07.01.2021

Tunesien, was ist aus deiner Revolution geworden?

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Tunesien, was ist aus deiner Revolution geworden?

von Olfa Lamloum

In den Straßen von Kasserine, Dezember 2020 RIADH DRIDI/ap
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November 2020. Einen Monat vor dem 10. Jahrestag der tunesischen Revolution nimmt die Wut in der Bevölkerung zu. In den Städten Kasserine, Gafsa, Sidi Bouzid, Jendouba, Gabes und anderen Gegenden, die besonders schwer von den ökonomischen Verwerfungen der Coronapandemie betroffen sind, breiten sich die organisierten Proteste schon seit Monaten aus. Die Demonstranten blockieren Straßen, gründen Koordinationskomitees, fertigen Listen mit Verbesserungsvorschlägen an und verlangen, darüber mit den Repräsentanten der Zentralregierung zu verhandeln.

Ein Jahrzehnt nach dem Sturz von Zine El Abidine Ben Ali ist der Befund eindeutig: Diejenigen, die dem Diktator nachfolgten, haben das Versprechen auf Würde, für das die Revolution stand, verraten. Heute reden die Regierenden auch nicht mehr von Revolu­tion, sondern von einem „demokratischen Übergang“ und sprechen damit subtil all jenen die politische Legitimität ab, die sich am Aufstand beteiligt hatten.

Der „Übergang“ steckt in der Krise. Seine Errungenschaften – persönliche Freiheiten und das Recht auf freie Meinungsäußerung – sind immer stärker bedroht. Seit 2018 wurden etwa 40 Bloggerinnen und Facebook-Nutzer juristisch verfolgt.1 Im Zentrum der Kritik steht das Innenministerium, das droht, gegen jeden, der seine Vertreter absichtlich beleidigt, in Zweifel zieht oder fälschlicherweise beschuldigt, gerichtlich vorzugehen.

Immer mehr Kader des alten Re­gimes, die bislang straffrei davongekommen sind und sich dadurch gestärkt fühlen, kommen wieder an die Macht. Die aktuelle Dynamik der Proteste zeigt, dass es sich um eine strukturelle Krise handelt. Die Regierung, die sich auf ein Bündnis zwischen Islamisten und alten Kräften stützt, ist genauso wie seinerzeit das Ben-Ali-Regime außerstande, die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Landesteilen zu verringern.

Seit 2011 haben die Austeritätspolitik, mit einem Einstellungsstopp im öffentlichen Sektor und Kürzungen von Subventionen, und die „großen wirtschaftlichen Reformen“ (Privatisierungen, Unabhängigkeit der Zentralbank, Marktöffnung) sogar dazu geführt, dass der Sozialstaat immer weniger Handlungsspielräume hat. Am ungleichen Steuersystem hingegen, das vor allem die niedrigen Einkommen belastet, hat sich nichts geändert. Und das in einem Land, in dem die reichsten 10 Prozent über 40 Prozent des Einkommens verfügen und in dem Steuervermeidung ein großes Problem darstellt.2

Elf Regierungen in zehn Jahren

Diese Politik hat zu einer Überschuldung und einer verstärkten Abhängigkeit von den internationalen Finanzinstitutionen geführt. Die Auslandsverschuldung Tunesiens liegt bei 75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2021 könnte sie auf 90 Prozent steigen, die Regierung müsste immer neue Kredite aufnehmen, um die anfallenden Tilgungen bewältigen zu können.

In der ersten Legislaturperiode des Parlaments zwischen November 2014 und August 2019 ging es in 43 Prozent der verabschiedeten Gesetze um Darlehensverträge mit ausländischen Geldgebern, die zum Teil dazu dienten, die Altschulden aus der Ben-Ali-Zeit zu begleichen. Nach Angaben der Kommis­sion für Wahrheit und Würde (Ins­tance Verité et Dignité, IVD) dienten zwischen 2011 und 2016 über 80 Prozent der neuen Darlehen der Tilgung dieser Schulden.3

