07.01.2021

Die Erfindung der kaukasischen Nationen

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Die Erfindung der kaukasischen Nationen

Der Krieg um Bergkarabach hat eine lange Geschichte, die bis in die Zeit der Zaren und der osmanischen Herrschaft zurückreicht. Als Nikolai von Seidlitz 1881 die Region ethnografisch erfasste, war von Nationalitätenkonflikten noch nicht die Rede. Erst nach der Russischen Revolution begann der Streit um Territorien. Stalin spielte dabei eine nicht unwichtige Rolle.

von Étienne Peyrat

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Es war die Wissenschaft der Klassifizierung schlechthin, die Botanik nämlich, welche den deutschbaltischen Studenten Nikolai von Seidlitz in den 1850er Jahren zu einer Erkundung des Kaukasus aufbrechen ließ. Von der Universität Tartu im heutigen Estland reiste von Seidlitz zum äußersten südlichen Rand des Zarenreichs, zunächst nach Baku, der heutigen Hauptstadt Aserbaidschans, dann in die jetzige geor­gische Hauptstadt Tiflis, wo er sich niederließ. Er wurde bald Leiter des kaukasischen Statistischen Komitees, das den russischen Behörden unterstellt war.

In dieser Eigenschaft veröffentlichte er 1881 die erste große ethnografische Karte der Region. In den folgenden Jahren entwickelte er sie weiter – in mehreren Publikationen, die noch immer Aktualität besitzen, etwa für den aktuellen Konflikt in Bergkarabach.

Seine Landkarte besticht allein schon durch ihre Dimension. Sie stellt nicht nur das gesamte Gebiet zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer bis zu den Grenzen des Persischen und Osmanischen Reichs dar;1 sie erinnert auch daran, dass das von Zar Nikolaus I. geschaffene kaukasische Vizekönigreich im Norden bis weit in die heutige südrussische Ebene reichte.

Beeindruckend ist auch, wie farbenreich die Karte die enorme ethnische Vielfalt der Region wiedergibt. Diese im Gegensatz zur heutigen Situation sehr kleinteilige Fragmentierung war das Erbe einer Geschichte, die ganz unterschiedliche ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen auf engstem Raum – manchmal im selben Tal oder Dorf – in einer Region zwischen drei Imperien, durchzogen von alten Handelswegen, zusammengebracht hatte.

Die Karte ist Teil der gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei westlichen Wissenschaftlern beliebten Versuche, Bevölkerungen mit den Mitteln der physischen Anthropologie, der Linguistik und der Geografie statistisch einzuordnen. Im zaristischen Russland erreichten diese Versuche ihren Höhepunkt 1897 mit der ersten großen Volkszählung, bei der sich zeigte, wie schwierig es war, die komplexe Realität der Grenzgebiete des Reichs zu erfassen.2 Die Karte stützte sich zunächst auf eine durch von Seidlitz ab 1871 unter dem Titel „Sammlung von Erkenntnissen über den Kaukasus“ herausgebrachte Reihe. Die beigefügte Legende listete die wichtigsten identifizierten Bevölkerungsgruppen auf.

Wo es um „Rasse“ ging, zählte die Sprache als entscheidendes Kriterium zur Klassifizierung. Südlich der geografischen Barriere, die das Hochgebirge des Großen Kaukasus darstellt, dominierten demnach drei Gruppen: Armenier, Georgier und „aserbai­dscha­nische Tataren“ – so die damals gebräuchliche Bezeichnung für die turksprachigen, muslimischen (in der Regel ­schiitischen) Bewohner des Südkaukasus.

Während die Georgier und Tataren relativ homogene Siedlungsgebiete im Westen und Osten bewohnten, lebten muslimische Bevölkerungsgruppen verstreut bis hin zur Schwarzmeerküste. Die Armenier wiederum verteilten sich über die gesamte Region, die – damals sehr zahlreichen – Armenier im Osmanischen Reich kamen noch hinzu. Ein heutiger Beobachter sollte sich jedoch hüten, dieses Zusammenleben nach der derzeit üblichen (allzu exklusiven) Lesart von Identitäten zu interpretieren. Denn nationale Strukturen kristallisierten sich nur ganz allmählich heraus. Sie standen in Konkurrenz zu religiösen, geografischen, sprachlichen oder sozialen Gegebenheiten, die häufig von ebenso großer Bedeutung waren und sich allzu simplen Einordnungsversuchen verweigern.

