Der größte Streik der Welt
In Indien haben neue Agrargesetze zu heftigen Protesten geführt. Sie erreichten zum Nationalfeiertag am 26. Januar einen Höhepunkt, der in gewaltsamen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften gipfelte. Der traditionelle Pakt zwischen Regierung und Bauern scheint damit aufgekündigt.
von Joël Cabalion und Delphine Thivet
Seit Ende November 2020 haben sich hunderttausende indische Bauern in der Hauptstadt Neu-Delhi versammelt, entschlossen, die Regierung zum Einlenken zu zwingen. Bauern haben in Indien schon öfter für Schlagzeilen gesorgt – mit den existenziellen Tragödien und hohen Selbstmordraten verschuldeter Landwirte, mit ihrem Kampf gegen genetisch veränderte Organismen (GVO)1 und gegen Enteignungen. Diesmal jedoch erreichten ihre Proteste, was Größe, Entschlossenheit und Aktionsformen angeht, eine neue Dimension. Und sie erfuhren eine breite gesellschaftliche Unterstützung.
Drei Landwirtschaftsgesetze, die im September verabschiedet wurden, wirkten wie ein Stich ins Wespennest. Für die Betroffenen2 bedeuten sie den Anfang vom Ende einer Landwirtschafts- und Ernährungspolitik, die in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt wurde. Diese Politik beruht auf Mindestpreisgarantien für ein Drittel aller Agrarerzeugnisse – etwa für Reis und Getreide, die im Nordwesten des Landes angebaut werden. Mittelbar dienen diese Garantien aber auch als Orientierung für andere Erzeugerpreise.
Die Ernten werden auf offiziellen Großmärkten, den Mandis, verkauft, die von den einzelnen Bundesstaaten kontrolliert werden. Sie können aber im Notfall auch von der nationalen Lebensmittelbehörde, der Food Corporation of India, aufgekauft werden, um die Preise zu stützen. Die so geschaffenen Vorräte werden über ein öffentliches Verteilungssystem an die ärmsten Bevölkerungsgruppen ausgegeben.
Das neue Gesetz zur „Förderung und Erleichterung des Verkaufs und des Handels von landwirtschaftlichen Erzeugnissen“3 gestattet es den Bauern, auch außerhalb der Mandis zu verkaufen. Deren Funktion war es ursprünglich, die Macht von Zwischenhändlern einzudämmen. Die Mandis wurden jedoch schon bald von großen Familienclans dominiert. Es entstanden lokale Monopole, oft entsprechend der Kastenordnung.
Anstatt die Mandis zu reformieren, will die Zentralregierung wettbewerbsorientierte „alternative Märkte“ fördern. Die Bauern jedoch fürchten Entwicklungen wie im Bundesstaat Bihar, der 2006 die Mandis schließen ließ: Die Bauern seien dort nun der Willkür der Händler ausgeliefert, die ohne Skrupel noch niedrigere Preise festlegten, als auf den Mandis gezahlt wurden.4 Für Richa Kumar, Wissenschaftlerin am Indian Institute of Technology in Neu-Delhi, zementiert das neue Gesetz in erster Linie die Freiheit der Agroindustrie, einzukaufen „wo es ihr beliebt“ – also außerhalb der regulierten Märkte.5
Das zweite Gesetz über „Preisvereinbarungen“ soll Bauern und deren Abnehmer ermutigen, bereits vor der Ernte Verträge mit festgelegten Rahmenbedingungen und Preisen zu schließen. Auch hier betont die Regierung die Freiheit der Bauern, selbst zu entscheiden, wo und an wen sie verkaufen möchten. Aber wie viel Gewicht hat ein Landwirt gegenüber den Riesen der Agrar- und Ernährungsindustrie oder den großen Vertriebsnetzen? Zudem wird hier ein Anreiz für spekulative und intensive Monokulturen geschaffen, anstatt auf die ökologische Diversifizierung des Anbaus zu setzen.