Es hat auch nichts genützt, dass alle elf Regierungen der letzten zehn Jahre immer wieder die „regionale Entwicklung“ zur nationalen Priorität erklärt haben. Die Unterschiede zwischen den Küstenstädten und den Städten im Landesinnern beim Zugang zu Ressourcen und öffentlichen Dienstleistungen haben sich nur weiter verschärft. Die Region im westlichen Zentrum Tunesiens, wo die Gouvernements Sidi Bouzid, Kasserine und Kairouan liegen, ist immer noch die ärmste des Landes. Hier leben durchschnittlich 29,3 Prozent der Menschen in Armut, verglichen mit 6,1 Prozent in der Hauptstadt.4

Im Gouvernement Kasserine, wo vor zehn Jahren die Revolution begann und das die meisten „Märtyrer“ der Revolte zu beklagen hatte, liegen nach wie vor die drei ärmsten Regierungsbezirke Tunesiens. Die Armutsrate beträgt hier etwa 50 Prozent. Zwischen 2016 und 2020 wurde nur die Hälfte der ohnehin wenigen Projekte umgesetzt, die den Rückstand im Landesinneren aufholen sollen.

Auch dass zehn Jahre nach den Umwälzungen, die oft als „Revolution der Jugend“ bezeichnet wurden, nach wie vor eine massive Jugendarbeitslosigkeit herrscht, ist deprimierend. In der Stadt Kasserine haben 43 Prozent der 18- bis 34-Jährigen keinen Job.5 Durch die Coronapandemie sind die Zahlen noch gestiegen; unter den 15- bis 27-Jährigen sind landesweit mittlerweile 35,7 Prozent arbeitslos.6 Selbst unter den Universitätsabsolventen beträgt die Arbeitslosenquote über 30 Prozent. Hochschulbildung ist kein Garant für sozialen Aufstieg. In einem Land, das sich stets für sein durchlässiges Bildungssystem gerühmt hat, arbeiten mittlerweile 53 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung im informellen Sektor.

Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass sich die Sozialpolitik seit 2011 kaum von der Ben Alis unterscheidet. Es ist eine Hinterzimmerpolitik, die in dem irrigen Glauben, damit sozialen Frieden zu erreichen, auf Hilfsmaßnahmen und prekäre Beschäftigungsverhältnisse setzt. Klientelistische Abhängigkeitsverhältnisse wurden wiederbelebt, von denen vor allem die islamistische Partei Ennahda und die alten Seilschaften der 2011 aufgelösten Ben-Ali-Partei Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD) profitierten.

Das sozialpolitische Versagen begünstigte – wenig überraschend – ein Wiederaufflammen der Gewalt zwischen Sicherheitsorganen und vor allem jugendlichen Demonstranten: In Kasserine, Tataouine und Douar Hicher – drei weit voneinander entfernt liegende Städte, die nur ihre soziale Misere verbindet – gab 2019 nicht weniger als ein Fünftel der Jugendlichen an, schon einmal verhaftet oder eingesperrt worden zu sein.7

Seit 2013 wurden wieder mehr Sicherheitskräfte eingesetzt, um die Jugend in Schach zu halten. Die mächtigen Polizeigewerkschaften, die von der Provisorischen Regierung zwischen Februar und Dezember 2011 unter Beji Caïd Essebsi legalisiert worden waren, forderten damals ein Gesetz, das 2015 ins Parlament eingebracht wurde. Der Entwurf sieht vor, die „Schädigung der Ordnungskräfte“ unter Strafe zu stellen. Diese schwammige Formulierung dürfte auch die Verfolgung zivilgesellschaftlicher Organisationen ermöglichen, die regelmäßig die willkürliche Polizeigewalt kritisieren.

Im Oktober 2020 hat das Parlament den breiten öffentlichen Protesten nachgegeben und die Lesung des Gesetzentwurfs erneut verschoben. Politisch steht hier nämlich einiges auf dem Spiel: Schließlich würde dieses Gesetz nicht nur die dringend erforderliche Polizeireform infrage stellen, sondern auch die des Innenministeriums, dem Herzstück des autoritären Machtapparats zu Zeiten Ben Alis.

