Neustart in Montenegro
In dem kleinen Staat an der Adria gab es dreißig Jahre nach der Auflösung Jugoslawiens zum ersten Mal einen Regierungswechsel. Eine Erkundungsreise
von Philippe Descamps und Ana Otasević
Ende Oktober ist es im Sinjajevina-Gebirge im Norden Montenegros auf 1700 Metern Höhe schon beißend kalt. Bauern und Umweltschützer drängen sich um ein großes Lagerfeuer. Sie fürchten, dass ihre kargen Weideflächen auf der Hochebene in Militärgelände verwandelt werden.
„Die Regierung wollte das Gebiet am Savina-Voda-See für Manöver und zur Entschärfung alter Munition nutzen“, erzählt Milan Sekulović, der 2018 die Bürgerinitiative „Rettet Sinjajevina“ gegründet hat. 50 Familien müssten dann ihre Viehzucht aufgeben. „Dabei gibt es sowieso schon kaum noch Bauern, weil es keine staatlichen Hilfen gibt und kein Geld für Straßen und Stromnetz ausgegeben wird. Montenegro importiert lieber 80 Prozent der Lebensmittel, als Viehzucht und Ackerbau zu fördern!“
Am 30. August 2020 wurde die Regierungspartei abgewählt, die seit der Auflösung Jugoslawiens an der Macht gewesen war. Von der neuen Regierung erwarten die Leute von Sinjajevina verbindliche Zusagen, doch der Druck aus dem Ausland ist groß. Montenegro ist seit 2017 Mitglied der Nato, deren Generalsekretär Jens Stoltenberg vergangenen Oktober erklärte: „Ich vertraue darauf, dass es Wege gibt, den notwendigen Naturschutz mit der Ausbildung der Soldaten zu vereinbaren, die für alle Verbündeten wichtig ist.“1
Im Kosovokrieg 1999 wurde Montenegro, das damals mit Serbien einen Staat bildete, von Nato-Flugzeugen bombardiert. Nicht nur Umweltschützerinnen und Bauern, auch diejenigen, die sich in erster Linie als Serben bezeichnen, sind keine großen Freunde der Nato. Bisher lag die Macht in den Händen derer, die nur Montenegriner sein wollen, aber für viele Einwohner sind beide Identitäten einander sehr nah, wenn nicht identisch.
Ein schwarzer Geländewagen kommt angefahren, aus dem ein Riese in Soutane steigt. Joanikije Mićović, Bischof der Eparchie von Budimlje-Nikšić und Nummer zwei der serbisch-orthodoxen Landeskirche, nähert sich mit wehendem weißen Bart und einem geschnitzten Stock in der Hand dem Lagerfeuer. Vor dem Gespräch will er noch Gläubige am Ufer des kleinen Sees taufen.
„Das ist ein entscheidender Moment“, verkündet er. „Die letzte Schlacht gegen den Kommunismus und das, was er nach 1945 in Montenegro angerichtet hat! Jetzt kehren die Menschen zu ihrem Glauben zurück. Sie verteidigen ihr Land und seine natürlichen Ressourcen, alles, was ihr Leben und ihr Überleben ausmacht. Sie verteidigen auch ihr Erbe, die Geschichte ihrer Familie.“
Für ihn wie für alle Anwesenden ist der Kampf um das Gebiet noch mit einem anderen verbunden: Seit einem Jahr protestieren sie gegen das neue Religionsgesetz, das unter anderem die Eigentumsverhältnisse der Kirche klären soll. Doch sie halten das für einen Vorwand. In Wirklichkeit gehe es nur darum, die serbisch-orthodoxe Kirche ihrer Klöster und Kirchen zu berauben. „Sie wollen uns unser Eigentum, aber auch unsere Identität stehlen“, schimpft der Bischof, der während der Proteste im Mai 2020 selbst drei Tage in Untersuchungshaft war.
30 Jahre lang war die Demokratische Partei der Sozialisten (DPS) von Milo Đukanović an der Macht. Die direkte Nachfolgepartei des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) ist ein politisches Chamäleon. Erst war sie Anhänger, dann Gegner des serbischen Staatspräsidenten Milošević, erst war sie gegen, dann für Montenegros Unabhängigkeit, erst war sie prorussisch, dann prowestlich.
