07.01.2021

Pekings neue Kader

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Pekings neue Kader

In China werden immer mehr Verwaltungsbeamte nach amerikanischem Vorbild ausgebildet

von Alessia Lo Porto-Lefébure

Benjamin Nachtwey, Hotel Room / Instant Lullaby, 2006, Öl auf Leinwand, 20 x 20 cm
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Wie lassen sich Chinas beeindruckende Erfolge in Bildung, Wissenschaft und Technologie erklären, während das Regime autoritär wie eh und je agiert, ja die bürgerlichen Freiheiten immer mehr beschneidet? Der Aufstieg des modernen China zur Supermacht vollzieht sich jedenfalls nicht gegen den Widerstand der öffentlichen Verwaltung: „Es sind im Gegenteil die Beamten, die die nötigen Reformen umsetzen und die institutionellen Grundlagen dafür schaffen, damit China eine Wohlstandsgesellschaft wird“, sagt Li Jing1 , Harvard-Absolvent und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Peking.

Der öffentlichen Dienst im heutigen China basiert immer noch auf Deng Xiaopings „Sozialismus chinesischer Prägung“ aus den 1980er Jahren: ein kapitalistisches Marktmodell, das Konsumkultur mit Planwirtschaft kombiniert. In diesem System, in dem die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) den Staat kontrolliert, der wiederum die Wirtschaft steuert, musste die Verwaltung in den vergangenen 40 Jahren lernen, mit dem privaten Sektor zu interagieren. Dabei steht sie unter einem ständigen Legitimationsdruck, weil die technischen Herausforderungen immer komplexer geworden sind.

Im Ausland weiß man wenig über Chinas öffentlichen Dienst. Dabei haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrere tausend Bedienstete einen aus den USA importierten Master of Public Administration (MPA) nach dem Vorbild der John F. Kennedy School of Government der Harvard University absolviert. Offiziell wurde der MPA 1999 eingeführt. Seit Beginn des akademischen Jahres 2001 gibt es die ersten Abschlüsse. Der MPA richtet sich an Beschäftigte mit mindestens drei Jahren Berufserfahrung, hauptsächlich in staatlichen Behörden und Unternehmen, steht aber auch Angestellten aus dem privaten Sektor offen.

Dass in China ein Ausbildungsmodell made in America zur Anwendung kommt, um die Arbeitskultur von Topverwaltungsleuten zu formen, ist auf den ersten Blick erstaunlich. Denn es widerspricht dem Bestreben der KPCh, sich der Welt als beispielhafte Alternative zum westlichen Kapitalismus zu präsentieren. Manche halten den MPA deswegen für ein trojanisches Pferd derjenigen Kräfte, die sich für eine Demokratisierung innerhalb der Partei einsetzen. Aber wenn der MPA wirklich eine Geheimwaffe der Reformer wäre, warum wurde seine Einführung in China dann so stark von der Regierung gefördert?

Laut der Pekinger Tsinghua-Universität ist das Ziel des Programms „die Vorbereitung auf die Herausforderungen von Leadership und Management im öffentlichen Sektor“. Kandidaten mit mindestens einem Bachelor-Abschluss werden, anders als an Partei- und Verwaltungsschulen, unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in der KPCh oder ihrem bisherigen Rang in der Verwaltung zur Prüfung zugelassen.

Überraschenderweise wurde der MPA ausgerechnet in solchen akademischen Einrichtungen ins Leben gerufen, die bei der Ausbildung von Behördenleitern und Angestellten des öffentlichen Sektors bisher eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Verwaltungs- und Parteischulen bleiben außen vor, und so existieren alte und neue Programme nebeneinander.

Die Umstellung in der akademischen Schulung der Beamten begann in den 1990er Jahren. Eine wissenschaftliche Ausbildung wurde stets mehr geschätzt, gerade wenn sie von Institutionen von Weltrang kam, allen voran von nordamerikanischen Universitäten (siehe nebenstehenden Beitrag).

Die angestrebte weltweite Konvergenz von Standards und Anforderungen erklärt zumindest teilweise, warum die Regierung gerade die Universitäten fördert, die den Ruf haben, neutral zu sein und sich der Wissenschaftlichkeit verpflichtet sehen. Die Staatspartei schuf eine Reihe von amerikanisch inspirierten akademischen Berufsabschlüssen: den Master of Business Administration (MBA) im Jahr 1991, den Master in Architektur im Jahr 1992, in Jura 1996, Erziehungswissenschaften und Ingenieurswesen 1997 sowie in Agrarwissenschaft 1999.