Tunesiens Stabilität und der Schutz der Außengrenzen sind die bestimmenden Themen geworden. Das Budget des Innenministeriums wird stetig aufgestockt (um 7,4 Prozent im Jahr 2019 und 4,8 Prozent 2020) und der Verteidigungsapparat erhält immer mehr ausländische Militärhilfe für die Terrorismus- und Aufstandsbekämpfung.8

Gleichzeitig wurde die IVD, die seit 2014 unter dem Vorsitz der bekannten Journalistin Sihem Bensedrine die staatlichen Verbrechen aus sechs Jahrzehnten autoritärer Herrschaft aufgearbeitet hat9 , wiederholt torpediert. Auf die Attacken aus den Netzwerken des alten Regimes folgte 2017 die Verabschiedung eines Amnestiegesetzes, das Kadern des Ben-Ali-Regimes, die in Korruption verwickelt waren, Straffreiheit garantierte.

Als am 28. März 2018 das Parlament über eine Verlängerung des Mandats für die IVD abstimmen wollte, kam es zu heftigen, teilweise mit Fäusten ausgetragenen Auseinandersetzungen. Viele Abgeordnete verließen den Saal; die übrigen, darunter einige, denen Beteiligung an Folter vorgeworfen wurde, beschlossen, dass die Wahrheitskommission zum 31. Mai 2018 ihre Ermittlungen einzustellen hat.

Im Oktober 2020 schließlich machte der Parlamentspräsident und starke Mann der Ennahda, Rachid Ghannouchi, ausgerechnet Mohamed Ghariani zum verantwortlichen Berater für den Bereich Übergangsjustiz und nationale Versöhnung. Ghariani war der letzte Generalsekretär der RCD vor deren Auflösung und nach Erkenntnissen der IVD strafrechtlich verantwortlich für die blutige Niederschlagung der Protestbewegung im Januar 2011.

Im Grunde war diese Entwicklung seit 2013 absehbar, nachdem die islamistische Ennahda und die säkulare Partei Nidaa Tounes beschlossen hatten, sich zu versöhnen. Dabei hatte Beji Caïd Essebsi (1926–2019), ehemals Innenminister unter Habib Bourguiba, dem ersten Präsidenten nach Tunesiens Unabhängigkeit, Nidaa Tounes 2012 als Sammlungspartei gegründet, um die alten RCD-Leute mit Anhängern der antiislamistischen Demokratiebewegung zu vereinen.

Diese Wende, die durch die Ergebnisse der Parlaments- und Präsidentschaftswahl von 2014 bestätigt wurde, war das Ergebnis zweier folgenschwerer Entwicklungen. Der erste Einschnitt war die Niederlage der Aufstände in Ägypten, Jemen, Bahrain und Syrien.

Durch die blutige Repression der ägyptischen Muslimbrüder nach dem Staatsstreich von General Abdal Fatah al-Sisi im Juli 2013 war die Ennahda aufgeschreckt. Sie stand bereits im Kreuzfeuer der Kritik, nachdem Dschihadisten zwei Anführer der tunesischen Linken, Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi, im Februar und Juli 2013 ermordet hatten. Aus Furcht, politisch infrage gestellt zu werden, gab die Ennahda jeglichen Widerstand gegen die Netzwerke des alten Regimes auf und erteilte auch den kompromittiertesten Personen der Ben-Ali-Ära die Absolution.

Zweitens zeigte sich immer deutlicher, dass die Mobilisierung innerhalb der Protestbewegung ihre Grenzen hat. Seit dem Sturz Ben Alis haben sich die sozialen Proteste zwar zur wichtigsten Form politischer Partizipation der benachteiligten Klassen und der marginalisierten Jugend entwickelt, aber diese Gruppen sind bis heute gespalten und wenig organisiert. Sie haben keine gemeinsame Vision und keine politischen Hebel, um auf die bestehenden Machtverhältnisse einzuwirken.

Das liegt zum Teil natürlich auch an den Repressionen, denen sie seit 2011 ausgesetzt sind, sowie an der mangelnden Unterstützung durch den Gewerkschaftsbund UGTT. Außerdem behindert die prekäre wirtschaftliche Situation, die mit einer extrem hohen Arbeitslosigkeit einhergeht, eine massenhafte Mobilisierung. Die Erosion der klassischen Tarif- und Gewerkschaftsbeziehungen hat dazu geführt, dass heute lokale Bindungen eine viel größere Rolle bei der sozialen Mobilisierung spielen. Im Gegensatz zu der Dynamik zu Beginn der Revolution lassen sich aber so keine großen und landesweit sichtbaren Bündnisse mehr schmieden.