Auch die unzähligen Korruptionsaffären und der Exodus der Jugend haben nicht zu einem Machtwechsel geführt. Gestürzt ist die DPS über eine Identitätsfrage. Sie wollte anstelle der serbisch-orthodoxen Kirche, der die Mehrheit der Bevölkerung angehört, eine autokephale (eigenständige) montenegrinisch-orthodoxe Kirche gründen. Bei der letzten Volkszählung 2011 hatten sich 72 Prozent der Einwohner für orthodox erklärt, 19 Prozent für muslimisch und 3 Prozent für katholisch.
Nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit gefragt, bezeichneten sich 45 Prozent als Montenegriner, 28,7 Prozent als Serben, 8,6 Prozent als Bosnier und 4,9 Prozent als Albaner. Viele bekennende Montenegriner gehören der serbischen Kirche an. Bei der Volkszählung von 1948 hatten 90 Prozent angegeben, sie seien Montenegriner; 1981 schrumpfte dieser Anteil auf 68 Prozent gegenüber 3,3 Prozent Serben.
„Milošević’ autoritäre Politik in Serbien und die Strategie der internationalen Gemeinschaft, vor allem der USA und der EU, das serbische Regime zu isolieren, verstärkte in Montenegro den Ruf nach Souveränität“, erklärt der Politologe Amaël Cattaruzza. „Der Anspruch wurde mit einer nationalen montenegrinischen Identität gerechtfertigt, die sich mal auf ethnische, mal auf staatsbürgerliche Kriterien stützte.“2 Nach dem Sturz von Milošević im Jahr 2000 kam es erst 2006 per Referendum und mit 55 Prozent der Stimmen zur Unabhängigkeit Montenegros.
Hinter der Identitätsfrage verbirgt sich eine massive soziale Ungleichheit. Montenegro ist etwa so groß wie Sachsen und hat 620 000 Einwohner. Es gibt 66 Millionäre, ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (weniger als 2261 Euro pro Kopf im Jahr 2019).3 Noch schwerwiegender sind die regionalen Ungleichheiten: Im Norden, der für die Sezession gestimmt hat, lag die Arbeitslosenquote 2018 bei 36,6 Prozent, an der Küste bei 3,9 Prozent.4
Der neue Yachthafen Porto Montenegro, 80 Kilometer südlich der Sinjajevina, gehört zu einer anderen Welt. Er liegt an der tief ins Land reichenden und einzigartig verzweigten Bucht von Kotor mit ihren Fischerdörfern und mittelalterlichen Städtchen, anerkannt als Unesco-Welterbe. An der Stelle der heutigen Marina befand sich einst die große Werft von Tivat, Stolz der jugoslawischen Marine.
Luxusyachten im alten Werfthafen
Jetzt ist der Ort ein Reichenghetto: Yachten für 165 000 Euro pro Woche, Nobelhotels von schlimmstem Rivierakitsch und reihenweise Luxusboutiquen. In den letzten 20 Jahren hat sich die schöne Bucht völlig verändert. Von Steuerbegünstigungen angelockte Investoren aus dem Ausland haben die Küste zubetoniert, ohne sich um die natürlichen und historischen Schätze oder gar Stadtentwicklung zu kümmern.
Kurz vor der Unabhängigkeit Montenegros flog der kanadische Milliardär Peter Munk, Gründer des weltgrößten Goldkonzerns Barrick Gold, in einem Militärhubschrauber, den ihm der damalige Ministerpräsident Đukanović zur Verfügung gestellt hatte, über die Bucht. Dabei entdeckte er die Werft, auf der damals noch fast 500 Leute beschäftigt waren. Munk und Đukanović unterzeichneten ein Privatisierungsabkommen. Für 23 Millionen Euro verkaufte dann der souverän gewordene Staat die 30 Hektar Land.5
Dem russischen Oligarchen Oleg Deripaska gehört seit 2005 eine Aluminiumgießerei in Podgorica – die Aluminiumverarbeitung ist der einzige größere Industriezweig Montenegros. Deripaska ist mit dem britischen Bankier Jacob Rothschild und dem französischen Oligarchen Bernard Arnault auch an den Investitionen für das neue Monaco an der Adria beteiligt.