Von Peking nach Harvard und zurück

Die öffentliche Verwaltung sollte da keine Ausnahme machen. Niemand in der KPCh bestritt die Notwendigkeit, einen kompetenten und professionellen öffentlichen Dienst aufzubauen. Die in den USA schon seit den 1920er Jahren etablierte Verwaltungswissenschaft schien ein bewährtes Modell zu sein. Sie war geschaffen worden, um Missstände und Korruption insbesondere auf kommunaler Ebene zu bekämpfen. Die ersten Kurse als Vorläufer des MPA fanden 1914 an den Universitäten von Michigan, Berkeley und Stanford statt. Heute haben die rund 300 MPAs in den USA alle das gleiche Ziel: die Vision einer öffentlichen Verwaltung konkret zu machen, die gemäß der Verfassung Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit neben anderen Grundrechten und Freiheiten garantiert.

Der normative Einfluss, den die USA durch ihre geopolitische, wirtschaftliche und nicht zuletzt sprachliche Macht weltweit ausüben, wird in China durch die Überrepräsentation von in den USA ausgebildeten Akademikern verstärkt. Nach mehr als einem Jahrhundert des akademischen Austauschs zwischen China und den USA kann die chinesische Regierung auf die direkte Erfahrung zahlreicher Absolventen zurückgreifen, die im Ausland studiert haben und bereit sind, ihr Wissen und ihre Netzwerke für die Praxis in China zu nutzen.

Zwischen 1996 und 1998 reisten Delegationen von Hochschulvertretern und Beamten des Bildungsministeriums in die USA, nach Kanada und Europa, um die besten Ausbildungssysteme für Verwaltungsbeamte zu studieren. Sie konzentrierten sich auf die US-amerikanischen Geburtsstätten der Public-Affairs-Ausbildung: die Maxwell School an der Syracuse University, die John F. Kennedy School an der Harvard University, die Carnegie Mellon University in Pittsburgh und die Columbia University in New York. Und umgekehrt wurden Professoren aus diesen Institutionen als Berater nach China eingeladen. Nach ihrer Rückkehr schrieben einige Delegierte außerdem Aktenvermerke, in denen sie für die Einführung von US-amerikanischen MPAs in China warben.

Im Mai 1999 beschloss die Regierung in Peking, den MPA auch in China zu etablieren. Man lud die besten Universitäten ein, Vorschläge einzureichen und wählte 24 für einen Pilotversuch aus. Der MPA wurde zuerst in den renommiertesten Hochschulen des Landes eingeführt, allen voran die Universität Peking, die Tsinghua-Universität, die Chinesische Volksuniversität und die Fudan-Universität in Schanghai.

In den folgenden 15 Jahren wurden übers ganze Land verteilt mehr als 100 MPA-Institute gegründet. Inzwischen haben mehr als 150 000 Absolventen das Studium durchlaufen – das sind zwar im Vergleich zu den 7,1 Millionen Beamten im Land nicht viele, aber doch eine hohe Zahl für ein völlig neues akademisches Angebot, für das man sich extra bewerben muss. Und die Zahl der Einschreibungen wächst weiter. „Die Studierenden sind offensichtlich beeindruckt von den Erfahrungen, die ich im Ausland gesammelt habe. Bislang stammen die Konzepte und Ideen allesamt aus westlichen Büchern“, erklärt Chen Wei, der heute an der Tsinghua-Universität lehrt und in Hongkong studiert hat. Wie in den USA werden im MPA-Studium Politik, Organisationstheorie, Sozialwissenschaften, Volkswirtschaft, Personalmanagement und Verwaltungsrecht gelehrt; hinzu kommen Seminare, die spezifischer auf die lokalen Bedürfnisse zugeschnitten sind, wie beispielsweise öffentliche Verwaltung, Ordnungspolitik, Theorie und Praxis des Sozialismus, Englisch, Regionalentwicklung und kommunales Management.

Offene Diskussionen hinter verschlossenen Türen

„Die Herausforderung besteht darin, das Interesse meiner Studierenden zu wecken“, so Chen weiter. „Ich habe dafür zwei Methoden: Ich unterrichte die neuesten theoretischen Konzepte, und ich gebe viele Beispiele aus der Praxis. Das ist sehr wichtig. Der MPA muss für die Kursteilnehmer nützlich sein. Jedes neue Thema beginne ich mit einer Diskussion und lasse dabei immer mehr die Studierenden sprechen, während ich mich eher zurückhalte.“

Da die Inhalte, Theorien und Beispiele aber alle aus dem Ausland stammen, sind die Lehrenden vor allem als interkulturelle Mediatoren gefragt. Schließlich muss die Ausbildung an die tägliche Berufspraxis in den chinesischen Behörden angepasst werden. Doch die unübersehbaren politischen beziehungsweise vor allem ideologischen Divergenzen zwischen dem Lehrstoff aus den USA und dem angestrebten Lernziel sind natürlich ein Problem.

