07.01.2021

Diskriminierung als Klassenfrage

zurück

Diskriminierung als Klassenfrage

Identitätspolitik ist nicht die Lösung

von Stéphane Beaud und Gérard Noiriel

„Kolonialist“ Voltaire RAFAEL YAGHOBZADEH/picture alliance/ap
Audio: Artikel vorlesen lassen

Am 25. Mai 2020 verbreitete sich das Video vom Mord an George Floyd in Windeseile in den sozialen Netzwerken und über die Nachrichtenkanäle und löste weltweit eine Welle von Protesten gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt aus. Seit etwa 15 Jahren werden auch in französischen Medien regelmäßig rassistisch motivierte Straftaten oder Sachverhalte, die einen Verdacht auf rassistische Diskriminierung nahelegen, verurteilt.

Zuletzt erschien am 3. Juli 2020 auf der Plattform Mediapart das von 57 Intellektuellen unterzeichnete „Manifest für eine antirassistische und dekolonialisierte französische Republik“. Prompt reagierte darauf das Wochenmagazin Marianne am 26. Juli mit einem „Appell gegen die Rassifizierung der so­zia­len Frage“, unterzeichnet von über 80 Personen und 24 Organisationen.

Mit der berechtigten Kritik an rassistisch motivierter Gewalt durch einzelne Polizeibeamte und am Staatsrassismus in den französischen Kolonien unterstützen die Unterzeichner der Me­dia­part-Petition allerdings ein politisches Projekt, das soziale Faktoren komplett ausblendet.

Umgekehrt betonen die Autoren des in Marianne erschienenen Aufrufs die zentrale Rolle der Klassenzugehörigkeit bei den Ungleichheiten im heutigen Frankreich. Dabei führen sie unter dem Schlachtruf „Unsere laizistische und soziale Republik ist eine Chance für alle!“ ihrerseits einen identitären Kampf, wenn sie sich jenseits jeglicher seriöser historischer Forschung zu der Behauptung versteigen, dass „unser Land niemals von Rassentrennung betroffen war“.

Diese identitäre Auseinandersetzung, bei der jedes Lager stets eine kleine Schar von Intellektuellen mobilisiert, macht es Wissenschaftlerinnen zusehends schwerer, ihre akademische Freiheit zu verteidigen.

Die Rassifizierung der öffentlichen Debatte wurde insbesondere durch die digitale Revolution seit den 2000er Jahren angetrieben. Ihre gigantischen Maschinen zur Informationsproduk­tion werden rund um die Uhr von Emo­tio­nen gespeist, die in uns stecken und uns spontan und instinktiv auf Ungerechtigkeiten, Demütigungen und Übergriffe reagieren lassen. Die Verkürzung des politischen Tagesgeschehens zu kleinen Meldungen, die mit der Entstehung der Massen­me­dien Ende des 19. Jahrhunderts begann, hat heute ihren Höhepunkt erreicht. An die Stelle von fundierten Analysen sozialer ­Probleme tritt die Verurteilung der Schuldigen und die Rehabilitierung der Opfer.

Die international operierenden US-Konzerne als Betreiber der sozialen Netzwerke haben diesen Prozess massiv beschleunigt. Denn die Milliarden Nutzer sind nicht nur passive Empfänger von Mitteilungen, sie wirken auch an deren Erstellung und Verbreitung mit. So haben die sozialen Netzwerke über Ländergrenzen hinweg einen öffentlichen Raum geschaffen, der stark zur Amerikanisierung der öffentlichen Debatten beiträgt – mit Wendungen wie „color-blind“, „black lives matter“ oder „cancel culture“.

Angesichts der Bedeutung, die die Polemik über Identitätsfragen inzwischen einnimmt, ist es nicht verwunderlich, dass viele betroffene Jugendliche ihre Ablehnung gegenüber einer Gesellschaft zum Ausdruck bringen, die ihnen keinen Platz einräumt, weil einzelne Elemente ihrer individuellen Identität wie Religionszugehörigkeit, soziale oder ethnische Herkunft über Gebühr betont werden.

Leider verfügen die Ärmsten unter ihnen aus sozioökonomischen Gründen nicht über die Mittel, sich andere soziale Zugehörigkeiten und neue Bindungen zu erschließen. Für sie stellt sich die Gesellschaft als zweigeteilt und ethnisch definiert dar: „wir“, also die Bewohner der Problemviertel, die schwarzen oder arabischstämmigen Jugendlichen, die Ausgegrenzten, offenbar auch immer häufiger „wir Muslime“ gegen „sie“, das heißt die Bürgerlichen, die Bio-Franzosen, Gallier, Weißen, Gottlosen und so weiter.

Wenn man den Kampf gegen den Rassismus konsequent führen möchte, muss man auch diese identitäre Abgrenzung bekämpfen. Denn sie verhindert, dass diese zornigen Jugendlichen merken, wie sehr ihr gesellschaftliches Dasein von ihrer Zugehörigkeit zum Proletariat bestimmt wird.

Die rassialisierende Sprache, welche die Hautfarbe als entscheidenden Faktor für das gesamte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Handeln unserer Mitbürger darstellt, geht wie eine Dampfwalze über die Komplexität und die Feinheiten der sozialen Beziehungen und Machtgefüge hinweg. Alle soziologischen, statistischen oder ethnografischen Studien zeigen jedoch, dass soziale und ethnische Faktoren stets zusammenspielen, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität.

