Alibaba Supermacht
Jack Mas Konzern und die chinesische Führung
von Jordan Pouille
Am 24. Oktober 2020 prophezeite Jack Ma den führenden Bankern der Welt selbstbewusst das Ende des Bankensystems, wie wir es kennen. Auf dem 2. Bund Summit in Schanghai zitierte der Gründer des chinesischen Onlinehandelsriesen Alibaba den bekannten Spruch: „Wenn Sie sich 100 000 Yuan leihen, haben Sie Angst vor der Bank; wenn es 10 Millionen sind, geraten Sie wie die Bank in leichte Panik; wenn Sie sich 1 Milliarde leihen, bekommt die Bank Angst vor Ihnen.“
Anschließend skizzierte Jack Ma „ein neues Finanzsystem, das wirklich für die Zukunft ausgelegt ist“ und das „Innovation und Regulierung in Einklang bringen“ soll. Die „Innovation“, die der Mann im Sinn hat, der eigentlich Ma Yun heißt und sich im September 2019 aus Alibaba zurückgezogen hat, ist ein Finanzsystem, das auf einer digitalen Währung basiert.
Jack Ma vergaß natürlich nicht, seine eigene Schöpfung zu erwähnen: die Ant Group, die Finanzsparte von Alibaba, die Kredite in großem Umfang und ohne Sicherheiten an Privatkunden sowie kleine und mittlere Unternehmen vergibt. „In den letzten 16 Jahren haben wir uns auf das Ziel einer ökologischen, nachhaltigen und inklusiven Entwicklung konzentriert. Wenn ökologische, nachhaltige und inklusive Finanzierungen der falsche Weg sein sollen, werden wir ihn wieder gehen, immer und immer wieder.“
Solch hochfliegendes Pathos dürfte weder dem chinesischen Vizepräsidenten Wang Qishan noch dem Chef der chinesischen Zentralbank Yi Gang gefallen haben, die auf derselben Konferenz gesprochen hatten. Kurz darauf, am 2. November, wurde Ma von der Finanzaufsicht zu einem Gespräch einbestellt. Tags darauf wurde der Börsenstart der Ant Group in Schanghai und Hongkong abgesagt. Der bombastisch angekündigte Börsengang der Finanztochter von Alibaba fiel ins Wasser.
Im Dezember 2020 wurden Ermittlungen über die angeblich wettbewerbsfeindlichen Geschäftspraktiken des Unternehmens eingeleitet. Der berühmteste Milliardär des Landes verschwand für 88 Tage, was Befürchtungen aufkommen ließ, er sei verhaftet worden oder ins Ausland geflohen. Doch dann tauchte Ma wieder in der Öffentlichkeit auf: In einem kurzen Video gratulierte er Dorfschullehrern, die von seiner Stiftung unterstützt werden. Kurz darauf wurde er beim Golfen auf der Insel Hainan gesichtet.
Für Jack Ma persönlich endete das Coronajahr 2020 nicht angenehm, aber für sein Online-Imperium Alibaba war es ein gutes Jahr. Ma ist nach seinem Rückzug weiterhin Berater des Vorstands, und auch nach dem Verkauf von 1,4 Prozent seiner Unternehmensanteile im Juli 2020 (für 8,2 Milliarden Dollar) immer noch zweitgrößter Einzelaktionär (siehe Kasten auf Seite 8).
In China haben die Onlineverkäufe im letzten Jahr um 11 Prozent zugenommen. Inzwischen machen sie ein Viertel der Einzelhandelsumsätze mit Konsumgütern aus.1 Eines der weltweit meistbesuchten Onlineshoppingportale ist die 2003 gegründete Alibaba-Tochterfirma Taobao, eine Plattform, auf der kleine und mittlere Unternehmen, aber auch Einzelpersonen ihre Produkte anbieten können.2
2008 kam eine weitere Plattform namens Taobao Mall (später in Tmall umbenannt) dazu, die es großen chinesischen und internationalen Marken und
ihren Vertragshändlern ermöglicht, direkt an die Verbraucher zu verkaufen. Die französische Luxuskosmetikmarke Lacôme beispielsweise tätigt ihren gesamten Verkauf in China über Tmall. Als Nächstes lancierte Alibaba das Onlinebezahlsystem Alipay und den Amazon-ähnlichen Zustelldienst Cainiao. Zwischen 2008 und 2018 wurden 80 Prozent des gesamten chinesischen Onlinehandels über Taobao abgewickelt.