Hier ist die Kreativität der Lehrenden gefragt. Sie verweisen dann auf die Kluft zwischen westlicher Theorie und lokaler Praxis und bemühen sich um eine Sinisierung des Lehrplans. Daher stützen sich die MPA-Kurse inzwischen vor allem auf Fallstudien. Diese Unterrichtsmethode mit Planspielen und Diskussion, die Ende der 1880er Jahre in den US-amerikanischen juristischen Fakultäten aufkam und dann von den Managementschulen popularisiert wurde, wurde schnell auch zum Markenzeichen des chinesischen Masterstudiums. Die behandelten Fallstudien dürfen sich allerdings nicht auf konkrete aktuelle Ereignisse beziehen, zumindest nicht in einem sozialwissenschaftlichen oder öffentlich-politischen Lehrumfeld. Doch durch eine Fiktionalisierung ist es möglich, auch „sensible“ Themen in den Unterricht einzubringen, wie soziale Ungleichheit, Korruption, Zwangsenteignung und Umsiedlung der Bevölkerung, Umweltverschmutzung, Privatisierung von Energiequellen, Arbeitslosigkeit, Prekarität, Missstände im Steuersystem und so weiter.

Vor allem ermöglichen die Fallstudien eine offene Diskussion, wenn auch hinter verschlossenen Türen. Schließlich spielt sich das Ganze innerhalb eines festen Rahmens mit vordefinierten Rollen ab. In einem Kurs an der Tsinghua-Universität2 wurde zum Beispiel folgender Fall durchgenommen: „Was hat Priorität: Hochwasserschutz oder die Teilnahme an Sitzungen? Der Fall eines administrativen Konflikts in einer regionalen Behörde.“

Die Studierenden wurden aufgefordert, über die Hierarchie nachzudenken und Stellung zu beziehen im Konflikt zwischen den Anweisungen des Vorgesetzten und der Notwendigkeit, akut einzugreifen. In diesem Fall ging es um eine drohende Überschwemmung am Jangtse-Fluss. Die Aufgabe endete mit den folgenden Fragen: „Was würden Sie tun, wenn Sie der Leiter der Behörde wären? Wie lautet Ihre Entscheidung, und wie begründen Sie diese? Ist das Unbehagen des Behördenleiters vermeidbar? Was, denken Sie, sind die Gründe für diesen Konflikt?“ Ziel der Aufgabe war es, die strikte Anwendung von Verfahren sowie den Gehorsam gegenüber der Hierarchie zu hinterfragen.

Ohne offen zu Ungehorsam oder Widerstand aufzurufen, regen solche Fallstudien doch zur Reflexion über den freien Willen und den gesunden Menschenverstand an, der die Entscheidungen von erfahrenen und mit den lokalen Gegebenheiten vertrauten Beamten leiten soll.

Damit wird es möglich, in die Grauzonen des Verwaltungshandelns diskursiv einzudringen, ohne dabei offen Stellung beziehen zu müssen. Die ergebnisoffenen Fragen implizieren, dass alle Optionen legitim und vertretbar sind und im Seminar diskutiert werden können. Die Studierenden sprechen immer über das heutige China, aber so, als beträfe die Diskussion lediglich einen Fall aus dem Lehrbuch. Man kann über alles reden, ohne Angst zu haben, irgendwelche Grenzen zu überschreiten oder von den Kommilitoninnen in die Schranken gewiesen zu werden – denn man redet ja gar nicht direkt über die Realität.

Das Unterrichten nach der Fallstudienmethode wird in der Regel returnees anvertraut, wie die Chinesen genannt werden, die im Westen, in Japan oder in Hongkong studiert haben und heute Führungspositionen in Unternehmen oder an Universitäten bekleiden. Dank dieser mit westlichen Theorien vertrauten Professoren überbrücken die Fallstudien die Kluft zwischen anderen Ideen und ungewohnten Methoden auf der einen Seite und der Fähigkeit der Kursteilnehmer, diese zu verstehen und in ihren beruflichen Kontext zu übertragen.

In der Tat entspricht vieles von dem, was die Studierenden im Unterricht lernen, nicht dem, was sie aus den Behörden kennen, in denen sie gearbeitet haben. Diesen gefährlichen Spagat können nur die Rückkehrer leisten, da sie beide Welten mit ihren jeweiligen Besonderheiten und Zwängen kennen.