Vor allem die früher von der jugoslawischen Armee genutzten Gelände überlässt die montenegrinische Regierung ausländischen Investoren. Das geschieht auch in Kumbor, gegenüber von Tivat auf der anderen Seite der Bucht, wo die Töchter des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew, Arzu und Leyla, gemeinsam mit dessen Schwiegervater Arif Paschajew, einen Hotelkomplex der Luxusklasse errichten lassen.
An der Bucht von Luštica baut die ägyptische Orascom Development des Milliardärs Samih Sawiris Luxusresidenzen. „Bei all diesen Projekten, auch beim Autobahnbau, mischt die Baufirma Bemax als montenegrinischer Subunternehmer mit. Die ist eng mit der abgewählten Partei verbandelt und hat alle anderen Bauunternehmen des Landes geschluckt“, erzählt Vanja Ćalović, die das NGO-Netzwerk Mans leitet. Mans kämpft gegen Korruption und hat schon zahlreiche Verstöße aufgedeckt, die aber bis heute nicht verfolgt wurden.
Andere Projekte für Hotels, Kasinos oder Freizeitparks sind eng mit dem kriminellen Milieu verflochten. Im Hotel Splendid am Strand von Bečići, südlich von Budva, wurden im Beisein von viel Politprominenz die Hochzeiten der Kinder von Branislav Mićunović, dem „Paten“ des Landes, gefeiert. Auch dieser Hotelpalast sei ohne Genehmigung gebaut worden, weiß Ćalović.
„Ganz oben sitzen die Korruptesten“, bestätigt die Journalistin Milka Tadić Mijović, Mitbegründerin der unabhängigen Wochenzeitung Monitor und Leiterin des Zentrums für investigativen Journalismus. „In 30 Jahren wurden die meisten staatlichen Unternehmen auf undurchsichtigen Wegen privatisiert. Đukanović und seine Familie sind heute die Reichsten im Land. Sein Bruder Aleksandar, der früher arbeitslos war, kontrolliert das größte Finanzinstitut von Montenegro, die Prva Banka. Seine Schwester Ana, die während der Privatisierungen Richterin war, besitzt eine der größten Anwaltskanzleien. Ein ausländischer Investor, der keine Probleme haben will, sollte tunlichst die Dienste dieser Kanzlei in Anspruch nehmen.“
Eine Bombe vor dem Eingang der Redaktion, eine Schussverletzung, Diffamierungskampagnen von DPS-nahen Zeitungen – die Enthüllungen von Monitor und den Zeitungen Dan und Vijesti haben regierungskritischen Journalistinnen viel Ärger eingebracht. „Seit der Unabhängigkeit gab es mehr als 30 körperliche Angriffe auf unsere Journalisten“, berichtet Mijović. „Die Tageszeitung Pobjeda hat mehr als 200 Artikel über uns geschrieben. Sie haben mich als ‚Nutte‘ und ‚Vaterlandsverräterin‘ beschimpft. Sie haben mich angezeigt, und ich habe sieben Jahre gebraucht, um den Prozess zu gewinnen. Die meisten Angriffe wurden nie bestraft. Das lässt vermuten, dass die Staatsmacht ihre Finger mit im Spiel hatte.“
Der Verlust der Parlamentsmehrheit für seine Partei heißt nicht, dass Đukanović abtritt. Im Mai 2018 wurde er für fünf Jahre zum Präsidenten gewählt, und dieses zweitrangige, aber nicht unwichtige Amt wird er behalten. Als wir ihn nach der Korruption in seinem Land fragen, klingt die Antwort wie auswendig gelernt: „Wir sind eine kleine Gemeinschaft, alles wird übertrieben. 30 Jahre gab es keinen Machtwechsel. Die Opposition wollte die Regierung mit allen Mitteln stürzen, sie hat versucht, sie zu diskreditieren, indem das Problem aufgebauscht wurde. Es ist unbestreitbar, dass es existiert, aber es ist auch unbestreitbar, dass sich der Staat ernsthaft darum kümmert.“
Als wir mehrere Affären nennen, die nicht verfolgt wurden, was ein Klima der Straflosigkeit vermuten lässt, reagiert er gereizt: „Das ist eine völlig falsche Wahrnehmung. Auch Personen, die mir sehr nahestehen, wurden angeklagt und bestraft.“