Zu den Stärken von Taobao gehört, dass Verkäufer und Kunden unkompliziert miteinander kommunizieren können. Seit dem Start von Taobao gibt es einen Chatroom, in dem beide Seiten vor jeder Transaktion direkten Kontakt aufnehmen können. Außerdem hat Taobao junge Influencer, die sogenannten Wang Hong, als Verkaufsberater eingespannt, um das Teleshopping anzukurbeln. Der Erfolg zeigte sich schon 2009, als es erstmals gelang, den am „11. 11“. begangenen „Singles Day“ zu einem 24-Stunden-Shoppingspektakel zu machen. 2020 meldete Taobao an diesem inoffiziellen Feiertag 583 000 Transaktionen pro Sekunde.
Doch Firmenchef Ma hatte noch größere Pläne. Im Blitztempo baute er einen großen Mischkonzern auf, zu dem mittlerweile Supermarktketten, ein Essenslieferdienst, ein Cloud-Computing-Anbieter gehören. Er investierte in Filmproduktionen, entwickelte das Leit- und Navigationssystem AutoNavi und gründete das an Youtube angelehnte Videoportal Youku. In Hongkong erwarb er die auflagenstärkste englischsprachige Zeitung, die South China Morning Post.
Ma engagierte sich auch in der Finanzbranche und gründete in Hanghzou (Zhejiang) das Finanztechnologie-Unternehmen Ant Financial, aus dem später die Ant Group wurde. Ma selbst behauptet, dass die Idee auf eine Kränkung zurückgeht, die ihm angeblich 1995 widerfahren ist. Damals habe er als junger Geschäftsmann den Plan gehabt, Websites für Unternehmen zu bauen, und dafür einen Kredit beantragt. Erst nach drei Monaten bekam er von der Bank einen Bescheid, und der war negativ.
Vier Jahre später schuf Ma die Website Alibaba.com, zusammen mit 17 Partnern, zu denen der taiwanisch-kanadische Steueranwalt Joseph Tsai gehörte. Dafür hatte er bei der japanischen Softbank einen Kredit von 20 Millionen Dollar aufgenommen. Als Alibaba 2014 in New York an die Börse ging, wurde das Unternehmen auf 60 Milliarden Dollar bewertet.
Die Ant Group, an der Alibaba zu einem Drittel beteiligt ist, betreibt seit 2004 das Onlinebezahlsystem Alipay, das 2008 in eine mobile App umgewandelt wurde, Heute laufen fast 56 Prozent aller Smartphone-Einkäufe über Alipay, das damit den Bezahldienst WeChat Pay des Konkurrenten Tencent weit hinter sich gelassen hat.3 Heute ist es in China, wo 2017 (nach Weltbank-Daten) nur ein Fünftel der Bevölkerung eine Kreditkarte besaß, selbst in kleinen Läden üblich, per Smartphone zu zahlen. Immer mehr Händler nehmen kein Bargeld mehr an, was die Älteren benachteiligt. Die chinesische Zentralbank hat das immer wieder gerügt: „Zahlungsinstitute, die keine Banken sind, sollten darauf verzichten, das Konzept der bargeldlosen Bezahlung zu fördern und die Barzahlung zu diskriminieren.“4
2015 führte Alipay den Kreditservice Huabei ein. Die Nutzer werden mit Aktionsrabatten für alles Mögliche gelockt: vom Online-Einkauf auf Tmall oder Taobao über den Restaurantbesuch bis zur Behandlung im Schönheitssalon. Das Geld fließt direkt auf das Konto des Verkäufers, der Käufer muss den Kredit bis zum 10. des Folgemonats zurückzahlen. Zinsen werden normalerweise nicht fällig, doch das Portal verführt seine Kunden zum ständigen Konsum, ohne dass diese auf die Auszahlung ihres Monatslohn warten müssten. Einen ähnlichen Service bietet die Plattform Jiebei für kleine und mittlere Unternehmen an, die von den traditionellen Geldhäusern lange Zeit ignoriert wurden.
