulturellen Glamour verschafft. Die Unabhängigkeitsbefürworter dominieren auch die sozialen und andere alternative Medien; dasselbe gilt für die Tageszeitung The National, die der US-Konzern NewsCorp nach dem ersten Referendum von 2014 gründete, um die wachsende Nachfrage nach unabhängigkeitsfreundlichen Nachrichten und Kommentaren zu bedienen.

Auf der anderen Seite stehen die britische Regierung und die etablierten, im ganzen Vereinigten Königreich agierenden Parteien. Sie alle sind zunehmend auf die Hard Power der britischen Staatshoheit angewiesen, um ihre bröckelnde politische Legitimität in Schottland zu kompensieren. Dabei konkurrieren Konservative, Labour und Liberaldemokraten um die schrumpfende Kohorte unionstreuer Wähler, denen sie versprechen, dass sie sich unabhängig vom Wahlausgang ­jegli­chem Bestreben nach einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum entgegenstellen werden.

Manche drängen auf ein wildes Referendum

Der Unionismus, der das United Kingdom erhalten will, verfügt in Schottland kaum über Basisorganisationen und auch über wenige Anhänger aus der Popkultur, sieht man von einzelnen Prominenten wie der Harry-Potter-Erfinderin J. K. Rowling ab. Obwohl die auch in Schottland rapide schrumpfenden Printmedien ganz überwiegend unionstreu sind, wird ihre Skepsis gegenüber der Unabhängigkeit allmählich von ihrem Unmut über den Brexit und Boris Johnson aufgewogen.

Und nachdem die BBC noch 2014 bei der Berichterstattung über das erste Referendum der Parteilichkeit zugunsten der Union bezichtigt wurde, sind heute Beschwerden der Unionisten über angebliche SNP-Freundlichkeit genauso häufig. Eine dieser Beschwerden galt der breiten Berichterstattung über Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon, deren Umgang mit der Coronakrise auf große Zustimmung stieß. Ihre Beliebtheit hat erheblichen Anteil an den anhaltend guten Umfragewerten der SNP. Und der Vergleich zwischen ihrem nüchternen Kommunikationsstil und dem englischen Hau-­drauf-Nationalismus von Boris Johnson hat die Unterstützung der Unabhängigkeit im Verlauf der Pandemie gefestigt und verstärkt.

Auf den ersten Blick scheint die politische Dynamik also in Richtung Unabhängigkeit zu gehen, was die „gradualistische“ Strategie rechtfertigen würde, die alle SNP-Vorsitzenden seit den 1990er Jahren verfolgt haben. Diese Strategie beinhaltete eine kalkulierte Abfolge einzelner Schritte innerhalb der britischen Institutionen.

Es begann 1997 mit der Durchsetzung eines schottischen Parlaments, gefolgt von der Nutzung der neuen dezentralen Strukturen, um der traditionell skeptischen und vorsichtigen schottischen Wählerschaft zu zeigen, dass Unabhängigkeit nicht Instabilität und Chaos bedeuten muss. Und dass ein unabhängiges Schottland bedeutet, dass man weder auf die beliebte Britishness noch internationale Bündnisstrukturen verzichten muss. So verspricht die SNP, dass ein unabhängiges Schottland am Pfund Sterling und der britischen Monarchie festhalten wird, als auch der EU wieder beitreten will und nach wie vor der Nato angehören wird.

Der gradualistische Ansatz beruhte stets auf der Annahme, der stetige Zugewinn an Wählerlegitimität werde die Regierung in Westminster am Ende zwingen, den Forderungen der SNP nachzugeben. Die Strategie wurde 2014 zumindest teilweise bestätigt, als die britische Regierung unter David Cameron einem verbindlichen Unabhängigkeitsreferendum zustimmte

Doch heute, da eine Mehrheit für die Unabhängigkeit viel wahrschein­licher ist als 2014, ist die Regierung in London für die Idee eines schottischen Volksentscheids weit weniger empfänglich. Damit wird zwar der alte schot­tischen Vorwurf bestärkt, man werde innerhalb der Union marginalisiert und missachtet, aber zugleich ergeben sich damit für den Gradualismus – innerhalb wie außerhalb der SNP – neue und potenziell destabilisierende Gefahren.