Von Seidlitz’ Karte gibt eine visuelle Einführung in die Komplexität der soziopolitischen Prozesse im Kaukasus gegen Ende der zaristischen Ära. Sie erzählt von einer Zeit, in der diese Gebiete noch nicht dem Modell des Nationalstaats entsprachen, sondern eher einem Mosaik verschiedener Völkerschaften. Bis ins 20. Jahrhundert blieben die zahlreichen Minderheiten dort erhalten. Doch während die Landkarte von 1881 die Bevölkerung des Kaukasus scheinbar stabil abbildet, erlebte die Region in Wirklichkeit gewaltige Umbrüche, Folge umfangreicher Wanderungsbewegungen, die mit ­neuen Entwicklungen in Landwirtschaft, Bergbau und Industrie einhergingen – und dem Ölboom, der die Stadt Baku überrollte.

Im Jahr 1905 machte die erste russische Revolution die sozioökonomischen, religiösen und politischen Bruchlinien in der Region schlagartig sichtbar. Die revolutionäre Bewegung überschnitt sich mit gewalttätigen Konflikten zwischen turksprachigen Tataren und Armeniern und führte zu einem mehrmonatigen Chaos mit ­Tumulten in den Städten und Zusammenstößen und Pogromen auf dem Land.

Das Ende des Zarenreichs durch die Revolution von 1917 und die Unabhängigkeitserklärungen Georgiens, Armeniens und Aserbaidschans im Frühjahr 1918 werden oft als Ausgangspunkt für die heutigen territorialen Konflikte betrachtet. Es stimmt zwar, dass sich durch die Gründung dieser drei Repu­bli­ken die Art der Spannungen in der Region veränderten, doch die Streitereien, die in der Periode der Unabhängigkeit zwischen 1920 und 1921 ausbrachen, hatten ältere Ursachen.

Die neuen Republiken beriefen sich auf Landkarten und Statistiken, die bereits anlässlich der 1915/16 wiederaufgelebten Debatte über eine Reform der regionalen Selbstverwaltungseinheiten („Semstwos“) im Südkaukasus erstellt worden waren. Dabei war es auch um die Grenzziehungen und den Zustrom der Flüchtlinge nach dem Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich gegangen.

Nicht jede selbsternannte ­Nation bekam ihren eigenen Staat

Schon bald wurde Bergkarabach zu einem der zentralen Streitpunkte zwischen Aserbaidschan und Armenien. Als die Aserbaidschaner im Januar 1919 – mit Billigung der Briten – den Großgrundbesitzer Chosrow bek Sultanow zum Generalgouverneur der Region ernannten, verweigerten die Armenier von Karabach dem neuen Machthaber die Gefolgschaft. In den folgenden Monaten kam es zu wiederholten Gewaltausbrüchen, wobei die Separatisten von Bergkarabach auf die heimliche Unterstützung des unabhängigen Arme­nien zählen konnten. Infolge des wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruchs der gesamten Region war keiner der beiden Staaten stark genug, um sich durchzusetzen. Viele hofften auf eine Schlichtung durch die vor Ort präsenten Ententemächte Frankreich und Großbritannien. Doch die Sowjetisierung des Südkaukasus ab dem Frühjahr 1920 markierte den Beginn einer ganz neuen Phase.

Als der Krieg um Bergkarabach im vergangenen Herbst erneut aufflammte, wurde verschiedentlich erwähnt, welche Rolle Josef Stalin einst bei der Gründung der Autonomen Region Bergkarabach innerhalb der Sowjetrepublik Aserbaidschan in den ersten Jahren der Sowjetherrschaft gespielt habe. Tatsächlich mischte Stalin, der ja aus Georgien stammte, bei allen den Kaukasus betreffenden Fragen offensichtlich mit, auch wenn seine damalige Stellung als Volkskommissar für Nationalitätenfragen im bolschewistischen Russlands ihn mit Fragestellungen konfrontierte, die weit über die Rivalitäten in seiner Herkunftsregion hinausgingen.

Bei der Schaffung von Bergkarabach handelte es sich nicht so sehr um eine bewusste Anwendung der Strategie „Teile und herrsche“, sondern um einen taktischen Schachzug der Sowjetmacht, die ihre ideologischen Prinzipien mit den politischen Realitäten in einer in Aufruhr befindlichen Region in Einklang zu bringen versuchte. Die Sowjetisierung Aserbaidschans im April 1920 und dann Armeniens im Dezember desselben Jahres bedeutete jedoch keineswegs das Ende der ethnischen Spannungen in den Grenzgebieten der beiden Republiken. Aserbai­dscha­nische und armenische Bolschewiki kämpften insbesondere um die Kon­trol­le über die Regionen Nachitschewan und Sangesur mit gemischter Bevölkerung und Karabach mit seinem mehrheitlich armenisch besiedelten Hochland Bergkarabach.

