Italien – Drama in drei Akten
Als EZB-Chef diktierte Mario Draghi der Regierung in Rom eine harte Sparpolitik und neoliberale Reformen. Seitdem hat das Land politische Instabilität und die Auflösung des Links-rechts-Schemas erlebt. Frisch zum Ministerpräsidenten berufen, gibt sich Draghi als Retter der coronageplagten Nation.
von Stefano Palombarini
Wieder einmal hat Italien seinen Ruf als Labor für Politikexperimente bestätigt. Zehn Jahre nach Mario Monti und seiner Technokratenregierung ist vor zwei Monaten eine weitere ehemalige Führungskraft von Goldman Sachs im Palazzo Chigi eingezogen.
Mario Draghi behauptet von sich – wie früher Mario Monti, aber auch wie Emmanuel Macron im französischen Präsidentschaftswahlkampf von 2017 –, dass er über den Parteien stehe und die aufgeklärte Sicht des Experten vertrete. Dabei bewegt sich Draghi nur exakt zwischen den von Brüssel eingerammten Pflöcken, die da heißen „orthodoxe Haushaltspolitik“ und „Neoliberalismus“. Dennoch beansprucht er, die Kluft zwischen rechts und links zu überbrücken. Denn der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) hat es geschafft, das komplette italienische Parteienspektrum von links bis rechts außen hinter sich zu versammeln.
Das gilt auch für die Parteien, die durch ihre Opposition gegen die orthodoxe Haushaltspolitik groß geworden sind: Draghi konnte sich sogar die Unterstützung der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und der Lega sichern, die beide mit ihrem Versprechen, die Sparpolitik zu beenden und sich dem EU-Diktat zu widersetzen, die Parlamentswahl vom 4. März 2018 gewonnen hatten.
Dass rechtsextreme Minister in Draghis Regierung sitzen, hat innerhalb der EU erstaunlich wenig Aufsehen erregt; und zwar weder in den Hauptstädten noch in den Medien, die die nationale Koalition als musterhaftes Produkt des gesunden Menschenverstands feierten. Es gab auch keine Empörung über eine demokratische Kultur, in der es möglich ist, dass im März 2018 das Wahlvolk mehrheitlich gegen die von Brüssel diktierte Sparpolitik stimmt und drei Jahre später ohne neuerlichen Urnengang eine Regierung serviert bekommt, die genau diese Politik vertritt.
Rechtsextreme Minister im Kabinett
Die Geschichte dieser Kehrtwende ist ein Politdrama in drei Akten. Der erste Akt spielte im August 2011. Der frisch ernannte EZB-Präsident Mario Draghi teilte dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi in einem Schreiben mit, wie er in den Genuss von EZB-Hilfen kommen könnte: Er habe die Staatsausgaben und die Renten zu kürzen, den Dienstleistungssektor zu liberalisieren, den Kündigungsschutz zu lockern und die Beamtengehälter zu senken.
Dem konnte sich die Regierung in Rom nicht widersetzen, denn ohne EZB-Hilfen wären die Zinsen für die Staatsanleihen seines Landes gestiegen und die Situation untragbar geworden. Doch die rechte Mehrheit war zu uneins, um bei diesem Programm mitzumachen. Drei Monate nach Draghis Schreiben wurde Berlusconis Haushaltsentwurf im Parlament abgelehnt. Das Ruder übernahm der parteilose „Experte“ Mario Monti, ein ehemaliger EU-Kommissar für Wettbewerb.
Es folgten sieben Jahre, in denen sich vier Ministerpräsidenten in rascher Folge ablösten: Nach Monti kamen Enrico Letta, Matteo Renzi und Paolo Gentiloni. Die Geschäftsgrundlage dieser Regierungen, die sich allesamt für institutionelle Reformen im Geiste des Neoliberalismus starkmachten, war das Einvernehmen zwischen der Mitte-links-Partei Partito Democratico (PD) und Berlusconis Forza Italia. Sozialer Träger dieser Allianz waren die begüterten Klassen und weite Teile der Mittelschicht, die sich über die traditionelle Rechts-links-Kluft hinweg zu einem „bürgerlichen Block“ formierten.1 Eine ähnliche gesellschaftliche Koalition hat Macron wenige Jahre später in Frankreich geschmiedet.