Damit spielt der Präsident auf Svetozar Marović an, einst seine rechte Hand, von 2003 bis 2006 Präsident der Staatenunion Serbien und Montenegro und die Nummer zwei der DPS. 2015 wurde der „Pascha von Budva“ wegen Korruption und Mitgliedschaft in einer kriminellen Bande verhaftet und zu 44 Monaten Gefängnis verurteilt. Der Strafe entzog er sich durch Flucht nach Serbien. Der Sturz des Marović-Clans wurde als Beweis für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen dargestellt. Die Opposition vermutete eher eine Abrechnung unter den Mächtigen. „Das Wichtigste wäre jetzt eine unabhängige Justiz“, sagt die Journalistin Mijović. „Und ich bin sicher, wenn wir das schaffen, werden viele Affären von Đukanović und seiner Familie ans Licht kommen.“
Straflosigkeit war ein wichtiges Thema im Wahlkampf. Dražen Ivanović war früher der Vorgesetzte von sechzehn Wächtern im Nationalpark um den Skutarisee. Der zwischen Montenegro und Albanien gelegene See ist ein Juwel der regionalen Biodiversität, berühmt für die in Europa seltenen Pelikane und hunderte Vogelarten. Früher war er voller Karpfen, Aale und anderer Speisefische.
Neun Jahre lang verfolgte Ivanović die Wilderer, die mit Elektrofischerei und anderen verbotenen Methoden arbeiteten. Vom Boot aus zeigt er uns Bauruinen: Häuser, ohne Genehmigung begonnen, deren Weiterbau er verhindern konnte. Aus Empörung über fehlende Mittel und die harmlosen Sanktionen für die Übeltäter hat er letzten Sommer gekündigt. „Den illegalen Fischern tun die Strafen nicht weh. Wenn sie erwischt werden, zahlen sie halt. Außerdem haben wir nur fünf langsame Boote. Die Gesetze werden einfach unterlaufen.“
Ein anderes Naturwunder Montenegros, das Flusstal des Tara, steht eigentlich unter dreifachem Schutz: als Unesco-Welterbe, als Nationalpark, und als vom Parlament „besonders schützenswert“ deklarierte Landschaft. Trotzdem wurden dort durch den Bau der Autobahn, die den Hafen von Bar mit Boljare und Belgrad verbinden soll, irreparable Schäden angerichtet. Von der Adria bis zur serbischen Grenze sind 170 Kilometer Straße mit 40 Tunneln und 80 Brücken geplant. Die 200 Meter hohen Pfeiler eines Viadukts über die Morača-Schlucht stehen bereits. Einer davon ist in eine riesige Nationalfahne gehüllt, um die Vollendung des Bauabschnitts zu feiern.
Das Projekt, Stolz der Nation, wäre ohne ausländische Investoren nicht möglich gewesen. Die chinesische Eximbank hat einen Kredit von 809 Millionen Euro für den ersten, 41 Kilometer langen Bauabschnitt gewährt, der von der China Road and Bridge Corporation gebaut wird. Die Gesamtkosten dürften sich auf 2,5 Milliarden Euro belaufen, das ist die Hälfte des jährlichen Bruttoinlandsprodukts von Montenegro.
Für Aleksandar Perović, den Leiter der Umweltorganisation Ozon, gehen Ökozid und Korruption hier Hand in Hand. Er setzt sich dafür ein, dass die neue Regierung einen Umweltplan ausarbeitet. „Wir befürchten, dass der Revanchismus wieder Oberwasser bekommt. Unsere Initiative hat aber mit diesem heuchlerischen Gerede von der Vaterlandsliebe nichts am Hut. Wer sein Land wirklich schützen will, fängt mit dem Schutz der Umwelt an und kümmert sich um die bedrohten natürlichen Ressourcen.“
Am 31. Oktober 2020 wurde im Kloster von Cetinje, einer Bastion des jahrhundertelangen Widerstands gegen die osmanischen Herrscher und historisches Zentrum des Landes, der Leichnam des serbisch-orthodoxen Metropoliten Amfilohije Radović aufgebahrt. Die Gläubigen drängten sich vor dem Tor, um dem Toten, der eine Galionsfigur des Protests gegen das scheidende Regime war, die letzte Ehre zu erweisen. Drinnen stand der neue Ministerpräsident Zdravko Krivokapić neben dem offenen Sarg.
