Jemens skrupellose Nachbarn
Knapp sechs Jahre nach Beginn der saudisch geführten Intervention gegen die Huthis ist kein Ende des Kriegs in Sicht. Riad und seine Verbündeten haben keines ihrer Ziele erreicht und das Land in eine humanitäre Katastrophe gestürzt.
von Pierre Bernin
Als die saudische Luftwaffe in der Nacht vom 25. auf den 26. März 2015 die ersten Luftangriffe auf Huthi-Stellungen in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa flog, betrachtete sie sich als bewaffneten Arm der „internationalen Gemeinschaft“. Offizielles Ziel der Militäroperation war es, den durch die Huthis im September 2014 de facto abgesetzten Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi zu stützen.
Mit den Huthis richtete sich der Angriff im Rahmen der „Operation Decisive Storm“ gegen eine bewaffnete Bewegung, die sich aus der religiösen Minderheit der Zaiditen rekrutiert. Der Zaidismus gilt allgemein als derjenige Zweig des Schiismus, der dem Sunnismus am nächsten steht, oder gar als dessen fünfte Rechtsschule. Damals sah es so aus, dass die Operation nur wenige Wochen dauern würde.
Am 14. April 2015 erteilte der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 2216 der Militärkoalition unter der Führung Saudi-Arabiens (mit Ägypten, Jordanien, Sudan, Marokko und den Golfmonarchien mit Ausnahme von Oman) praktisch eine Blankovollmacht. Die Koalition sah durch diese Resolution ihr militärisches Vorgehen legitimiert, ebenso wie ihre Kontrolle der Außengrenzen des Jemen.
Flug- und Seehäfen wurden blockiert, wodurch sich die Lage für die Zivilbevölkerung im Land innerhalb kurzer Zeit massiv verschlechterte. Daraus entwickelte sich eine humanitäre Krise, die als die weltweit schlimmste seit Jahrzehnten gilt. Noch immer sind die Nothilfemaßnahmen strukturell unterversorgt.
UN-Schätzungen zufolge sind bislang 250 000 Menschen durch die Kampfhandlungen und die humanitäre Katastrophe ums Leben gekommen, und die militärische Lage ist offensichtlich festgefahren.1 Auch die westlichen Mächte sind an dieser ebenso beschämenden wie wirkungslosen kriegerischen Unternehmung beteiligt – über Waffenlieferverträge und logistische Unterstützung für die Koalition.
Die Niederlage der Koalition – zumindest auf symbolischer Ebene – in diesem asymmetrischen Konflikt hat das Huthi-Lager gestärkt und das breite Spektrum seiner Gegner fragmentiert. Im März 2020 rief der jemenitische Politologe Abdulghani al-Iryani die Konfliktparteien auf, den „unumkehrbaren Sieg“ der Huthi-Rebellen anzuerkennen, damit man den Blick nach vorn richten und sich an den Wiederaufbau des Landes machen könne.2
Die jemenitischen Gegner der Huthis verfolgen so unterschiedliche Ziele, dass es auch unter ihnen häufig zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt. Das Einflussgebiet des von der „internationalen Gemeinschaft“ anerkannten Machthabers Hadi beschränkt sich auf einen verschwindend kleinen Teil des Landes. Der gesundheitlich angeschlagene Präsident hält sich nach wie vor als Flüchtling in Riad auf.
Im Südjemen sieht er sich einer separatistischen Bewegung gegenüber, die unter anderem durch den Südlichen Übergangsrat (Southern Transitional Council, STC) vertreten wird. Bedrängt wird er auch von Anhängern des früheren Präsidenten Saleh, der im Dezember 2017 von Huthi-Rebellen ermordet wurde. Er hatte sich gegen die Huthis gewandt, nachdem er 2014 beim Sturz Hadis mit ihnen zusammengearbeitet hatte.
