08.04.2021

Suffragetten mit Zigaretten

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Suffragetten mit Zigaretten

Das PR-Märchen des Edward Bernays

von Anthony Galluzzo

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Um den US-amerikanischen Werbefachmann Edward Bernays rankt sich ein Mythos: der des allmächtigen Unternehmenspropagandisten, der mittels Werbung die öffentliche Meinung beeinflussen und gesellschaftlichen Wandel bewirken konnte. Bernays, der 1995 im Alter von 103 Jahren starb, prägte mit seiner Agentur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den neu entstehenden Beruf des PR-Beraters. Seine Karriere begann im Committee on Public Information (CPI), das der demokratische Präsident Woodrow Wilson 1917 ins Leben gerufen hatte, um die US-Bevölkerung für den Kriegseintritt des Landes zu begeistern. Größere Bekanntheit erlangte Bernays danach mit seinen Büchern „Crystallizing Public Opinion“ (1923) und „Propaganda“ (1928).

Am Ende seines langen Lebens war er fast vergessen, doch das Interesse an dieser schillernden Figur ist in den letzten 20 Jahren wieder erwacht. Edward Bernays gilt als Erfinder neuer Techniken zur Massenmanipulation und wird als Begründer der modernen Propaganda und des Marketings wahrgenommen – und kritisiert. 2002 drehte der britische Dokumentarfilmer Adam Curtis die vierteilige BBC-Dokuserie „The Century of the Self“. 2007 wurde sein Hauptwerk „Propaganda“ erstmals ins Deutsche1 und ins Französische übersetzt. 2017 zeigte Arte einen Film von Jimmy Leipold,2 der ebenfalls größtenteils Bernays gewidmet war.

Die Dokus von Curtis und Leipold fokussieren auf den spektakulärsten Coup des Werbespezialisten: Er soll es gewesen sein, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Frauen zum Rauchen animiert hat. In der Tat arbeitete Bernays ab 1929 für die American Tobacco Company, in deren Auftrag er einer weiblichen Klientel den Zigarettenkonsum schmackhaft machen sollte. Im religiös-konservativen US-Bürgertum galt es für Frauen als unziemlich, zu rauchen, schon gar öffentlich. Vom Ende dieses Stigmas versprachen sich die Zigarettenhersteller eine beträchtliche Steigerung ihres Absatzes.

Bernays erfüllte seine Aufgabe, indem er bei der traditionellen New Yorker Osterparade 1929 eine Gruppe junger Frauen engagierte, die als Suf­fra­getten verkleidet an dem Umzug teilnahmen. Zu einem verabredeten Zeitpunkt zogen sie unter ihren Kleidern versteckte Zigarettenpackungen hervor und steckten sich eine an. Vorab informierte Medienvertreter berichteten am nächsten Tag von einem vermeintlichen feministischen Protest und sprachen von „Fackeln der Freiheit“ (torches of freedom).

Bernays war von dem Effekt seiner Aktion überzeugt: „Von Boston und Detroit über Wheeling in West Virginia bis nach San Francisco berichteten die Zeitungen über Frauen, die auf der Straße rauchten, als Folge der New Yorker Parade. Althergebrachte Gepflogenheiten, das lernte ich daraus, konnten mithilfe eines gut inszenierten Events gebrochen werden, wenn er über die Me­dien verbreitet wird. Das Tabu war zwar nicht komplett verschwunden, aber ein Anfang war gemacht.“3 Die Dokus von Curtis und Leipold schreiben dieses Narrativ eines Geniestreichs von Bernays fort. Ein „einzelner symbolischer Akt“ habe eine ganze Reihe von Vorstellungen und Praktiken rund um das Rauchen ins Wanken gebracht, heißt es im Filmtext.

So reizvoll diese Erzählung auch ist – sie entspricht nicht dem, was über die Geschichte des Tabakkonsums in den USA bekannt ist.4 Als Bernays seine Kampagne für die American Tobacco Company startete, war der Anteil von rauchenden Frauen bereits seit über zehn Jahren gewachsen. Die Feministinnen der damaligen Zeit hatten nicht auf Bernays gewartet, um die Zigarette zum Zeichen ihrer Emanzipation und ihres Kampfs gegen viktorianische Weiblichkeitsideale zu machen. In den 1920er Jahre eigneten sich moderne junge Frauen diverse Symbole männlicher Macht an: neben dem Rauchen auch den Konsum von hartem Alkohol und das Tragen von Sportkleidung.

Dass das Rauchen in den 1910er und 1920er Jahren Einzug in die Konsumgewohnheiten der US-Amerikanerinnen hielt, erklärt sich weniger durch geschicktes Social Engineering als durch eine Reihe wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche im Gefolge des Ersten Weltkriegs: die Integration von Frauen in bis dato Männern vorbehaltene Sphären, der Anstieg ihrer Löhne und ihrer Kaufkraft, mehr Experimentiermöglichkeiten, die Aufweichung der bürgerlichen Moral und die Entstehung einer neuen Konsummentalität. In der Folge begannen die Zigarettenhersteller ihre Produktpaletten zu diversifizieren, indem sie zum Beispiel „leichte“ oder „milde“ Sorten auf den Markt brachten, mit denen sie gezielt Frauen ansprechen wollten.