Diese Darlehen oder Vorauszahlungen sind auf die Bedürfnissen der Kunden zugeschnitten, die nach einem System namens Zhima credit („Sesam-Punkte“) ermittelt werden, das ähnlich wie der credit score in den USA5 funktioniert. Für jeden Alipay-Nutzer wird auf Grundlage seines bisherigen Kauf- und Zahlungsverhaltens ein Score errechnet. Je höher dieser Score, desto größer das Darlehen und desto länger die Rückzahlungsfrist. Tag für Tag werden so Milliarden von Daten gesammelt und ausgewertet, um möglichst vielen Kundinnen und Kunden das Shopping auf Kredit zu ermöglichen.
Ein guter Zhima-Score garantiert auch die Zugehörigkeit zum Club der „tugendhaften Konsumenten“. Die müssen in Hotels keine Anzahlung leisten, bekommen in Restaurants ein Handyladekabel zur Verfügung gestellt und genießen in Bibliotheken längere Ausleihfristen (und die Liste der Privilegen ist noch viel länger). Umgekehrt kommt ein schlechter Score einem wirtschaftlichen Bannfluch gleich.
Branden Zhang spielt das Thema herunter: „Über Zhima sind viele Fantasiestorys im Umlauf“, meint der Ex-Manager von Ant South-East Asia in Singapur. Er denkt dabei an die wiederholten Vorwürfe, wonach es einen Datenaustausch zwischen Jack Mas Zhima credit und dem Sozialkreditsystem gebe, das die chinesische Regierung seit 2014 erprobt und das „gute“ Bürger mit Pluspunkten belohnt, „schlechten“ dagegen Punkte abzieht.6 „Natürlich würde kein anderes Land einem chinesischen Unternehmen Zugang zu so vielen Daten gewähren wollen“, erläutert Zhang. „Doch der Zugang zu diesen persönlichen Daten ist technisch begrenzt, auch wenn die chinesische Regierung gern den Eindruck erweckt, dass sie alles kontrolliert.“
Club der tugendhaften Konsumenten
Laut Zhang hat der chinesische Staat dem Aufstieg von Alibaba tatenlos zugesehen. „Bei Ihnen lässt man die Autos fahren, wenn die Straßen fertig und die Ampeln aufgestellt sind. Hier ist es anders. Die Ampeln kommen später. Genauso lief es bei der wirtschaftlichen Öffnung des Landes. Man experimentiert, man sammelt Daten und reguliert wird später: Wenn es irgendwann Regeln gibt, kann man die natürlich nicht mehr übergehen.“
Genau das ist passiert, als die Expansion der Ant Group ausgebremst und ihr Börsengang abgesagt wurde. Es stimmt zwar, dass Ma mit seiner Kritik an der „Pfandleiher“-Mentalität der staatlichen chinesischen Banken und seiner Warnung vor Kontrollen bei der Staatsführung und speziell bei Präsident Xi Jinping großes Missfallen auslöste. Doch dabei ging es der Pekinger Regierung vor allem darum, die Kontrolle über die Kreditvergabe und die Geldmenge zu behalten.