Das dritte Gesetz im Paket ist ein Zusatzartikel (amendement) zum „Gesetz über Grundnahrungsmittel“. Öl, Zwiebeln und Kartoffeln stehen in Zukunft nicht mehr auf der Liste der Produkte, die im Notfall von den staatlichen Agenturen aufgekauft werden. Die Bauern hatten dagegen eine Ausweitung der Aufkäufe verlangt. Die Regierung aber will privates Kapital anlocken, um die Lagerung und die Logistik zu modernisieren, den staatlichen Agenturen wird regelmäßig vorgeworfen, dass sie große Mengen Lebensmittel durch schlechte Lagerhaltung vergammeln ließen.
Dass diese Rechnung allerdings ohne zentrale Regulierung aufgehen wird, ist äußerst zweifelhaft – ein Anstieg der Einzelhandelspreise ist sehr wahrscheinlich. Für die Armen könnten die Lebensmittel zu teuer werden, in Indien sind derzeit 14 Prozent der Bevölkerung unterernährt.6
In einer Rede am 14. Dezember erklärte Arvind Kejriwal, Regierungschef des Unionsterritoriums Delhi: „Dieses Gesetz ist nicht nur für die Bauern von Nachteil. Es trifft auch die Normalverbraucher und öffnet der Inflation Tür und Tor.“ Kejriwal ist Vorsitzender der Antikorruptionspartei AAP.7 Wie die Kongresspartei und die marxistische Kommunistische Partei Indiens unterstützt die AAP die Bauernbewegung.
Die drei Gesetze enthalten darüber hinaus eine Reihe von Bestimmungen, mit denen es Bürgern erschwert wird, Rechtsansprüche gegenüber privaten Akteuren durchzusetzen. Die hohen sozialen und ökologischen Kosten der industriellen Anbaumethoden (der „Grünen Revolution“ der 1960/70er Jahre) gehen sie hingegen nicht an, ebenso wenig ist eine Unterstützung der Landlosen vorgesehen, die in manchen Regionen ein Viertel der Landarbeiter ausmachen. Subventionen werden zurückgefahren und die Landwirtschaft den mächtigen Lebensmittelkonzernen und Vertriebsketten ausgeliefert.
Die Bauern setzten sich früh zur Wehr. Am 9. August, dem 78. Jahrestag der Bewegung „Quit India“ (Verlasst Indien) gegen die britische Kolonialherrschaft, gab es überall kleinere Demonstrationen: Die Protestierenden verbrannten Gesetzestexte, errichten Straßenblockaden, bildeten Motorrad- und Traktorkorsos und ließen sich zu Sitzstreiks nieder.
Frauenverbände und Gewerkschaften sind mit dabei
Unabhängig von politischen Parteien formierte sich ein nationales Bündnis aus über 500 lokalen Organisationen. Die Bewegung ging insbesondere von den nördlichen Bundesstaaten aus – Pandschab, Haryana und Uttar Pradesh –, wo die Bauern auch Grundbesitzer sind und sich in ihrer Existenz bedroht sehen. In Pandschab besitzt ein Bauer im Durchschnitt 3,6 Hektar Land, gegenüber etwa einem Hektar landesweit.
Die von der hindunationalistischen BJP dominierte Regierung ließ sich nicht auf Verhandlungen ein. Die Bauern begannen einen Marsch auf Neu-Delhi, wobei sie auf die Unterstützung eines dichten Netzes von Hindutempeln und Gurdwaras (Gebetsstätten der Sikhs) zählen konnten. Zufahrtsstraßen zur Stadt wurden durch Zeltlager blockiert, Schlafplätze, Wasserstellen, Wäschereien, Krankenstationen und Gemeinschaftsküchen eingerichtet. Selbst Bühnen für die Videoübertragung von Reden wurden errichtet.
Am 8. Dezember riefen die Bauernverbände schließlich zum landesweiten Streik auf, dem sich Angestellten- und Studierendengewerkschaften und Frauenrechtsorganisationen anschlossen. Die Ordnungskräfte reagierten mit Tränengas und Wasserwerfern, Hunderte wurden laut der Gewerkschaft All India Kisan Sabha verhaftet. Aus Protest gegen die Repressionen traten die Bauern in einen Hungerstreik.
Am 20. Dezember strömten aus Rajasthan noch mehr Demonstranten herbei und blockierten den Verkehr zwischen Delhi und Jaipur. Der 23. Dezember wurde zum „Tag der Bauern“ erklärt, Kolonnen von Jeeps brachten Verstärkung aus dem Westen und der Landesmitte, meist Mitglieder kommunistischer Gewerkschaften.