Die Rolle Teherans wird überschätzt
Um den Konflikt zu begreifen, muss man zwar die regionalen Verflechtungen verstehen, aber das allein genügt nicht. Etliche Dynamiken militärischer, aber auch politischer und gesellschaftlicher Natur – wie die Mechanismen der Korruption und die individuellen Strategien des Überlebens in der katastrophalen Wirtschaftslage – entziehen sich größtenteils dem Zugriff der Nachbarländer. Manche Beamte haben seit vier Jahren kein Gehalt mehr bekommen, und 70 Prozent der jemenitischen Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Wichtig ist die Rolle Irans wegen seiner Unterstützung für die Huthis, die wohl der Hauptgrund für das militärische Engagement der Koalition ist. Deren Mitglieder betrachten den Jemen vor allem als Schauplatz einer versuchten Expansion der Islamischen Republik. 2018 verglich der saudische Kronprinz und De-facto-Regent Mohammed bin Salman die Politik Irans in der Region mit der Nazideutschlands: Irans Oberhaupt Ajatollah Chamenei verfolge „im Nahen Osten seinen eigenen Plan, genau wie seinerzeit Hitler, der auf Expansion aus war“.3
Nach einhelliger Meinung von Experten ist die Unterstützung Irans für die Huthis, deren ideologische Verwurzelung und Mobilisationsmöglichkeiten lokal beschränkt sind, unter dem Strich allerdings zweitrangig.4 Trotz gegenteiliger Behauptungen wurde auf jemenitischem Boden noch kein einziger iranischer Militärausbilder gesichtet – anders als zum Beispiel im Irak oder in Syrien.
Teherans Unterstützung hält sich zwar in Grenzen, aber sie nimmt zu. Das zeigt, wie kontraproduktiv die Intervention Saudi-Arabiens und seiner Verbündeten ist. Im Oktober 2020 gelang es den Huthis, einen zu ihnen entsandten iranischen Botschafter nach Sanaa zu schleusen und damit der Koalition, die doch angeblich die Grenzen des Jemen lückenlos überwacht, ein Schnippchen zu schlagen.
Die Boden-Boden-Raketen, die die Huthi-Rebellen als Vergeltung für Bombardierungen regelmäßig in Richtung Saudi-Arabien abfeuern, besitzen technische Ähnlichkeiten mit den von der iranischen Armee eingesetzten Raketen, was die saudische Lesart des Konflikts stützt. Dennoch ist Irans Engagement wohldosiert: Seine Strategen wissen offenbar ganz genau, welche roten Linien sie nicht überschreiten dürfen, und lassen die Saudis und ihre Verbündeten ins Leere laufen.
Verantwortlich für das militärische und politische Scheitern der Koalition ist in erster Linie Saudi-Arabien, dessen Fähigkeit, die Lage im Jemen unter Kontrolle zu bringen, die westlichen Entscheidungsträger 2015 überschätzten. Das Königreich verfügte weder über eine Exit-Strategie noch über eine differenzierte Lagebeurteilung. Riad machte sich mutmaßlich zudem schwerer Kriegsverbrechen schuldig5 und beschädigte so sein Ansehen – nicht nur in den Augen vieler Jemeniten, sondern auch international.
Dass die Saudis seit 2017 jemenitische Gastarbeiter ausweisen, die lange vor Ausbruch der Feindseligkeiten eingewandert waren, hat die verbreiteten Ressentiments gegen sie und speziell gegen ihren Kronprinzen weiter verstärkt. Der neugewählte US-Präsident Joe Biden könnte Riads Position zudem zusätzlich schwächen. Im Wahlkampf sprach er sich gegen den Krieg im Jemen aus, äußerte sich ausgesprochen kritisch über die Haltung der Saudis und drohte, sie zu „Parias der internationalen Gemeinschaft“ zu machen.6
Das Weiße Haus könnte versuchen, Riad unter Druck zu setzen, um ein schnelleres Ende des Konflikts herbeizuführen oder zumindest die jemenitische Zivilbevölkerung stärker zu schützen. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode stimmte die demokratische Minderheit im US-Senat dafür, die US-Unterstützung der Militärkoalition im Jemen zu beenden. Donald Trumps Erwägungen, noch kurz vor dem Ende seiner Amtszeit die Huthi-Bewegung als terroristische Organisation einstufen zu lassen, könnte eine solche diplomatische und juristische Neuorientierung allerdings erschweren.
Riad signalisiert Verhandlungsbereitschaft
Neuerdings signalisieren die saudischen Machthaber vorsichtig ihre Bereitschaft zu verhandeln, da die letzte Hochburg ihres Protégés Hadi, die Stadt Marib, von vorrückenden Huthis bedroht ist.7 Parallel zu den Bemühungen des UN-Sondergesandten Martin Griffiths begannen saudische Diplomaten Gespräche über den Grenzkonflikt zwischen den beiden Ländern und forderten die Huthis auf, der Einrichtung einer entmilitarisierten Zone zuzustimmen und sich aus den saudischen Dörfern zurückzuziehen, die sie besetzt halten.