Der zweite Akt folgte im März 2018: Bei den Parlamentswahlen wurden die Parteien, die der Marschroute der EZB gefolgt waren, massiv abgestraft. Der bürgerliche Block zerfiel, weil er große Teile der Arbeiterklasse nicht gewinnen konnte und auch die Mittelschicht nicht mehr mitzog. Die Forza Italia und der PD, die zehn Jahre zuvor zusammen 70 Prozent der Stimmen geholt hatten, kamen nur noch auf 32 Prozent. Zugleich erzielte die bisherige Opposition beachtliche Erfolge. Matteo Salvinis Lega wurde erstmals zur stärksten Partei
auf der Rechten und die M5S mit fast einem Drittel der Wählerstimmen sogar zur stärksten Kraft im ganzen Land.
Und nun, im Februar 2021, der dritte Akt: Obwohl die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sich seit der Wahl im März 2018 nicht verändert haben, muss zum dritten Mal eine neue Regierung berufen werden. Die beiden Vorgängerregierungen – die Koalition aus Lega und M5S wie die aus M5S und PD – hatten jeweils nur ein gutes Jahr gehalten. Jetzt erging der Auftrag zur Regierungsbildung an Mario Draghi, der dem bürgerlichen Block 2011 mit seinem Schreiben an Berlusconi das neoliberale Rezeptbuch zugestellt hatte.
Es erscheint ziemlich überraschend, dass der ehemalige EZB-Chef als Mann der Stunde begrüßt wurde – und zwar nicht nur von den Parteien, die für ihr Bemühen, Draghis Programm umzusetzen, bei den Wahlen abgestraft wurden, sondern auch von den denen, die mit ihrer Opposition gegen dieses Programm die Regierungsmacht erobert hatten.2
Die Signale des neuen Ministerpräsidenten lassen keinen Zweifel daran, dass er das Land auf den Kurs marktradikaler Reformen zurückbringen will. Als seinen Wirtschaftsberater berief er Francesco Giavazzi, einen jener „Experten“, die der Regierung Monti eine Liste für die Streichung von Staatsausgaben erstellt hatte.3 In seiner ersten Rede vor dem Senat erklärte Mario Draghi am 17. Februar, er werde schon bald neue Reformen bekannt geben. Und zwar mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und das Steuersystem zu „vereinfachen“, sprich: Steuern und Abgaben zu senken. Zudem wolle er Wissenschaft und Forschung durch die Gründung von „Exzellenzzentren“ fördern.
Vor allem aber kündigte er an, seine Regierung werde die Gelder aus dem Wiederaufbaupaket „Next Generation EU“, das die Union in Reaktion auf die Coronapandemie bewilligt hat, selektiv und nach eigenem Gutdünken verwenden. Doch diese EU-Hilfen werden beileibe nicht der Geldsegen sein, den die italienischen Medien suggerieren, wenn sie eine Summe von über 200 Milliarden Euro in den Raum stellen.
Diese Fantasiezahl ergibt sich aus der – ökonomisch unsinnigen – Addition von Finanzhilfen aus einem Fonds, in den Italien genauso einzahlen muss wie die anderen EU-Mitglieder, und von Krediten, die die EU-Kommission auf eigene Rechnung aufnehmen könnte, damit Italien auf den internationalen Anleihemärkten weniger Zinsen zahlen muss. In Wahrheit werden die Hilfen maximal 66 Milliarden Euro betragen – verteilt auf sechs Jahre. Das macht 11 Milliarden pro Jahr, nur knapp 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das 2020 um fast 9 Prozent eingebrochen ist.4
Es handelt sich also um eine bescheidene Unterstützung, die in keinem Verhältnis zur Dimension des BIP-Einbruchs steht und nicht ausreichen wird, um die Wirtschaft signifikant anzukurbeln. Zudem setzt die Verwendung der Finanzhilfen und der in Anspruch genommenen Darlehen einen Plan voraus, der mit den europäischen Institutionen ausgehandelt werden muss.
Doch der neue Regierungschef hat vor dem Senat bereits erklärt, dass er nicht mit schwierigen Verhandlungen rechnet. Warum? Draghis Vorstellungen von einer „wirksamen“ Verwendung der Gelder deckt sich in allen Punkten mit denen der EU-Kommission, wonach die „Corona“-Finanzhilfen in erster Linie an die Unternehmen fließen müssen. Für die Privathaushalte, die durch den historischen Produktionseinbruch in Armut gerutscht sind, hatte Draghi nur das übliche neoliberale Versprechen einer „aktiven Beschäftigungspolitik“ parat, die bessere Aussichten für eine „Aus- und Weiterbildung von Arbeitnehmern und Erwerbslosen“ biete.
Außerdem machte Draghi klar, dass sich seine Regierung die vielen Firmen, die durch den Umsatzeinbruch gefährdet sind, genau ansehen werde, um zwischen sicheren Konkursfällen und weiterhin wettbewerbsfähigen Unternehmen zu unterscheiden. Nur Letztere dürfen mit Hilfen aus dem Wiederaufbaupaket rechnen.
