07.01.2021

Hauptsache politisch loyal

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Hauptsache politisch loyal

von Alessia Lo Porto-Lefébure

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Die Ausbildung der chinesischen Verwaltungsbeamten liegt in den Händen verschiedener Institutionen. Beteiligt sind die Schulen der Kommunistischen Partei, die staatliche Verwaltung, die Universitäten, an denen der Master of Public Administration (MPA) gelehrt wird, und die Fortbildungsakademien der Ministerien. Das System beruht auf meritokratischer Logik, die Kompetenz und berufliche Leistungen honoriert, und Loyalität, um die Netzwerke des Vertrauens in die Partei zu pflegen.

Gesprochen wird von „Kadern“ – einem Erbe der in den 1950er Jahren nach sowjetischem Vorbild übernommenen Verwaltungsorganisation – und „Beamten“. Obwohl die terminologische Trennung zwischen den beiden Kategorien seit 1987 sogar gesetzlich verankert ist1 , unterscheiden sich die beiden Laufbahnen kaum. In der Praxis sind die meisten höheren Beamten auch Parteikader, und die Personalabteilung der KP schickt nach wie vor einen Vertreter in jede Behörde.

Die seit den 1950er Jahren existierenden Parteischulen auf Zentral-, Provinz- und Kommunalebene dienen der Ausbildung kommunistischer Kader, die neue Aufgaben übernehmen sollen. Vor allem sind sie ideologische Begleiter, die sicherstellen sollen, dass die in Peking beschlossenen Richtlinien auf allen Organisationsebenen korrekt umgesetzt werden. Parallel dazu wurden in den 1990er Jahren Verwaltungshochschulen nach dem Vorbild der französischen École nationale d’administration gegründet, in der Fortbildungen angeboten werden.

Die Regeln für den Zugang zum öffentlichen Dienst sorgen für weitere Unübersichtlichkeit. Trotzdem die KP auf das Leistungsprinzip setzt und die fachliche Kompetenz für die Karriere immer wichtiger geworden ist, nehmen nur die Bewerberinnen und Bewerber für den einfachen und mittleren Dienst an einem Stellenwettbewerb teil. Alle leitenden Verwaltungs- und Parteifunktionäre werden nach wie vor durch ein politisches Auswahlsystem rekrutiert, das im Wesentlichen auf Loyalität basiert.2

Jahrhundertelang war der Wettbewerb der wichtigste Mechanismus für die Auswahl der Eliten an der Spitze der öffentlichen Verwaltung Chinas. Obwohl es nicht unproblematisch ist, die modernen Kader mit gesellschaftlichen Gruppen früherer Epochen zu vergleichen, gibt es zwischen den heutigen Verwaltungsbeamten und den Mandarinen im alten China gewisse Parallelen. Seit 605 nach unserer Zeitrechnung durchliefen diese chinesischen Beamten eine als Wettbewerb organisierte Aufnahmeprüfung, die theoretisches Wissen – zunächst vor allem in Literatur und Philosophie, nach 1860 auch in Disziplinen wie Geschichte oder Naturwissenschaften – vor Sachkenntnis stellte.

Die Kandidaten wurden aufgrund ihrer Gelehrsamkeit und nicht ihres Standes ausgewählt. Da der kaiserliche Aufnahmewettbewerb eine bestimmte Kultur beförderte und da für die Vorbereitung auf die Prüfungen erhebliche finanzielle Mittel nötig waren, wurde er allmählich zu einem Mechanismus zur Reproduktion der herrschenden Klasse. Immer häufiger wurde die Diskrepanz zwischen den Kompetenzen der Verwaltungsbeamten und den nationalen Ambitionen als Hindernis für die Modernisierung beklagt. 1905 wurde der Wettbewerb schließlich abgeschafft. Die Kaiserlichen ­Akademien waren schon 1898 geschlossen worden.

Dass Chinas Eliten glauben, den Herausforderungen und Krisen des Landes aufgrund mangelnder Modernität nicht gewachsen zu sein, scheint ein historisch gewachsener Topos zu sein. Der Ruf nach einer „modernen Verwaltung“ bedeutete stets, die Unzulänglichkeit des bestehenden Systems einzugestehen, die ­wiederum eine Folge des Ausbildungssystems ist.

Gegen Ende des Kaiserreichs finanzierten reformorientierte Unternehmer die ersten Universitäten nach US-amerikanischem und deutschem Vorbild. Die Fudan-Universität in Schanghai wurde 1905 gegründet, die Pekinger Tsinghua-Universität 1911, im Jahr der Ausrufung der Republik China. Im Gegensatz zur konfuzianischen Tradition waren diese Institutionen stark praxisorientiert, der Unterrichtsstoff basierte auf übersetztem Kursmaterial, das von den im Ausland ausgebildeten Professoren für die Lehre benutzt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg musste zur Überwindung der Krise der gesamte Kanon für die angehenden Führungskräfte überarbeitet werden.