„Die jüngsten Maßnahmen haben das Ziel, systemische Risiken zu vermeiden“, erklärte im Dezember 2020 der frühere Finanzminister Lou Jiwei auf dem China Wealth Management 50 Forum in Shenzhen. „Wenn ein Problem auftritt und die Regierung einspringt, geht das auf Kosten der Steuerzahler. Wir müssen das Szenario ‚too big to fail‘ im Fintech-Bereich verhindern“, meinte Jiwei mit Blick auf die Subprime-Krise von 2008 in den USA.
Die chinesische Regierung wird nicht zulassen, dass die Verwaltung privater Schulden an ein paar Finanz-Start-ups ausgelagert wird. Der Ex-Minister weiß genau, wie viele Geschäftsbanken von notleidenden Krediten untergraben sind. Im Sommer 2020 ging die Baoshang Bank in der Inneren Mongolei pleite, nachdem sie faule Kredite angehäuft hatte, die man in Peking lange ignoriert hatte.
Was die Systemrelevanz betrifft, so ist Ant „eines der wichtigsten Finanzinstitute der Welt“, sagt der Finanzexperte Felix Salmon von der US-Nachrichtenwebsite Axios. „Doch derzeit wird es kaum reguliert. Wenn ein Tech-Unternehmen zugleich ein systemrelevantes Finanzinstitut ist, muss es genauso streng reguliert werden wie jeder andere große Finanzdienstleister auch.“7
Das Projekt des Jack Ma, eine nicht an Staaten gebundene Digitalwährung zu schaffen – wie es Facebook-Chef Zuckerberg mit Diem (anfangs Libra) vorhatte –, nährt die Befürchtungen, der chinesische Milliardär könne ein nicht mehr zu kontrollierendes Imperium errichten. Zumal Ant Group ausländische Investoren ins Boot holen konnte, darunter einen Staatsfonds aus Singapur mit 780 Millionen Dollar, den malaysischen Staatsfonds mit 650 Millionen Dollar und den kanadischen Rentenfonds Canada Pension Plan Investment Board mit 600 Millionen Dollar.
Bei einer letzten Finanzierungsrunde konnten 2018 noch die US-Fonds Silver Lake Management, Calyle und Warburg Pincus mit insgesamt 500 Millionen Dollar gewonnen werden.8 Mittlerweile arbeitet auch die chinesische Zentralbank an einer digitalen Währung, mit der über Alipay und WeChat Pay bezahlt werden könnte.9
Das Urteil über Ant Group ist gefallen: In China wird es bis auf Weiteres keinen Börsengang geben – Pech für die Investoren und ihre Rendite –; und das „Too big to last“-Ungetüm wird mindestens teilweise zerschlagen. Vielleicht kann Jack Ma aus seiner Schlappe noch das Beste machen und seine ambivalente Rolle beenden: Auf der einen Seite der bescheidene Englischlehrer, der zum altruistischen Unternehmer wurde. Auf der anderen Seite der narzisstische Geschäftsmann, der die Großen der Welt belehrt will und Präsident Xi ins Gehege zu kommen droht.
In einem 2014 von CNN ausgestrahlten Werbespot hatte Ma getönt, er wolle die Provinz Guizhou aus der Armut befreien, indem er US-Hightech-Unternehmen in sein neues „Big Data Valley“ lockt. In Wuhan stellte er seine Technologie der Provinzregierung von Hubei zur Verfügung, damit diese die Infektionswege im Umfeld des Corona-Epizentrums verfolgen konnte.
Die Algorithmen von Alibaba verarbeiteten Daten über Taxi- und Zugfahrten und über Einkäufe via Alipay. Personen mit geringem Infektionsrisiko wurden mittels eines grünen QR-Code auf dem Handy von der Ausgangssperre befreit. Mit der Zeit wurde das System auf ganz China ausgeweitet. Es war das erste Mal, dass die Regierung und Alibaba so offen zusammenarbeiteten.