In der SNP rebellieren gewählte Vertreter und Aktivisten inzwischen offen gegen die berühmt-berüchtigte Parteidisziplin. Der prominenteste Rebell ist Kenny MacAskill, einer von 48 SNP-Abgeordneten in Westminster und Ex-Justizminister der Regionalregierung, der Anfang Januar seine verbalen Attacken gegen Sturgeons „stalinistischen“ Führungsstil fortsetzte.2 Kern seiner Kritik war die mangelnde Bereitschaft der Parteispitze, eine ernsthafte Diskussion über einen alternativen Weg zur Unabhängigkeit zuzulassen. Über den Inhalt des sogenannten Plan B gibt es allerdings unterschiedliche Vorstellungen, die von juristischen Schritten gegen die britische Regierung bis zu einem wilden Referendum oder einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung reichen.

Die Forderung nach einer offeneren Debatte eint Dissidenten verschiedenster Couleur gegen Sturgeon. Dabei wird ihr selbst wohl bewusst sein, dass eine öffentliche Debatte über eine radikalere Strategie zum jetzigen Zeitpunkt, also noch vor der Erneuerung des Wählerauftrags, den mühsam erworbenen Ruf der SNP als einer soliden Regierungspartei, die keine Risiken eingeht, gefährden könnte. Denn der aktuelle Aufschwung der Partei verdankt sich weitgehend dem Eindruck, dass der anglo­bri­tische Nationalismus deutlich mehr politische Instabilität produziert als sein schottisches Pendant.

Jenseits dieser parteiinternen Differenzen gibt es noch weitere Konflikte. Dass die schottische Regierung ein Gesetz durchbringen will, um trans Per­so­nen die geschlechtliche Selbstbestimmung zu erleichtern, führte zu wütenden Reaktionen von religiösen Fundamentalisten, transfeindlichen Organisationen und rechten Journalisten, die im Verein mit einigen selbsternannten Feministinnen behaupten, die „geschlechtsspezifischen“ Rechte von Frauen zu verteidigen.

Die innerparteiliche Opposition gegen diese Reform – die derzeit auf Eis liegt – artikuliert sich in einer Sprache, die wir von Rechtsextremisten kennen, wenn sie die Political Correctness der Linken kritisieren. Angeführt wird diese Koalition der Abweichler von den beiden Londoner Abgeordneten Kenny MacAskill und Joanna Cherry, die enge Verbindungen zu Nicola Sturgeons Vorgänger Alex Salmond unterhalten. Der war 2018 aus der SNP ausgetreten und hatte Sturgeon beschuldigt, sie stecke hinter den Ermittlungen wegen versuchter Vergewaltigung und sexueller Nötigung, von denen er später freigesprochen wurde.

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum Umgang der schottischen Regierung mit diesen Vorwürfen hat das Zerwürfnis zwischen den beiden Lagern derart vertieft, dass sich die parteiinternen Probleme zu einem öffentlichen Desaster auswachsen könnten.

Früher standen sich Sturgeon und Salmond recht nahe; die gradualistische Strategie der SNP haben sie sogar gemeinsam entwickelt. Die Zerrüttung ihrer Beziehung steht im Kontext einer allgemeineren Krise der Unabhängigkeitsbewegung, die nicht trotz, sondern wegen ihres beispiellosen Erfolgs entstanden ist. Die graduelle Strategie ist sinnvoll, um die Wählerschaft für die Unabhängigkeit zu mobilisieren; aber sie hat eine Achillesverse: Die Unabhängigkeit bedarf formeller Legitimation und ohne die Zustimmung des Vereinigten Königreichs zu einem verfassungsrechtlich wasserdichten Referendum kann der schottische Wählerwille nicht umgesetzt werden.