Der Metropolit wurde von der zweiten Welle der Coronapandemie hinweggerafft. Seit seiner Berufung 1990 war der Mann mit dem langen Bart und dem finsteren Blick unermüdlich durch das Land gereist, um seine Kirche neu aufzubauen. Er war auch ein kluger Politiker. Er unterstützte Đukanović, als der sich 1997 von seinem Mentor Milošević abwandte.
Vierzig Tunnel, achtzig Brücken
Während der Kampagne zur Unabhängigkeit 2006 verhielt sich der Metropolit still. In den Folgejahren wurde er immer kritischer, während die Regierenden immer mehr Macht an sich rissen, ihre Pfründen verteilten und sich hinter einem künstlichen montenegrinischen Nationalismus durch Sprache oder Religion versteckten. Er kritisierte auch den serbischen Präsidenten Vučić und dessen Kosovo-Verhandlungen.6
Am nächsten Tag schlug uns vor der Kathedrale von Podgorica die Inbrunst einer riesigen Menschenmenge entgegen. Ohne Abstand oder Masken kamen Tausende zur Beisetzung und sanken bei der Ankunft des Leichenzugs spontan auf die Knie. „Wir haben unseren Erzbischof verloren, den Versöhner des Volkes“, klagte der 95-jährige Svetozar Pavićević, der zu Fuß aus seinem Dorf gekommen war. Der Präsident Montenegros war der große Abwesende, dafür zeigte sich ein anderer Präsident in der ersten Reihe neben den religiösen Würdenträgern aus aller Welt.
Zum ersten Mal seit seinem Machtantritt 2014 (als Ministerpräsident, ab 2017 als Staatspräsident Serbiens) besuchte Aleksandar Vučić das Nachbarland. Hinter der scheinbar unterkühlten Beziehung zu Đukanović verbergen sich einige Gemeinsamkeiten: der Wille zu ungeteilter Macht, die Neigung zu Riesenprojekten, finanziert von ausländischen Investoren, und der Regierungsstil. Beide führen ihre Länder wie Familienunternehmen, die sich die Institutionen und Medien einverleibt haben.7
In einem Interview mit dem oppositionellen Fernsehsender Vijesti wehrte sich Vučić gegen die Unterstellungen, er unterhalte geheime Beziehungen zum montenegrinischen Präsidenten und habe sich in die Wahlen des Nachbarlands eingemischt. „Ich bin ja nicht die amerikanische Botschafterin, die sagt, wer in die Regierung darf und wer nicht.“ Einige Tage zuvor hatte die US-Botschafterin Judy Rising Reinke den neu gewählten Ministerpräsidenten Zdravko Krivokapić aufgefordert, „dafür zu sorgen, dass die Personen, die auf sicherheitsrelevante Posten in die neue Regierung berufen werden, erwiesenermaßen für westliche Werte, die Souveränität Montenegros und den euroatlantischen Kurs eintreten und ihre Verantwortung gegenüber der Nato wahrnehmen“.8
Für Krivokapić, bis dahin ein unauffälliger Dozent für Maschinenbau an der Universität von Podgorica, war die Regierungsbildung nicht einfach. Als Kandidat des Klerus trat er an die Spitze eines zusammengewürfelten Bündnisses aus liberalen Transatlantikern und serbientreuen Konservativen, Umweltschützern und früheren Sozialisten. Er hat keine politische Partei im Rücken und muss obendrein der Skepsis westlicher Regierungen die Stirn bieten. „Nach der Wahl wollte niemand mit uns sprechen“, klagt er. „Schon am Abend des 30. August haben wir sieben Briefe an diplomatische Vertretungen geschickt, aber niemand wollte uns empfangen. Sie haben uns Etiketten verpasst: ‚prorussisch‘, ‚proserbisch‘. Sie sagten, wir würden die Stabilität der Region gefährden, Montenegro sei kein sicherer Staat mehr.“ Er hat sie jedoch rasch beruhigt. Immer noch unter der Ägide der Kirche trafen sich die wichtigsten Vertreter der neuen Mehrheit am 8. September im Kloster Ostrog und beschlossen diverse Verpflichtungen gegenüber dem Westen. Man einigte sich darauf, die Zusammenarbeit mit der Nato zu stärken, Reformen für einen EU-Beitritt einzuleiten, Verfassung und staatliche Symbole wie Nationalflagge und -hymne nicht anzutasten und die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo nicht infrage zu stellen.