Trotz seiner beflissenen Haltung gegenüber den Herrschenden sparte Ma aber nicht mit Belehrungen. Im Januar 2017 versprach er dem gerade gewählten Donald Trump, innerhalb von fünf Jahren in den USA 1 Million Arbeitsplätze zu schaffen, eine Woche später las er der US-Industrie in Davos die Leviten: „In 30 Jahren haben IBM, Cisco und Microsoft haufenweise Geld verdient. Der Gesamtgewinn, den sie gemacht haben, übertrifft den der vier größten Banken Chinas zusammen. Aber wo ist das Geld geblieben? In den letzten 30 Jahren haben die Amerikaner für 13 Kriege 40,2 Billionen Dollar ausgegeben. Hätten sie nicht einen Teil dieses Geldes für den Ausbau der Infrastruktur ausgeben können, was Angestellten und Arbeitern geholfen hätte?“
Für Ma ist die Globalisierung eine „tolle Sache“, aber sie müsse inklusiv sein, auch kleinen Unternehmen zugutekommen. Als Chinese sei er glücklich, dass Xi Jinping die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt so verantwortungsbewusst führe: „Ich bin zuversichtlich, dass Xi bereit ist, den chinesischen Markt noch stärker für die Welt zu öffnen.“10
In Davos präsentierte Jack Ma einem faszinierten Publikum seine globale Lösung für kleine und mittlere Unternehmen: Die Electronic World Trade Platform (eWTP) soll die Versäumnisse der WTO beheben, die nur „für die großen Unternehmen konzipiert“ sei. Er wolle die „globale Harmonisierung“ der E-Commerce-Regeln, eine Vereinfachung der Zollverfahren und den Ausbau einer logistischen Infrastruktur. Ruanda war das erste afrikanische Land, das die eWTP eingeführt hat. Beim offiziellen Start in Kigali tönte Ma 2018 an der Seite von Präsident Paul Kagame: „Wenn jedes Land so wäre, wie mächtig könnte Afrika sein!“11
Der Größenwahn des Milliardär erreichte seinen Gipfel, als Ma am 11. November 2017 einen 22-minütigen Kurzfilm mit dem Titel „Hüter der Kampfkunst“(„Gong Shou Dao“) ins Netz stellte. Darin tritt Ma nacheinander gegen berühmte Kampfsportstars an, unter anderem gegen einen mongolischen Ringer. Selbstverständlich gewinnt Jack Ma jeden Kampf. Seinen Auftritt beschließt er mit Tai-Chi-Bewegungen, mit denen er seine Losungen unterstreicht: „Folge keiner Doktrin. Nur dem Karma. Ein unbesiegbares Herz. Mutig, aber nicht dreist. Weniger ist mehr.“
2017 war Jack Ma allerdings schon nicht mehr die Ikone, für die er sich hielt. Die Rivalen Tencent und JD.com hatten aufgeholt und Alibaba den Wind aus den Segeln genommen (wie kurz darauf auch Pinduoduo). In den sozialen Medien äußern sich viele junge Leute verbittert. 500 Millionen Chinesen sind süchtig nach Mikrokrediten, und gerade die Jungen fühlen sich in einer permanenten Schuldenfalle, die sie daran hindert, auf eine eigene Wohnung zu sparen.
Der Alibaba-Chef verweist indessen stolz auf die vielen jungen Leute in seinem Management, die so viel Energie und Ideen einbringen. Und denen er seine Lehren von Opferbereitschaft und Leid predigt, für die sie irgendwann belohnt werden. Im Oktober 2017 sprach er vor Studierenden der Staatlichen Universität Moskau: „Lasst die Leute ruhig Angst haben vor der technischen Revolution. Ich jammere nicht, weil mir das nicht helfen wird. Und sie sollten besser ihre Konkurrenten zum Jammern bringen. Nichts ist umsonst, nichts ist einfach. Wenn du Erfolg haben willst, musst du dafür zahlen. Ich habe im letzten Jahr 867 Stunden im Flugzeug verbracht. Bei Alibaba arbeiten wir Tag und Nacht. Wir versuchen einzigartig zu sein, anders zu sein. Heute ist es hart, morgen wird es noch härter, übermorgen wird es großartig sein.“12
„Ein Tag bei Alibaba ist ein Tag des Kampfs“, sagt ein Familienvater, der das Pseudonym „Hong Cha“ (Schwarzer Tee) bevorzugt. Er arbeitete zwei Jahre in der Zentrale von Cainiao, der Logistiktochter von Alibaba, in Hangzhou, einer Stadt, deren Bevölkerung sich in 20 Jahren verzehnfacht hat.