Außerdem bedeutet ein „gradualistisches“, auf Legitimität setzendes Vorgehen schlicht, dass man auf die Genehmigung aus London warten muss. Eine alternative Strategie, etwa die Idee einiger militanter Nationalisten, man müsse Schottland „unregierbar“ machen, um die britische Regierung zum Einlenken zu zwingen, erscheint lächerlich angesichts der Tatsache, dass viele Kompetenzen bereits beim schottischen Regionalparlament liegen – und das ist fest in der Hand der SNP. Doch wenn das Warten auf die Genehmigung des Referendums die einzige Option ist, wird es immer schwerer, die innerparteiliche Ungeduld zu kanalisieren.

Für die gegenwärtige SNP-Führung und die Partei insgesamt wäre das optimale Ergebnis natürlich ein überwältigender Sieg bei den schottischen Parlamentswahlen. Das könnte die Regierung des Vereinigten Königreichs doch noch dazu bringen, ein Referendum zuzulassen, dessen Ausgang tatsächlich ungewiss ist. Einige prominente Konservative befürchten, die Verweigerung einer Volksabstimmung könnte der Unabhängigkeitsbewegung weiteren irreversiblen Zulauf verschaffen.

Doch die immer heftigeren Auseinandersetzungen innerhalb der SNP helfen den Kräften in Westminister, die auf Unnachgiebigkeit setzen. Die kalkulieren, dass sich die SNP angesichts dieser rechtlichen Blockade eher selbst zerfleischt, als einen verfassungswidrigen Aufstand anzuzetteln, der ohnehin zum Scheitern verurteilt ist. Damit erhoffen sich diese Unionisten eine Rückkehr zum alten Schottland vor der SNP-Ära.

Noch stärkeres Interesse an einer solchen Entwicklung hat die Labour-Partei, die früher die schottische Politik dominierte. Während die Konservativen bei Unterhauswahlen allein mit in England errungenen Sitzen auf eine komfortable Regierungsmehrheit kommen, gilt das für Labour nicht. Schottlands 59 Sitze in Westminster – von denen seit 1983 nie mehr als 13 an die Konservativen gingen – bilden seit Jahrzehnten ein solides antikonservatives Bollwerk. Auch ohne einige der 48 SNP-Sitze zurückzuerobern, könnte Labour theoretisch eine Minderheitsregierung in Westminster bilden, weil sie auf die Unterstützung der SNP für ihre wichtigsten Ziele zählen könnte.

Falls die nächsten Unterhauswahlen eine solche Konstellation ermöglichen sollten, würde die SNP allerdings als Preis für die Unterstützung einer Labour-Minderheitsregierung wohl ein zweites Unabhängigkeitsreferendum fordern. Und sollten dann die Sezessionisten dieses Referendum, das man ihnen jahrelang vorenthalten hat, für sich entschieden, könnte dies die Regierung in London zu Fall bringen.

Das würde aber auch bedeuten, dass der politische Preis, den die Konservativen durch ihre Verzögerung des Referendums bezahlen mussten, durch einen massiven Vorteil aufgewogen wird. Wenn Labour nämlich Schottland nicht zurückerobert, beinhalten die Bedingungen, die eine Labour-Regierung ermöglichen würden, bereits den Keim ihres Untergangs. Labour hat also nur eine Zukunft, wenn der Widerstand der Konservativen gegen ein neues Referendum der SNP mehr schadet als der Union, die sich Vereinigtes Königreich nennt.

Die politische Krise dieser Union wird aller Voraussicht nach so verlaufen, dass wenig Hoffnung auf eine Lösung ihrer strukturellen Probleme besteht. Selbst wenn sich die Labour-Partei stabilisieren kann – mit oder ohne SNP –, wird sie die zutiefst ungerechte britische Wirtschaft nicht wirklich transformieren. Ihre proklamierte „neue Führung“ unter Keir Starmer, der seinen Vorgänger Jeremy Corbyn aus der Unterhausfraktion ausgeschlossen hat, hat das ehrgeizige linke Wirtschaftsprogramm bereits durch ein Bekenntnis zur „fiskalpolitischen Verantwortung“ ersetzt und will den Unmut in den nichtenglischen Landesteilen durch Bildung einer „Verfassungskommission“ auffangen.