Unter dem Vorwand, den digitalen und ökologischen Wandel vorantreiben zu wollen, stellt die Regierung die Weichen für eine tiefgreifende Reform des italienischen Kapitalismus. Diese Reform, die nicht über den regulären Gesetzgebungsweg erfolgt, hat in erster Linie das Ziel, die Produktionsstruktur derjenigen Unternehmen zu entrümpeln, die vor allem Geringqualifizierte beschäftigen, zu stark auf den einheimischen Markt ausgerichtet sind oder sich mit angeblich zu konfliktfreudigen Gewerkschaften arrangieren müssen.
Am (vorläufigen) Ende des Dreiakters haben wir folgende Situation: Die Strategie, die seit 2011 die italienische Politik bestimmte und 2018 mit breiter Mehrheit abgewählt wurde, feiert mit nahezu einhelliger Rückendeckung des Parlaments ein triumphales Comeback – und das ohne Neuwahlen. Um zu erklären, warum die Geschichte ein so bizarres Ende nimmt, muss man 30 Jahre zurückblicken.
Trotz der vielen Regierungswechsel war Italien im Kreis der demokratischen Staaten lange Zeit ein Muster politischer Stabilität. Damit war es Anfang der 1990er Jahre vorbei, als die zentristische Democrazia Cristiana (DC), die seit 1948 die tragende Säule jeder Regierung gewesen war, ebenso von der Bildfläche verschwand wie die Parteien, mit denen sie koaliert hatte. Diese Entwicklung führten viele auf die umfangreichen juristischen Ermittlungen gegen Korruption („mani pulite“) zurück, die als gesunde Erneuerung der politischen Klasse gesehen wurden.
Doch die Ursachen für die Krise lagen viel tiefer. Die hing nämlich mit dem Auseinanderbrechen eines Gesellschaftskompromisses zusammen, der mindestens seit Ende der 1970er Jahre auf einer hohen Staatsverschuldung und der Benachteiligung der abhängig Beschäftigten basierte. Ein weiterer Grund war, dass sich die Kommunistische Partei (PCI), die trotz ihrer permanenten Oppositionsrolle die wichtigste linke Kraft in Westeuropa war, nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 ideologisch neu orientierte. Sie änderte mehrfach ihren Namen und begab sich Schritt für Schritt auf einen „Dritten Weg“, der von dem Soziologen Anthony Giddens5 theoretisch vorgezeichnet und von Tony Blair in Großbritannien und Bill Clinton in den USA in Politik umgesetzt wurde.
So begann in den frühen 1990er Jahren der Versuch eines demokratischen Politikwechsels, der sich am Ende als Fehlschlag erwies. Das gesellschaftliche Bündnis auf der Rechten war von Anfang an gespalten: Hier die kleinen und mittleren Unternehmer aus dem Norden, die neoliberale Reformen und die europäische Integration befürworteten; dort die breiten benachteiligten Schichten vor allem aus Mittel- und Süditalien, die unter der durch EU-Vorgaben erzwungenen Sparpolitik besonders zu leiden hatten. Ein gesellschaftliches Lager, auf das die Mitte-links-Parteien sich hätten stützen können, war jedenfalls nur hypothetisch vorhanden.
Dritter Weg der Technokraten
Der „Dritte Weg“ setzt auf Chancengleichheit statt auf Gleichheit der Lebensverhältnisse und vertraut blind auf die Segnungen des freien Markts. In Italien führte der Versuch, die Linke mit diesen Rezepten zu erneuern, zu einer Entfremdung von großen Teilen der lohnabhängigen Klasse. Die Gegensätze innerhalb der beiden gesellschaftlichen Koalitionen führten dazu, dass zwischen 1994 und 2011 alle Regierungen unter internen Meinungsverschiedenheiten litten und am Ende scheiterten. Die letzte war die vierte Berlusconi-Regierung, die im November 2011 ihre Parlamentsmehrheit verlor.
Damals war man sich kaum bewusst, wie schwierig es ist, ein bipolares politisches System zu etablieren. Die PD, in der eine breite Mehrheit den „Dritten Weg“ einschlagen wollte, empfand die Ansprüche der Arbeiterschaft als Hindernis auf dem Weg zur Modernisierung der Wirtschaft. Sie näherte sich zusehends der neoliberalen Fraktion der Rechten an und ebnete damit den Weg für das Experiment des bürgerlichen Blocks.