„Die Stadt ist kulturell nicht auf dem Niveau von Schanghai“, sagt der Familienvater, „aber sie atmet die Atmosphäre von E-Commerce und New Economy, so wie Jack Ma.“ Er schildert seine Arbeitstage gemäß der von Ma erfundenen Regel „996“: Arbeiten von morgens neun bis abends neun, sechs Tage die Woche. Für die Unterweisung in die Werte von Alibaba sind bei neu Eingestellten volle sieben Tage vorgesehen.
Wie der Mann berichtet, hat er pro Jahr im Durchschnitt 257 000 Euro verdient, einen Teil davon in Aktien. Das Management sei so organisiert, dass jeder mit jedem konkurriert. „Die Hierarchie von Alibaba ist stark zentralisiert. Es gibt 10 000 Stellen vom Typ P8, wie meine, aber nur 300 bis 400 P10-Stellen, das sind die hohen Managerposten. Mein Vorgesetzter war P10 und hatte vier P8-Teams unter sich, denen er mitteilte, dass er nur eines von ihnen auf P9 befördern werde. Der Aufstieg bedeutet ein höheres Gehalt und den doppelten Wert an Aktien. Sie können sich die Rivalitäten vorstellen.“
Daten von Alibaba für die Corona-App
Der ehemalige Mitarbeiter erzählt auch von den „3-6-1“-Bewertungen, die jedes Jahr stattfinden: „30 Prozent der Manager werden als herausragend bewertet, 60 Prozent als fähig und 10 Prozent als unqualifiziert. Wer zwei Jahre in Folge bei den unteren 10 Prozent landet, muss das Unternehmen verlassen.“
Zugleich gibt es Maßnahmen zum Teambuilding. „Wir wurden Zehnergruppen zugeordnet, dann wurden nach dem Zufallsprinzip Fragen gezogen, die man beantworten musste. Das waren ziemlich persönliche Sachen, wie zum Beispiel: Wo haben Sie zum ersten Mal Ihre Freundin geküsst?“ Hong Cha glaubt, dass sich darin die Kultur der „Verkäufer“ widerspiegelt, die ja das ursprüngliche Geschäftsfeld von Alibaba darstellt.
Das Unternehmen betreibt auch ein Bulletin Board System (BBS), das ist eine Art Schwarzes Brett im Internet, auf dem sich die Angestellten unter ihrem richtigen Namen äußern. Kein Thema ist tabu, es gibt keine Moderation. „Man liest oft Posts, in denen sich Angestellte über eine ungerechte Bewertung durch ihren Vorgesetzten beklagen. Es folgen Kommentare, es braut sich was zusammen, und am Ende verlassen beide Seiten die Firma. Die Angestellten lieben solche Auseinandersetzungen.“ Über dieses Forum erreicht Jack Ma seine Belegschaft auch, wenn er sich zu externen Streitigkeiten oder zu wichtigen Unternehmensfragen äußert.
Noch schlimmer sieht es allerdings bei der Konkurrenz aus, glaubt Hong Cha: „Die wirklichen Sklaven sind bei Pinduoduo.“ Bei dem Billiganbieter müssten die Beschäftigten „330 Stunden im Monat schuften und kommen erst nach dem Abendessen nach Hause. Das ist da die Regel.“
Neuerdings beginnt Alibaba, sich den europäischen Markt zu erschließen. In der Nähe des Flughafen Lüttich will das Unternehmen ein Logistikzentrum aufbauen.13 In Frankreich betreibt der chinesische Milliardär ein eher privates Projekt. 2016 hat er das Weingut Château de Sours in Saint-Quentin-de-Baron im Département Gironde gekauft, das früher eine Station auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela war.