Die demokratische Schieflage zwischen Schottland und England hat Starmer eher verschlimmert, indem er Boris Johnsons Brexit-Vertrag absegnete, um verlorene Wählerstimmen in Nordengland zurückzugewinnen. Seitdem wird die ganz überwiegend EU-freundliche Haltung der schottischen Bevölkerung von keiner der beiden großen Parteien in Westminster mehr repräsentiert. Und in dem Maße, in dem sich in England ein eigener aggressiver Nationalismus herausbildet, werden die unterschiedlichen politischen Kulturen Schottlands und Englands immer unvereinbarer. Durch die englische Dominanz in der politischen und kulturellen Sphäre des gesamten Königreichs wird sich dieses Problem noch verschärfen.

Bleibt Schottland in der Union, wird es voraussichtlich in der politischen, kulturellen und ökonomischen Stagnation verharren, die sich in den 20 Jahren seit Einrichtung des schottischen Parlaments eingenistet hat. Das Land ist gefangen zwischen einer britischen Zukunft, die es nicht will, und einer unabhängigen Zukunft, die es nicht erlangen kann. Politische Mäßigung mag durchaus erforderlich sein, um eine stabile Koalition zugunsten der Unabhängigkeit zu zimmern, aber sie bringt keine Lösung für das langfristige Problem des industriellen Niedergangs, das die schottische Wirtschaft in eine gefährliche Abhängigkeit vom Tourismus, vom Finanzsektor, von fossilen Brennstoffen und von der Beschäftigung im öffentlichen Sektor gebracht hat. Die schottische Labour-Partei hat zwar eine stärker interventionistische Industriepolitik angeregt, aber bei den bevorstehenden Wahlen wird sie für das sture Festhalten an der Union büßen müssen, das sehr viele frühere Wähler abspenstig gemacht hat.

Diese politische Lähmung stürzt auch die schottische Zivilgesellschaft in eine weithin uneingestandene Krise: Die Printmedien brechen unter dem Druck der sozialen Medien und der multinationalen Hedgefonds zusammen; viele Universitäten zählen zu den finanziell am meisten gefährdeten und am stärksten kommerzialisierten im Vereinigten Königreich; eine Unmenge von NGOs und Aktionsgruppen, von denen viele auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, mühen sich verzweifelt, für öffentliche Dienstleister einzuspringen, die zuvor kaputtgespart worden sind.

Die SNP will auf jeden Fall das Pfund behalten

Auf diese Weise werden viele kluge und freie Initiativen abgewürgt, während das öffentliche Leben von erbitterten Privatfehden zwischen führenden Politikern und Social-Media-Promis dominiert wird, die ihre Stellvertreterkämpfe in künstlich angeheizten Kontroversen um Geschlechtsidentitäten und Hetzreden austragen.

Könnte die Unabhängigkeit die Dinge zu neuem Leben erwecken? Schottlands Arbeiterbewegung und ihr geschrumpfter parlamentarischer Flügel wären endlich ihr unionistisches Gepäck los und damit in der Lage, sich um die politischen und kulturellen Belange zu kümmern. Dasselbe gälte jedoch auch für die schottische Rechte. Die Möglichkeit, dass eine unterlegene, aber immer noch starke unionistische Minderheit eine gemeinsame Basis mit rechten schottischen Nationalisten anstrebt, sollte linke Befürworter der Unabhängigkeit beunruhigen.

Was die SNP betrifft, so ist ihr Wirtschaftskonzept für die Zeit nach der Unabhängigkeit eindeutig neoliberal. Es verpflichtet das Land zur Beibehaltung des Pfund Sterling und zu einem konsequenten Abbau der Staatsschulden auf mindestens zehn Jahre. Mit diesem Programm, das ökonomisch durchaus schiefgehen kann, will man ausländische Investitionen für eine nationale Kapitalistenklasse beschaffen, die natürlich die Kommodifizierung der schottischen Arbeitskraft, der Dienstleistungen und der nationalen Ressourcen vorantreiben würde.