Großes Vorbild Helmut Kohl
Nach den Beschlüssen von Ostrog empfing der deutsche Botschafter Krivokapić. „Das war kein offizielles Treffen, wir haben keine gemeinsame Erklärung veröffentlicht. Ich habe ihm von meinen Erfahrungen in seinem Land erzählt und habe ihm gesagt, dass Helmut Kohl für mich ein Vorbild in Sachen Demokratie ist, die ich mir auch für Montenegro erträume.“
Đukanović, ein guter Kenner des Westens, reiste am 7. Oktober nach Berlin. Uns gegenüber wiederholt er die Warnung an seine Gegner: „Wenn die neue Mehrheit den Staat in Gefahr bringt, bekommt sie Probleme mit allen, die zehn Jahrhunderte montenegrinischer Unabhängigkeit respektieren. Die werden wir mit allen Mitteln verteidigen. Wir werden nicht darüber hinwegsehen, wie sich Russland seit 2016 eingemischt hat und den Nato-Beitritt Montenegros behindern wollte. Wir registrieren sehr wohl die großen Mengen von Schwarzgeld, den starken Einfluss, den Moskau über Belgrad auf die Medien ausübt, und die Aktivitäten der Geheimdienste.“
Die Zusammensetzung der neuen Regierung stand erst am 4. Dezember fest. Die Schwierigkeit lag in der Nominierung von Vertretern der Demokratischen Front (DF), dem stärksten Partner in der Koalition „Für die Zukunft Montenegros“. Der DF gehören 27 von 41 Abgeordneten der neuen Mehrheit an. Ihr werden enge Verbindungen zu Russland und Serbien nachgesagt. Andrija Mandić und Milan Knežević wurden 2019 wegen eines mysteriösen Umsturzversuchs drei Jahre zuvor zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Sie sprechen von einer Intrige, die Berufung läuft. Auf einen Programmpunkt, den Austritt aus der Nato, mussten sie bereits verzichten: „Wir wollten ein Referendum, aber dafür gibt es keine politische Mehrheit“, erklärt Mandić.
Der Liberale Dritan Abazović, stellvertretender Ministerpräsident und ein Liebling des Westens, verrät uns, welche Lösung gefunden wurde: „Ich glaube nicht, dass Washington etwas gegen eine Expertenregierung hat.“ Die Abgeordneten der DF fügen sich und hoffen, die für sie entscheidenden Themen voranzubringen: „Wir wollen vor allem die Verwaltung grundlegend reformieren und mit den vom Kommunismus geerbten Methoden Schluss machen“, versichert Mandić. „Außerdem sollen die Serben nicht mehr diskriminiert und vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden. Und wir kämpfen gegen die Straflosigkeit und wollen ein Gesetz einbringen, um korrupte Beamte zu entlassen.“9
Mit der Pandemie und ihren Auswirkungen auf die Wirtschaft, den inneren Widersprüchen der neuen Mehrheit und der allgegenwärtigen westlichen Bevormundung dürfte es die neue Macht schwer haben. Die Beziehungen zwischen Regierung und Staatspräsident sind angespannt, und Đukanović wird all seine Vorrechte ausnutzen. Er begann das Jahr 2021 mit der Weigerung, die ersten wichtigen, vom Parlament beschlossenen Gesetze zu unterschreiben, vor allem die Rücknahme der umstrittensten Paragrafen aus dem Religionsgesetz. Diese symbolische Geste, die das Parlament zu einer zweiten Abstimmung zwingt, hat gezeigt, dass sich der Präsident nicht scheut, die Spaltung zu verschärfen.