Immer mehr Chinesen gingen mittlerweile zum Studieren ins Ausland. Die ersten 120 waren zwischen 1872 und 1881 in den USA. Mehrere Tausend belegten zwischen 1869 und 1911 in Japan technische Fächer, während der Zustrom an US-amerikanische Universitäten bis 1949 nicht abnahm. Nach der Gründung der maoistischen Volksrepublik übernahm die UdSSR diese Rolle, gefolgt von anderen sozialistischen Ländern.

Das neue, vom Ausland inspirierte Ausbildungssystem konnte jedoch das alte in seiner verbindenden Funktion nicht ersetzen: Es war nicht darauf ausgerichtet, die Loyalität zum Regime zu gewährleisten. Die Universitäten wurden zu Orten der Reflexion und Diskus­sion über die politische Rolle der Studierenden, aber sie hatten keinen Einfluss auf die Bürokratie.

Die Kuomintang, die von 1927 bis 1949 an der Macht war und von jungen Beamten, die im Ausland studiert hatten, unterstützt wurde, erklärte die Modernisierung zur Leitlinie. Auf Anraten europäischer Experten des Völkerbunds wurden ab 1932 einige zaghafte Reformen im Hochschulwesen zur Ausbildung des Verwaltungsnachwuchses für einen modernen Staat eingeführt, die jedoch 1952 von Mao Tse-tung wieder aufgegeben wurden. Die 1921 in Schanghai gegründete KPCh, der sich viele Studenten aus den neuen Universitäten anschlossen, stellte offen die Frage nach der Rolle der Verwaltung bei der Modernisierung.

Mao, der die Bürokratie als realitätsfern und kontraproduktiv für die Revolution kritisierte, zerschlug das bestehende System. Er wollte damit politische Loyalitäten stärken und verhindern, dass sich die bürokratische Nomenklatura zu einer eigenen sozialen Klasse formiert – was aus seiner Sicht eine permanente Revolution und die Errichtung einer gerechteren Gesellschaft verhindern würde.

Nach der ideologischen Gleichschaltung und Umerziehung während der Kulturrevolution (1966–1976) war von dem alten bürokratischen Apparat nichts mehr übrig. Waren die zivilen Kader von den ersten Säuberungen in den 1950er Jahren noch verschont geblieben, wurden sie ab 1966, als die Aufnahmewettbewerbe endgültig abgeschafft wurden, massiv getroffen. 1968 kamen 60 Prozent der Verwaltungsbeamten aus dem Militärapparat.

Von nun an basierte die Auswahl und Beförderung von Führungskräften in erster Linie auf politischer Loyalität: Sie mussten eindeutig als „Rote“ identifizierbar sein. Die Kader waren wie paralysiert durch die ständigen Versetzungen und die verbalen und sogar physischen Angriffe, Erniedrigungen und schließlich auch Deportationen aufs Land, wo sie in den 1966 gegründeten „Schulen des 7. Mai“ ideologisch auf Kurs gebracht werden sollten.

Als Mao 1976 starb, war die Unterscheidung zwischen Staat und Partei de facto aufgehoben. Das akademische System lag in Trümmern, politische Loyalität war das einzige Kriterium, um Karriere zu machen. 1978 begann die Regierung die Ausbildungswege für die intellektuellen, administrativen und politischen Eliten allmählich wiederherzustellen. Dabei griff sie auf die Tradition des Kaiserreichs und die Praxis der frühen Jahre des postrevolu­tio­nären Chinas zurück. Um den öffentlichen Dienst rundum zu erneuern, wurden fortan gezielt junge Menschen rekrutiert, die „besser ausgebildet, kompetenter, professioneller, ehrlicher und nach Leistung ausgewählt“ wurden, wie in jedem Bericht des Generalsekretärs der KPCh nach den Parteikongressen von 1987, 1992 und 1997 wiederholt wird. Das war fortan die Richtschnur für die ehrgeizige Reform des Hochschulwesens zwischen 1985 und dem Ende der 1990er Jahre.

Alessia Lo Porto-Lefébure

1 Artikel 16 des Gesetzes zum Beamtenrecht der Volksrepublik China vom 27 April 2005, in Kraft getreten am 1. Januar 2006. Der Text findet sich auf Englisch unter: „Laws of the People’s Republic of China“, Asian Legal Information Institute, www.asianlii.org.

2 Artikel 21 des Beamtenrechts der Volksrepublik China.

Le Monde diplomatique vom 07.01.2021, von Alessia Lo Porto-Lefébure