Am 26. Dezember wurde zum Boykott gegen „Produkte und Dienstleistungen von Ambani und Adani“ aufgerufen. Mukesh Ambani, laut Forbes-Liste der reichste Mann Indiens8 , steht an der Spitze des Konzerns Reliance Industries mit zahlreichen Geschäftsfeldern – von der Petrochemie und der Telekommunikation bis hin zu Vertrieb, Transport und Lagerung von Getreide.
Gautam Adani, der zweitreichste Mann Indiens, ist Chef der Adani Group, die als Hafenbetreiber im großen Stil sowie im Bergbau-, Immobilien- und mittlerweile auch im Lebensmittelsektor aktiv ist; etwa als Hersteller der größten Speiseölmarke Indiens. Beide Männer sind enge Freunde von Premierminister Narendra Modi. Bauernverbände haben dazu aufgerufen, SIM-Karten von Reliance (Ambani) und Jio (Adani) zurückzugeben. Am 27. Dezember wurde die monatliche Radioansprache des Premierministers „Mann Ki Baat“ („Von Herz zu Herz sprechen“) von empörten Bauern gestört, die auf Metallteller trommelten.
Der alte Schlachtruf, „Jai Jawan, Jai Kisan“ („Ehre den Soldaten, Ehre den Bauern“), der so alt ist wie Indiens Unabhängigkeit, hat keine Gültigkeit mehr. Von der BJP und den ihr nahestehenden Medien wurden die Demonstranten aus dem Norden als „antinationale“ Kräfte bezeichnet, als „Terroristen“ und „Separatisten“, die von China oder Pakistan angestiftet seien. Außerdem wurde den Bauern vorgeworfen, von den maoistischen Naxaliten9 manipuliert worden zu sein. Sie wurden als „Tukde Tukde Gang“ beschimpft, als zerstörerische Bande, die gegen die nationale Einheit kämpfe.
Doch das Gegenteil trifft zu: So hat sich die Bauernbewegung klar gegen das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz von 2019 positioniert, das Muslime diskriminiert. Sikhs bereiteten Essen zu, dass nicht nur an Demonstrierende, sondern auch an die eingesetzten Polizisten und Paramilitärs ausgegeben wurde: Szenen, von denen es allerdings kaum Bilder in die sogenannten godi-Medien schafften (wörtlich: „die auf den Knien der Macht sitzen“).
Als Stimme der Gegenöffentlichkeit hat die Protestbewegung die Zeitung Trolley Times ins Leben gerufen. Die Protestierenden wollen klarmachen: „Wir sind Bauern, keine Terroristen.“ Intensiv ist auch die Berichterstattung in den sozialen Medien, wo die Bauern den Streit ihrer Delegierten mit den Ministern für Konsum, Ernährung und Vertrieb, für Landwirtschaft, Handel und Industrie live verfolgen konnten.
Am 12. Januar schaltete sich der oberste Gerichtshof in den Konflikt ein, indem er ein Schlichtungskomitee berief und ein Gesetzesmoratorium für die Dauer der Verhandlungen in Aussicht stellte. Die Bauernsprecher lehnten dies jedoch ab. Am 26. Januar, dem Tag der Verfassung, der traditionell mit einer großen Militärparade begangen wird, rollte ein 100 Kilometer langer Traktorkorso nach Delhi. Am Ende stürmten einige der Demonstranten das historische Rote Fort im Zentrum und es kam zu Straßenschlachten.
1 Siehe Mira Kamdar, „Hoffnungsträger Gen-Aubergine“, LMd, März 2010.
6 „The State of Food Security and Nutrition in the World“, Bericht 2020, FAO, 13. Juli 2020.
8 Forbes India Rich List 2020.
9 Siehe Cédric Gouverneur, „Teufel und Beelzebub in Chhattisgarh“, LMd, Januar 2008.
Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein
Delphine Thivet ist Dozentin für Soziologie am Centre Émile-Durkheim in Bordeaux. Joël Cabalion ist Dozent für Soziologie und Anthropologie an der Universität Tours und Mitherausgeber von „L’Inde des sciences sociales“, Bussy-Saint-Martin (Aux forges de Vulcain) 2017.