Man kann unsere Lebenswelt nicht verstehen, wenn man außer Acht lässt, dass – allen anderen Behauptungen zum Trotz – die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht gemessen am wirtschaftlichen und kulturellen Kapital der entscheidende Faktor ist, von dem alle anderen Dimensionen der Identität einer Person abhängen. Den besten Beweis hierfür liefern diejenigen, die dank einer so­zia­len Mobilität in die Mittel- oder Oberschicht aufgestiegen sind. Fast alle von ihnen setzen die Ressourcen ihrer gesellschaftlichen Stellung dafür ein, ihre beruflichen und kulturellen Beziehungen zu diversifizieren. Sie wissen genau, dass dies der Weg zu größerer Freiheit ist.

Indem er die Machtbeziehungen verbirgt, trägt der identitäre Diskurs dazu bei, die Differenzen innerhalb der unteren Gesellschaftsschichten zu vergrößern. Seit den 1980er Jahren verfolgten Frankreichs Konservative dieses Ziel, um die Vorherrschaft der Linken zu brechen. Verlagert man jedoch die politische Auseinandersetzung auf die ethnische Ebene, indem man alle „Weißen“ als Privilegierte darstellt, werden diese automatisch dazu verleitet, sich mit den gleichen Argumenten zu verteidigen.

Und da in Frankreich die „Weißen“ nun einmal in der Mehrheit sind, bleiben die „Nichtweißen“ zwangsläufig für immer die Minderheit. Anzunehmen, dass Personen, die als „weiß“ definiert sind, in einem Akt der Reue ihre „Privilegien“ aufgeben würden, hieße Politik auf moralische Lektionen reduzieren. Das ist in den USA längst verbreitet und zeichnet sich inzwischen auch in Frankreich ab.

Da in den Debatten um Rassismus heutzutage stets das Beispiel USA bemüht wird, lohnt es sich, an die Analyse zu erinnern, die jüngst der Philosoph Michael Walzer eingebracht hat, um das relative Scheitern der schwarzen Antirassismusbewegung in den USA zu erklären. Ein Scheitern, das wiederum verdeutlicht, warum Rassismus in den Vereinigten Staaten ein zentrales Problem bleibt.

Anfang der 1960er Jahre war Walzer selbst als Student in den Kampf der schwarzen Bürgerrechtsbewegung involviert. Fünfzig Jahre später blickt er auf diese Zeit zurück und erinnert sich an die starken Bande, die damals zwischen Studierenden der Elite-Universitäten des Nordostens (Harvard, Brandeis), insbesondere jüdischen wie ihm selbst, und schwarzen Pfarrern und Aktivisten geknüpft wurden:

„Wir denken, der schwarze Nationalismus ist, wenn auch verständlich, doch ein politischer Fehler gewesen: Um sich Gehör zu verschaffen, müssen Minderheiten politische Koalitionen eingehen. Die Juden haben das schon seit langem verstanden. Wenn man nur zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung repräsentiert, kann man sich nicht isolieren. Man braucht Verbündete, und man muss einen politischen Fahrplan erarbeiten, der solche Allianzen begünstigt. Der schwarze Nationalismus war dazu nicht bereit, und ich denke, deshalb ist er in eine Sackgasse geraten (…). Die Identitätspolitik hat in den USA Oberwasser bekommen und zu getrennten Bewegungen geführt: der Schwarzen, der Hispanics, der Frauen, der Schwulen – mit zu wenig gegen­seitiger Unterstützung. ‚Black lives matter‘ ist ein wichtiger Ausdruck des legitimen Zorns der Schwarzen über das Verhalten der Polizei. Aber die Hispanics werden nicht besser behandelt, und meines Wissens gibt es kein ‚Hispanic lives matter‘ und auch kein gemeinsames Vorgehen verschiedener ethnischer Gruppen, um eine Reform der Polizei durchzusetzen.“1

Angesichts der Amerikanisierung unseres öffentlichen Lebens ist leider zu befürchten, dass Walzers Diagnose bald auch für Frankreich zutreffen wird. Zwar gibt es zahlreiche Stimmen, die dafür plädieren, die verschiedenen Protestbewegungen zusammenzuführen. Doch die, die sich dafür engagieren, müssen in einem neuen Kom­mu­ni­ka­tions­sys­tem agieren, das sich mit der digitalen Revolution etabliert hat. Wenn man früher öffentlich für eine Sache eintrat, musste man ein Ziel definieren und es gemeinsam verfolgen, indem sich mehrere Organisationen mit vielen Mitstreitern zusammenschlossen.

Heute braucht sich nur eine Handvoll Aktivisten als selbsternannte Wortführer mit der ein oder anderen Forderung die mediale Aufmerksamkeit zu sichern. Deshalb häuft sich spektakulärer Aktionismus wie etwa das Verbot eines Theaterstücks im Namen des Antirassismus. Viele Journalisten unterstützen diese Sorte Aktionismus, und das führt zu einer Polemisierung, die einen Keil zwischen die progressiven Kräfte treibt. Bisher wurden Meinungsfreiheit und Antirassismus immer mit linken Bewegungen assoziiert. Aber solche extrem minoritären Gewaltstreiche führen am Ende dazu, die Progressiven zu entzweien. Und damit den Konservativen den Weg frei zu machen.

1 Michael Walzer und Astrid von Busekist, „Justice is steady work“,Boston und Cambridge (Polity Press) 2020.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Stéphane Beaud ist Soziologe, Gérard Noiriel Historiker. Der Text ist ein gekürzter Auszug aus ihrem Buch „Race et sciences sociales. Essai sur les usages publics d’une catégorie“, das am 21. Januar 2021 bei ­Agone, Paris, erscheint.

Le Monde diplomatique vom 07.01.2021, von Stéphane Beaud und Gérard Noiriel