„Ich hatte von diesem Mann noch nie gehört, bevor Busse mit chinesischen Touristen durchs Dorf fuhren, die ihn zu sehen hofften“, erzählt Jack Allais, der ehemalige Bürgermeister von Saint-Quentin-de-Baron. Ma hat den Weinladen schließen lassen, um die Besucher fernzuhalten. Auf seinem 200 Hektar großen Grundstück hat er, ohne Vorankündigung, Hagelschutzkanonen aufgestellt. Er hat portugiesische und spanische Rebsorten eingeführt und setzt auf Permakultur; er setzt keine Pestizide ein und verzichtet auf die Appellation d’Origine Contrôlée (AOC).
Für das alles hat Jack Ma bereits 20 Millionen Euro investiert. Die ersten Flaschen seines neuen Weins werden für 2023 erwartet, alle sind zum Export bestimmt. Auch in dieser Hinsicht hat er mit Folklore nichts im Sinn. Ma will das Überkommene beseitigen. Er blickt weit voraus und macht sich keine Gedanken um die Kosten. Zumindest noch nicht.
1 „China’s online retail sales up 10 pct in 2020“, Xinhua, 3. Februar 2021.
2 Siehe Martine Bulard, „Landlust in China“, LMd, November 2015.
3 Zahlen für die erste Jahreshälfte 2020, nach Angaben des Marktforschungsunternehmens iResearch.
5 Siehe Maxime Robin, „Am Ende kommt der Kredithai“, LMd, September 2015.
6 Siehe René Raphaël und Ling Xi, „Der dressierte Mensch“, LMd, Januar 2019.
10 Der Wortlaut der Rede unter: ecommerceiq.asia/blog/page/135/.
12 „LIVE: Jack Ma holds lecture at Moscow State University“, 18. Oktober 2017.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Jordan Pouille ist Journalist.
Der Konzern
Alibaba wurde 1999 von Jack Ma und 17 weiteren Partnern gegründet.
Firmensitz: Hangzhou (China)
Geschäftsführer: Daniel Yong Zhang
Beschäftigte weltweit: 122 399 (2020), 4 Prozent Zuwachs gegenüber 2019
Börseneinführung: New York 2014, Hongkong 2019
Größte Aktionäre: Softbank (Japan) 25 Prozent; Jack Ma 4,9 Prozent; BlackRock (USA) 3,1 Prozent; Joseph Tsai (taiwanisch-kanadischer Mitgründer) 2,8 Prozent; T. Rowe Price (USA) 2,3 Prozent. Nicht bekannt ist der Prozentsatz der Anteile, die das chinesische Private-Equity-Unternehmen Boyu Capital hält, an dem der Enkel des ehemaligen Staatschefs Jiang Zemin (1993–2003) beteiligt ist.
Tochterunternehmen: Taobao und Tmall (Onlinehandel), Cainiao (Logistik), Ele.me (Lieferdienst), Sun Art und Freshippo (Einzelhandel), Alibaba Cloud (Cloud Computing), Ali Health (Gesundheit), Fliggy (Reiseplattform), AutoNavi (Kartendienst), Youku (Videoportal), Alibaba Pictures (Filmproduktion), South China Morning Post (größte englischsprachige Zeitung in Hongkong)
Die Ant Group ist aus Alipay hervorgegangen; an dem 2004 von Jack Ma gegründeten Finanztechnologie-Unternehmen ist Alibaba zu 33 Prozent beteiligt.
Ali Health und die Zukunft der Gesundheitsversorgung
Alibaba stieg 2014 in die Gesundheitsbranche ein, die Konzernchef Daniel Yong Zhang als „strategischen Sektor mit hohem Wachstumspotenzial“ bezeichnete. In China gibt es eine gewaltige Kluft zwischen dem medizinischen Angebot in der Stadt und auf dem flachen Land. Diese Kluft und die rasch alternde chinesische Bevölkerung stellt das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen.