Dieser Block war also nicht nur eine Interessenkoalition, in der die Mittel- und Oberschicht mit vereinten Kräften für neoliberale Reformen eintraten. Der bürgerliche Block war zugleich ein kulturelles und ideologisches Projekt, mit dem die politische Sphäre von Grund auf neu strukturiert werden sollte.
Dieses Projekt, das zugleich in vielen Ländern angegangen wurde, hatte in Italien durchschlagenden Erfolg. Hier entsprachen die Programme der politischen Akteure und die Erwartungen der Wählerschaft nicht mehr dem bipolaren Rechts-links-Schema; sie positionierten sich vielmehr in einem Raum, in dem sich EU-Anhänger und Nationalisten, Kosmopoliten und Identitäre, Föderalisten und Souveränisten gegenüberstanden. Auch die meisten Medien betonten unablässig die angebliche Trennlinie zwischen „vernünftigen“ politischen Programmen – die auf neoliberalen Wandel setzen – und „populistischen“ Positionen, die man allen Gegnern dieser Politik zuschrieb.
Der Sieg der M5S und der Lega bei den Parlamentswahlen vom März 2018 war einerseits eine Wahlschlappe für den bürgerlichen Block. Doch andererseits wurde dessen hegemoniale Stellung zementiert, weil dieser Block es schaffte, selbst seinen Gegnern den strategischen Bezugsrahmen vorzugeben. Im Wahlkampf hatte sich die Lega das (aufgesetzte) Image einer europafeindlichen und nationalistischen Partei zugelegt, während die Fünf-Sterne-Bewegung gegen die „Kaste“ der gewählten Mandatsträger und privilegierten „Eliten“ angetreten war.
Damit gaben beide Bewegungen vor, sich in genau dem politischen Raum jenseits des Rechts-links-Schemas zu positionieren, den der bürgerliche Block definiert hatte. Dieser Raum hat zwei Pole. Der eine ist der bürgerliche Block selbst: eine verhältnismäßig homogene Allianz, die sich als europafreundlich und progressiv versteht und dabei gern verschleiert, dass die neoliberale Reformpolitik für sie nach wie vor eine zentrale Rolle spielt.
Gesellschaftlich ist dieser bürgerliche Block allerdings in der Minderheit. Den anderen Pol bildet eine sozial heterogene Mehrheit, die programmatisch – mehr oder weniger – auf die Ablehnung der Eliten, auf EU-Feindlichkeit und auf einen rassistisch eingefärbten Nationalismus setzt. Die erste Regierung von Giuseppe Conte, die sich auf das Bündnis zwischen den beiden Wahlsiegern von 2018 stützte, zeigte überdeutlich, wie schwierig es ist, eine vermittelnde Strategie zu finden, mit der sich diese gesellschaftliche Mehrheit zu einem kompakten Block formen lässt.
Das nicht viel bessere Schicksal der zweiten Conte-Regierung (M5S/PD) beweist allerdings, dass die Chancen auf einen Neuaufbau der Linken – und sei es auch nur in zartem Rosa – entschieden gegen null tendieren, solange diejenigen Kräfte den Ton angeben, die den Rechts-links-Gegensatz für irrelevant erklären.
In dem Raum, den die Ideologie des bürgerlichen Blocks strukturell vorgibt, gibt es nur eine einzige stimmige politische Strategie: die des bürgerlichen Blocks. Dies erklärt, warum der italienische Dreiakter zum Schluss eine so überraschende Wendung nahm und die Nation sich um ein liberales und europafreundliches Projekt schart, das gesellschaftlich eine Minderheitenmeinung darstellt.
Dieser Schlussakt ist jedoch nur eine Momentaufnahme. Es werden weitere Akte folgen, deren Protagonisten die Klassen sein werden, denen die vollzogenen Strukturreformen am meisten zusetzen. Die Frage ist nur, in welcher Rolle und mit welchen Mitteln. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt ebenso offen wie die eigentlich entscheidende Frage: Werden diese Klassen nach einem neuen demokratischen Weg suchen, nachdem sie die desillusionierende Erfahrung machen mussten, dass sie nach einem zunächst als Sieg gefeierten Wahlergebnis eine Regierung Draghi bekommen haben?
Wie die Geschichte weitergeht, wird vor allem davon abhängen, ob es den Gegnern der neoliberalen Reformen gelingt, die konkreten Folgen der gesellschaftlichen Krise wieder ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung zu rücken: die zunehmend prekären Lohnarbeitsverhältnisse, die dramatisch wachsende Ungleichheit, den Sozialabbau und die Verschlechterung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Nur wenn das gelingt, kann die Vorherrschaft des bürgerlichen Blocks überwunden oder gar gebrochen werden.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Stefano Palombarini lehrt an der Université Paris 8.