Zudem würde die Rückkehr in die EU, eines der zentralen Argumente der SNP für die Unabhängigkeit, die schottische Souveränität auch formal ein­schränken. Allerdings verkennen die Kritiker der „Unabhängigkeit innerhalb der Europäischen Union“, dass ein Schottland, das weder der Europäischen noch der britischen Union angehört, in seinen Handlungsmöglichkeiten noch viel stärker eingeschränkt wäre.

Die Folgen der Unabhängigkeit wären aber nicht auf Schottland beschränkt. Labour und die englische Linke müssten sich erstmals direkt mit ihrer eigenen nationalen Identität auseinandersetzen. Die bittere Realität eines um ein Drittel geschrumpften Vereinigten Königreichs würde die englische politische Klasse wie die Wählerschaft dazu bringen, die tatsächlichen Grenzen und Potenziale ihres Landes nüchterner einzuschätzen.

Der Verzicht auf Fantasien von „Größe“ zugunsten einer genaueren kritischen Selbstwahrnehmung würde England sicher guttun. Und eine ehrliche Konfrontation mit den territo­ria­len und kulturellen Ungleichheiten könnte dazu beitragen, ein Staatswesen föderal aufzugliedern, das zu den am meisten zentralisierten der westlichen Welt gehört. Tatsächlich könnten sich Wales und Nordirland durch das Beispiel Schottlands ermutigt fühlen, ihren eigenen Exit zu planen.

Das beste Plädoyer für die Unabhängigkeit sollte vielleicht eher liberal-demokratisch als radikal argumentieren: Schottland erhält damit die Chance, seine politische Ökonomie schrittweise aus einer undemokratischen und zunehmend illiberalen anglo­brit­ischen Wirtschaftsordnung herauszulösen, deren permanente Identitätskrise die sehr eigenen – wenn auch oft langweiligen – Probleme der schottischen Selbstverwaltung in den Hintergrund drängt. Die Unabhängigkeit würde zumindest das politische Terrain abstecken und genauer erkunden, auf dem die schottische Linke agieren muss, auch wenn dieses Terrain damit nicht unbedingt leichter zu durchqueren ist.

Dies ist freilich kein Argument, das die Leute vom Hocker reißt. Viele Anhänger der Unabhängigkeit und vor allem jene, die im Unabhängigkeitskampf die passende Bühne für eine radikale Anti-Establishment-Inszenierung sehen, dürfte der Austausch einer konservativen durch eine liberale Elite nicht reichen. Ihr Bestreben, dem Rest des Landes die eigene radikalere Motivation aufzudrängen, könnte am Ende den Unionisten in die Hände spielen.

1981 mokierte sich der nationalistische Intellektuelle Stephen Maxwell, dass „manche Nationalisten viel Zeit für die Wunschvorstellung aufbringen, dass die Geschichte Schottlands sich melodramatischer gestaltet hätte“3 . Ebenso verlockend ist offenbar der Wunsch, Schottlands Zukunft möge aufregender sein als seine Vergangenheit. Doch der dunkle Forst nationaler Identitätspolitik ist ein gefährlicher Ort für die Suche nach Abenteuern.

1 Die ersten Wahlen zum (teilweise) eigenständigen schottischen Parlament, das nach dem zweiten Unabhängigkeitsreferendum durch den Scotland Act vom November 1998 konstitutiert wurde, fand im Mai 1999 statt.

2 Kenny MacAskill, “The Say No Party – the battle is just beginning to stop the Stalinism of Sturgeon“, Scottish Left Review, Nr. 121, Januar/Februar 2021.

3 Stephen Maxwell, „The case for left wing nationalism“, SNP 79 Group Papers, Nr. 6, Aberdeen (People’s Press) 1981.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Rory Scothorne lebt als Autor in Edinburgh. Seine letzte Publikation (zusammen mit Cailean Gallagher und Amy Westwall) ist „Roch Winds: A Treacherous Guide to the State of Scotland“, Edinburgh (Luath Press) 2016.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2021, von Rory Scothorne