2 Amaël Cattaruzza, „Territoire et nationalisme au Monténégro“, Paris (L’Harmattan) 2011.
3 „Survey on Income and Living Conditions“, Monstat, 7. Dezember 2020.
4 Statistisches Jahrbuch, Monstat, 2019.
5 Vijesti, Podgorica, 12. August 2013.
7 Siehe Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin, „Brüssels Liebling“, LMd, März 2020.
8 Interview in der Tageszeitung Dan, Podgorica, 30. Oktober 2020.
9 Das Gesetz legt Bedingungen für die Anstellung im öffentlichen Dienst fest.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Ana Otašević ist Filmemacherin in Belgrad, Philippe Descamps ist Redakteur bei LMd, Paris.
Welcher Tourismus?
Montenegro lebt vor allem vom Tourismus. Vor der Coronakrise generierte die Branche ein Viertel der jährlichen Staatseinnahmen. Doch zwischen Januar und September 2020 sank die Urlauberzahl im Vergleich zum Vorjahr um 84 Prozent. Das Land erlebte nach Spanien die zweitstärkste Rezession in Europa. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte um mehr als 12 Prozent.
„Wir haben komplett auf den Tourismus gesetzt, das hat sich als keine gute Politik erwiesen“, sagt Ministerpräsident Zdravko Krivokapić, seit Dezember 2020 im Amt. In den letzten 30 Jahren wurden viele der kleinen Buchten und beschaulichen Fischerhäfen durch gigantische Apartmentblocks und Hotels verunstaltet. Der Tourismus konzentriert sich insbesondere auf die Badeorte Budva, Ulcinj und Herceg Novi.
Vier Fünftel seiner Konsumgüter muss Montenegro importieren. Landeswährung ist der Euro, obwohl das Land nicht Mitglied der Währungsunion ist. Durch die Pandemie geriet die Zahlungsbilanz 2020 aus dem Gleichgewicht: Die Rücküberweisungen und Deviseneinnahmen sind drastisch zurückgegangen. Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Regierung war die Aufnahme neuer Kredite auf den Finanzmärkten mit einem Volumen von 750 Millionen Euro, zu einem Zinssatz von 2,9 Prozent.
Der neue stellvertretende Ministerpräsident Dritan Abazović gibt sich als Umweltschützer. Seit Juli 2020 gehört seine Partei zu den Europäischen Grünen. Er glaubt, dass der alternative Tourismus in Montenegro eine Zukunft hat: „Grüne Philosophie und ökologische Lebensweise werden immer wichtiger. Wir können davon profitieren, indem wir unseren Gästen sauberes Wasser, saubere Luft und ein sauberes Meer garantieren.“
Das eigentliche Problem sei der Billigtourismus, sagt der junge Politiker und fragt: „Sollen immer mehr Besucher unsere Infrastruktur und unsere Umwelt belasten?“ In seiner Heimatstadt Ulcinj, einer von vier Hotspots des montenegrinischen Tourismus, kommen auf weniger als 20 000 Einwohner mehr als 100 000 Gästebetten, berichtet Abazović. „Dort setzt man auf Qualität und Prestige. Auch wir müssen unsere Kapazitäten begrenzen und ein teureres Reiseziel werden. Mit Übernachtungspreisen von 150 Euro hätten wir weniger Touristen und höhere Einnahmen.“
Trotz des Einwands, dass wohlhabendere Touristen seltener Stammgäste werden und die Umwelt durchschnittlich am meisten belasten, bleibt er bei seinem Credo, allerdings mit Einschränkung. Man wolle zwar noch mehr Yachthäfen der Luxusklasse wie Porto Montenegro: „Aber nicht überall!“ Der Weg aus der Abhängigkeit vom Tourismus gestaltet sich schwierig. Während viele Vermieter an der Küste ihre Gästezimmer immer noch als Pfand der Verbundenheit zu Westeuropa betrachten, setzt Abazović auf neue Straßen und Hotels in den Bergen im Norden. Die sind vor allem bei Wanderfreunden beliebt, die der zubetonierten Küste entfliehen wollen.