Die ersten Beförderungen geben einen Einblick in die aktuelle Transformation der chinesischen Bürokratie. Ohne zu destabilisieren, tragen die Anregungen aus dem Ausland zu Veränderungen bei. MPA-Studierende eignen sich neue Konzepte, Ideen und Werte wie Verantwortung, Korruptionsbekämpfung, technische Kompetenz und gute Regierungsführung an. Sie erfinden eine Verwaltungskultur neu, deren innovatives Potenzial mit dem alten System koexistieren kann. Je nach politischer Entwicklung kann dieser Transfer beschleunigt, reduziert oder vorübergehend gestoppt werden.

Zum Beispiel „erlaubt uns die traditionelle Auffassung der Verwaltungstätigkeit nicht, auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu reagieren“, erklärt Wang Ping, MPA-Absolvent der Fudan-Unversität. „In der Vergangenheit sind unsere Bürger bei allen Streitigkeiten vor Gericht gezogen. Jetzt wissen sie auch über Schlichtungsverfahren Bescheid. Wenn Bürger ihre Streitigkeiten ohne den Staat lösen können, spart das Ressourcen. Unsere Aufgabe ist es daher, die Gewohnheiten der Bevölkerung zu ändern, damit mehr Streitigkeiten durch Schlichtung gelöst werden. All dies war nur durch die Einführung der neuen Theorien möglich.“

Er könne natürlich nicht immer alles anwenden, was er gelernt habe, räumt Ping ein. „Es ist ein langer Prozess, aber durch meine Tätigkeit und das Wissen, das ich mir angeeignet habe, kann ich auf lange Sicht Einfluss auf die Arbeitsweise ausüben.“ Ehemalige Studierende verwenden oft das Wort „Fähigkeiten“ (nengli auf Chinesisch). Ihr Abschluss verleiht ihnen langfristig eine größere Handlungsfähigkeit, Mittel und sogar Macht (neng bedeutet Fähigkeit, Fertigkeit oder auch Berechtigung; li heißt Stärke, Macht, Einfluss).

„Die im Rahmen des MPA gelehrten Theorien sind Leitlinien für meine Arbeit und für die Entwicklung der Arbeit der Behörden“, so Wang Ping weiter. „Sie sind ein Mittel zur Veränderung. Nach dem Abschluss habe ich die Personalabteilung meiner Behörde gedrängt, noch mehr Kolleginnen an die Universität zu schicken. Mit einem Master in der Tasche wird man zwar nicht gleich befördert und er dient auch nicht der Karriere, aber ich glaube, dass die Ausbildung äußerst nützlich ist, um die Arbeitsweise der Beamten zu verändern.“

Der MPA und die anschließende Anwendung des Erlernten ermöglichen es den jungen Absolventen, „Tugend“ (auf Chinesisch de) zu verkörpern, einen der Leistungsindikatoren für Parteikader – wenn auch nicht unbedingt im Sinne der kommunistischen Ideologie. Mit gemeinsamen Visionen und Werten ausgestattet, sehen sich diese Schüler als moderne Aufklärer, die in der Lage sind, alte wie neue Verhaltensregeln gleichermaßen zu meistern.

Sie wissen, wie man sich anpasst und beruflich weiterentwickelt, sowohl in einem traditionellen System, das immer noch auf politischer Loyalität basiert, als auch in einem neuen Umfeld, das stärker auf Wissen und berufliches Können setzt. Diese neue Beamtenschaft will an allen Fronten mitmischen, um die Aussichten auf den sozialen Aufstieg zu maximieren – unabhängig davon, in welche Richtung sich ihr Land entwickelt und ob gerade die Modernisierer oder die Konservativen die Richtung in China vorgeben. Sie ist bereit, jede Chance zu ergreifen, wo immer sie sich ergibt.

1 Die Namen sind fiktiv. Die Aussagen entstammen Interviews, die hier publiziert wurden: „Les Mandarins 2.0“, Paris (Sciences Po) 2020.

2 Cas CCCC-05-40-E, School of Public Policy and Management of Tsinghua University, Peking 2005.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Alessia Lo Porto-Lefébure ist Soziologin an der Universität in Rennes und Autorin von: „Les Mandarins 2.0. Une bureaucratie chinoise formée à l’américaine“, Paris (Presses de Sciences Po) 2020.

Le Monde diplomatique vom 07.01.2021, von Alessia Lo Porto-Lefébure