Was bleibt also heute von der Revolution? In jedem Fall ein Geist des Widerstands, der durch die Intensivierung der Proteste im vergangenen November neu belebt wurde. Das zeigt sich zum Beispiel am erfolgreichen Protest der kleinen Gemeinde El Kamour, die unter Kontrolle des Militärs steht, weil in diesem Wüstenrandgebiet die größten Erdölreserven Tunesiens liegen.

Seit 2017 demonstrieren hier tausende junge Menschen regelmäßig mit Sit-ins friedlich für Arbeit und die Entwicklung ihrer Region. Die lokale Solidarität hat dafür gesorgt, dass sie der Repression trotzen konnten, ebenso wie allen Versuchen der Regierung, sie als Straftäter zu verunglimpfen. Sie haben Formen der demokratischen Selbstorganisation aufgebaut, die sie vor parteipolitischer Vereinnahmung schützen. Nachdem Demonstranten die Erdölanlage in El Kamour am 16. Juli 2020 blockiert und über einen Zeitraum von 117 Tagen stillgelegt hatten, unterzeichnete die Regierung ein Abkommen, das einen Großteil ihrer Forderungen erfüllt hat.

Hier hat sich gezeigt, dass die Forderung nach Würde und Gerechtigkeit die Menschen immer noch mobilisieren kann. Fraglich ist, ob Tunesien auch einen Ausweg aus seiner strukturellen Krise findet. Während sich nämlich die Ennahda mit dem Neoliberalismus bestens arrangiert hat und dadurch einen Teil ihrer sozialen Basis verlor, ist es ihr nicht gelungen, die einflussreichen Kreise der Bourgeoisie zu überzeugen.

Präsident Kaïs Saïed, der sich als „vä­ter­licher Wohltäter“ der Armen hervortun wollte, ohne ein organisatorisches oder politisches Projekt zu haben, muss sich seine Unterstützer in Zukunft wohl im Verwaltungs­appa­rat oder in der Armee suchen. Und die UGTT, als vermeintliches Gegengewicht zum Neoliberalismus, ist durch die Ränkespiele ihrer bürokratischen Führung geschwächt, die vor allem darauf aus ist, ihr Mandat zu verlängern. Überhaupt hat sich die Linke insgesamt durch interne Rivalitäten und das Beharren auf dem Kampf gegen den „aufklärungsfeindlichen Islamismus“ nur selbst geschadet.

1 Siehe „Tunisie. La liberté d’expression menacée par la multiplication des poursuites pénales“, Amnesty International, 9. November 2020.

2 Siehe „La justice fiscale en Tunisie: un vaccin contre l’austérité“, Oxfam, 17. Juni 2020.

3 „Mémorandum relatif à la réparation due aux vic­times tunisiennes des violations massives de droits de l’Homme et des droits économiques et sociaux dont l’État français porte une part de responsabilité“, IVD, Tunis, 16. Juli 2019.

4 Siehe die Übersichtskarte zur Armutsverteilung „Carte de la pauvreté en Tunisie“, Institut national de la statistique, September 2020.

5 Siehe „Des jeunes dans les marges. Perceptions des risques, du politique et de la religion à Tataouine Nord, Kasserine Nord et Douar Hicher“, International Alert, November 2020.

6 „Indicateurs de l’emploi et du chômage, troisième trimestre 2020“, Institut national de la statistique.

7 Siehe Anmerkung 5.

8 Hijab Shah und Melissa Dalton, „The evolution of Tunisia’s military and the role of foreign security sector assistance“, Carnegie Middle East Center, 29. April 2020.

9 Siehe Thierry Brésillon, „Wahrheit für Tunesien“, LMd, Juli 2017.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Olfa Lamloum leitet in Tunis die NGO International Alert und hat 2016 zusammen mit Michel Tabet den Dokumentarfilm „Les voix de Kasserine“ gedreht.

Le Monde diplomatique vom 07.01.2021, von Olfa Lamloum