Wie die Gesundheitsökonomin Carine Milcent erläutert, wurde die „Grundversorgung einer Bevölkerung mit geringem Einkommen und hohen Todes- und Geburtenrate“ in ein System überführt, das „den gewachsenen Ansprüchen einer Bevölkerung mit höherem Einkommen und relativ niedrigen Todes- und Geburtenrate gerecht wird“.
Um diese Nachfrage zu bedienen, gründete Jack Ma die Gesundheitsplattform Ali Health. Für den großen Kundenpool, der über die Verkaufsplattform Taobao erschlossen wird, bietet Ali Health maßgeschneiderte Zusatzversicherungen wie auch Videosprechstunden, über die erstattungsfähige Medikamente verschrieben und binnen 30 Minuten geliefert werden können.
Dieses Angebot, das dann vom Konkurrenten JD.com kopiert wurde, ist über die Bezahl-App Alipay zugänglich. Der Nutzer gibt seine Symptome in ein automatisiertes Programm (Bot) ein, das ihm dann eine kleine Auswahl der 39 000 online praktizierenden Ärzte und Spezialisten präsentiert oder direkt einen Termin im Krankenhaus vereinbart. Am 29. Januar 2020, als der große Coronalockdown begann, meldete Ali Health erstmals mehr als 100 000 Video-Sprechstunden pro Tag. Sein Börsenwert stieg innerhalb eines Jahres um 52 Prozent.
China ist ein Land, „in dem es keine ambulante Medizin, sondern nur Krankenhäuser gibt“, erklärt Xavier Brochart, ein Experte für Digitalmarketing, der lange in Schanghai für europäische Labore gearbeitet hat. „Die Hälfte aller Konsultationen – ob bei einem Husten oder einem Tumor – erfolgen in den am besten ausgestatteten Krankenhäusern, denen in den großen Städten.“ Deshalb müsse man sehr früh im Krankenhaus erscheinen, um sich anzumelden. „Und danach kann es Stunden dauern, bis man für drei Minuten einen Arzt zu sehen bekommt. Und während der noch abhorcht, steht dahinter vielleicht schon der nächste Patient. Das ist Kriegsmedizin. Das erzeugt ständig Spannungen, ja sogar Aggressionen.“
Für Brochart steht fest, dass digitale Angebote helfen: „Sie verkürzen die Wartezeiten und erleichtern die Arztwahl durch ein Benotungssystem. Das tut diesem archaischen System ziemlich gut.“ Allerdings werden die Patienten damit zu Kunden.
Der Versicherer Ping An ist in diesem Marktsegment noch einen Schritt weitergegangen. Er hat in Einkaufsstraßen telefonzellengroße Kabinen aufgestellt, in denen man sich über die Plattform „Good Doctor“ online beraten lassen kann. Gleich daneben steht ein Verkaufsautomat, aus dem man sich einige der verschriebenen Medikamente ziehen kann.
Die Entwicklung von Ali Health entspricht voll dem 13. Fünfjahresplan für den Zeitraum 2016 bis 2020. Was darin vorgesehen ist, zählt die Gesundheitsökonomin Milcent auf: „Eine Krankenversicherung für alle bis 2020, den Ausbau von privaten Gesundheitsdiensten einschließlich der Digitalmedizin, die Ausweitung der privaten Versicherungen sowie eine größere Vereinheitlichung der medizinischen Informationssysteme.“
Die Regierung in Peking hofft dabei insbesondere auf den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI). Um die Krankenhäuser zu entlasten, sollen Kranke zu Hause durch vernetzte Geräte überwacht werden, die bei Anzeichen einer Verschlechterung Alarm schlagen. Prächtige Aussichten für Ali Health.
⇥Jordan Pouille