Dass das saudische Königreich nicht in der Lage ist, das im November 2019 in Riad unterzeichnete Friedensabkommen zwischen den Hadi-Anhängern und den Separatisten des STC durchzusetzen, beweist zusätzlich, wie schwach seine Position ist. Möglicherweise würde selbst ein Friedensabkommen zwischen der von den Saudis angeführten Koalition und den Huthis den Konflikt im Jemen nicht beenden.
Den Saudis ist es auch nicht gelungen, durch ihre Militärintervention die Region entsprechend ihrer Interessen umzugestalten: Oman wahrt im Jemenkonflikt und gegenüber Iran seine diplomatische Neutralität. Die omanische Führung hat sich weder durch Riads Versuche, die jemenitische Grenzregion Mahra zu destabilisieren, noch durch die im Sultanat grassierende und durch die Coronapandemie zusätzlich verschärfte Wirtschaftskrise von dieser Linie abbringen lassen.8
Haitham bin Tarik, Nachfolger seines im Januar 2020 verstorbenen Cousins Sultan Qabus ibn Said, hat sich für eine außenpolitische Kontinuität entschieden, die sich schlecht mit den saudischen Hegemoniebestrebungen verträgt – und die erneut zeigt, dass die diplomatischen Optionen und die regionalpolitischen Positionen der Golfmonarchien sehr unterschiedlich sind.
Auch innerhalb der Koalition gegen die Huthis wird Riads Macht infrage gestellt. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) haben mit ihrem militärischen Engagement in den südlichen Landesteilen des Jemen und ihrer direkten Unterstützung für den STC eine Politik verfolgt, die den Absichten der saudischen Monarchie zuwiderläuft.
In ihrem Einflussbereich unterstützen die Emirate die brutale Repression gegen dortige Anhänger der Muslimbruderschaft (der Jemenitischen Vereinigung für Reform, auch al-Islah genannt). Zahlreiche führende Köpfe von al-Islah sind in die saudische Hauptstadt geflohen.
All das macht deutlich, dass für die Mitglieder der Koalition keine verbindliche Ordnung der Region und keine gemeinsame Haltung zu Streitpunkten, Prioritäten und Gefahren existiert.
Die Allianz zwischen den Streitkräften Abu Dhabis und salafistischen Milizen vor Ort zeugt darüber hinaus von einer wirren und kurzsichtigen Politik. Dennoch ist bisweilen (insbesondere aus dem Mund führender europäischer Politiker) zu hören, die Politik der Emirate stehe im Zeichen von wirtschaftlicher Integration und Toleranz. Tatsächlich aber beruht die undifferenzierte Strategie der Emirate auf schwarz-weißen Feindbildern und schürt vor allem Ressentiments und Gewalt.
Die Zwistigkeiten innerhalb der Koalition brechen zu einem Zeitpunkt auf, da die USA ebenso wie Russland, China und die Europäische Union auf keinen Fall Stellung beziehen wollen. Sowohl beim Konflikt in Jemen als auch bei der Neuordnung der Region wollen sie offenbar nicht die Rolle des Schiedsrichters übernehmen.
Die Strategie Saudi-Arabiens und der Emirate nimmt herzlich wenig Rücksicht auf zivile Opfer. Dass ihre Politik verheerende Auswirkungen auf die 30 Millionen Jemeniten hat, könnten jedoch auch sie schon bald zu spüren bekommen – sei es durch Emigration oder durch die Gewalt sogenannter dschihadistischer Gruppen.
Der Zusammenbruch der jemenitischen Wirtschaft und der Gesundheitsversorgung, zusätzlich verschärft durch die Pandemie, der nach unseren Informationen zwischen April und November 2020 mehr als 70 Ärzte zum Opfer fielen, wird die Arabische Halbinsel nicht unberührt lassen.
Die Herrscher am Golf, die durch den Ölpreisverfall, die Erwartungen ihrer Untertanen und die Herausforderungen des Klimawandels ohnehin in Bedrängnis sind, sollten sich klarmachen, dass auch sie ein Interesse daran haben, für den Jemen eine friedliche Perspektive zu entwickeln.
1 Vgl. Laurent Bonnefoy, „Kalkül und Katastrophe im Jemen“, LMd, Dezember 2017
2 „So now that the Houthis have won …“, Sanaa Center for Strategic Studies, 10. März 2020.
3 „60 Minutes“, CBS News, 19. März 2018.
5 Siehe Bericht der UN-Expertengruppe, Genf/Beirut, 9. September 2020.
8 Vgl. Sebastian Castelier und Quentin Müller, „Oman und der Krieg im Jemen“, LMd, Juni 2020.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Pierre Bernin ist unabhängiger Forscher.