Woher stammt also das tausendfach wiederholte Märchen über die „Fackeln der Freiheit“? Von Bernays selbst. Sämtliche Schilderungen der Ereignisse basieren auf ein und derselben Quelle: Bernays Aussagen in seiner Autobiografie und seinen Interviews. Unterschiedlichste Autoren haben seine Bücher wie wissenschaftliche Werke behandelt, die verlässlich Auskunft über die Vergangenheit geben. Dabei handelt es sich dabei in erster Linie ebenfalls um – Werbemittel.

Dem PR-Meister Bernays war selbstverständlich daran gelegen, sich Ideen und Heldentaten zuzuschreiben, die seinen Ruf festigten und ihm neue Kunden verschafften. Viele Jahrzehnte später müssen wir feststellen, dass viele Essays und Dokus, die den Einfluss der Public Relations auf das menschliche Bewusstsein anprangern wollen, unfreiwillig Bernays’ Selbstglorifizierung reproduzieren.

Dass sich die Mär von den „Fackeln der Freiheit“ so erfolgreich verbreiten konnte, ist unserer Neigung geschuldet, die Welt als Bühne zu betrachten, auf der intrigante Täter darauf hinarbeiten, die Menschheit ins Unglück zu stürzen. Die Geschichte ist Ausdruck einer oberflächlichen Gesellschaftskritik, mit romantischen oder mythologischen Zügen, derzufolge ein einzelner genialer Manipulator den Lauf der Geschichte umkehren kann. Diese nur vermeintlich kritische Sichtweise trägt eher zu einem apolitischen Geschichtsverständnis bei: Nicht die gesellschaftlichen Strukturen sind das Problem, sondern das Handeln einzelner Bösewichte.

Diese Erzählung hält einer Überprüfung jedoch nicht stand: Es stimmt zwar, dass Bernays für das CPI arbeitete und dass er im Anschluss die dort erlernten Techniken bei der Beratung großer Unternehmen nutzte, doch so oder so ähnlich sah der Werdegang einer ganzen Generation von Propagandisten aus. Andere Branchengrößen wie Ivy Lee oder Carl Byoir hatten ähnliche Berufsbiografien. Im Übrigen beriet Lee schon lange vor Bernays das US-amerikanische Großkapital. So leitete er 1914 eine Pressekampagne für den Industriemagnaten John D. Rockefeller, nachdem die Nationalgarde von Colorado einen Bergarbeiterstreik in dessen Kohlebergwerk in Ludlow blutig niedergeschlagen hatte.

Die Public Relations florierte, auch ohne dass es einen Bernays, Lee oder sonst jemandes gebraucht hätte. Ihre Anfänge lassen sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ausmachen, als die ersten großen US-Eisenbahnbahngesellschaften versteckte Werbung in Presseerzeugnissen platzierten und Zeitungen aufkauften, um sich gegen unliebsame Berichterstattung zu wappnen.5

Einen spürbaren Aufschwung erfuhr die Branche ab den 1890er Jahren, als sich in den USA eine neue Form des Investigativjournalismus herausbildete, die man als Muckracking (im Dreck herumwühlen) bezeichnete. Dabei wurden regelmäßig die neuen Industriegiganten und ihre immensen Vermögen ins Visier genommen. „Es gibt einen klaren zeitlichen Zusammenhang zwischen der Entstehung des Muckraking und den Anfängen der Public Relations“, schreibt etwa der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Tedlow in seiner Geschichte des Corporate Branding von Privatunternehmen.6

Die Geburt der PR fiel auch zusammen mit dem Aufkommen großer mehrspartiger Konzerne mit Tausenden von Beschäftigten und der Kon­trol­le über internationale Warenflüsse. Durch die Akkumulation riesiger finanzieller Ressourcen war es diesen Unternehmen möglich, durch die Nutzung sämtlicher neuer medialer Möglichkeiten ihr Geld in Einfluss zu verwandeln. Sie sind die wahren Akteure der kapitalistischen und medialen Moderne, nicht ihre Angestellten und Berater – wie brillant diese auch gewesen sein mögen.

1 Edward Bernays, „Propaganda. Die Kunst der Public Relations“, Freiburg i. Br. (Orange Press) 2007.

2 Jimmy Leipold, „Edward Bernays und die Wissenschaft der Meinungsmache“, Institut national de l’audiovisuel – Arte France, 2017.

3 Edward Bernays, „Biography of an Idea: The Founding Principles of Public Relations“, New York (Simon and Schuster) 1965.

4 Cassandra Tate, „Cigarette Wars: The Triumph of,The Little White Slaver‘“, New York (Oxford University Press) 1999.

5 David Miller und William Dinan, „A Century of Spin: How Public Relations Became the Cutting Edge of Corporate Power“, London (Pluto Press) 2007.

6 Richard Tedlow, „Keeping the Corporate Image: Public Relations and Business, 1900–1950“, Bingley (JAI Press) 1979.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Anthony Galluzzo lehrt Betriebswirtschaft an der Universität Saint-Étienne. Autor von „La Fabrique du consommateur. Une histoire de la société marchande“, Paris (La Découverte) 2020.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2021, von Anthony Galluzzo