Anfangs befürwortete das Kaukasusbüro der Partei, in dem die wichtigsten kommunistischen Führungsfiguren der Region vertreten waren, den Anschluss Karabachs an Armenien, um die Armenier zu besänftigen, die mit ihrem Nationalstolz schon mehrere Rebellionen vom Zaun gebrochen hatten. Das jedenfalls war der Hintergrund einer Entscheidung vom 3. Juni 1921, die allerdings schon einen Monat später, am 5. Juli, durch eine neue, gegenteilige Entscheidung, getroffen in Anwesenheit Stalins, außer Kraft gesetzt wurde. In den Archiven lassen sich keine näheren Informationen über die Gründe für diese Kehrtwende finden. Die plausibelste Erklärung dürfte jedoch die Niederschlagung von Aufständen in Armenien durch die Rote Armee sein, während zugleich die aserbaidschanischen Führer alles dafür taten, das Gebiet zurückzugewinnen.3

1921 markierte keineswegs das Ende dieser Geschichte. Jedoch drang im Lauf der Sowjetzeit nur wenig von den Entwicklungen in Bergkarabach an die Öffentlichkeit – so dass das Wiederaufleben des Konflikts Ende der 1980er Jahre vielen unerklärlich schien. Die genaue Grenzziehung hatte bis Mitte der 1920er Jahre gedauert und warf heikle Fragen nicht nur der Landaufteilung, sondern auch der ethnischen Zuordnung auf: Die in der Region Kalbadschar zwischen der Republik Armenien und Karabach lebenden Kurden standen dabei im Fokus der Ethnologen. Vor allem die staatlichen Autoritäten in Baku, die ihre Herrschaft in der Region konsolidieren wollten, drängten auf ihre sprachliche und kulturelle Assimilierung.

Langfristig – und weit entfernt von jedweden universalistischen Idealen – war das Sowjetregime geneigt, die Ansprüche der jeweiligen dominanten Nationalitätengruppe in ihrem Territorium zu stärken, in Republiken, autonomen Republiken oder Regionen. Das, was seit den 1920er Jahren als „nationale Kommunalka“ (Gemeinschaftswohnung)4 bezeichnet wurde, verstärkte die Logik der Homogenisierung, wie der Rückgang der Multi­ethni­zität in vielen Landesteilen im Laufe des 20. Jahrhunderts zeigt.

In Tiflis etwa, wo 1926 noch 35 Prozent der Bevölkerung armenisch und 16 Prozent russisch waren, nahm der Anteil der Georgier stetig zu und erreichte 1959 schon 48 Prozent, stieg bis 1970 auf 57 Prozent und am Vorabend des Zusammenbruchs der Sowjetunion auf 66 Prozent. In Nachitschewan, einer Exklave, die durch die armenische Region Sangesur von Aserbaidschan getrennt ist, ging der Anteil der Armenier von über 10 Prozent im Jahr 1939 auf 1,5 Prozent 1979 zurück.

Die Bauernaufstände des Sommers 1930 und der stalinistische Terror der späten 1930er Jahre boten die Gelegenheit, den Niedergang der Minderheiten durch die Deportation bestimmter Gruppen, vor allem von Griechen, Armeniern, Türken und Kurden aus Geor­gien, zu beschleunigen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer Wiederaufnahme dieser Praxis.5

Manche Ereignisse sind dabei besonders eindrücklich. So zogen Grigori Artjomowitsch Arutjunow (Armenisch: Grikor Arutiunian) und Mir Dschafar Bagirow, die KP-Chefs Armeniens respektive Aserbaidschans, Ende der 1940er Jahre kurzzeitig einen Bevölkerungs- und Gebietsaustausch im Zuge ihrer jeweiligen Expansionsbestrebungen in Erwägung, auf Kosten der Türkei und Irans. Als die Sowjetunion wenig später jegliche Gebietsansprüche gegenüber diesen beiden Ländern aufgab, mussten sich Arutjunow und Bagirow von ihren Plänen jedoch verabschieden.

In den 1960er und 1970er Jahren kamen erneut Fragen und Forderungen im Zusammenhang mit Karabach auf, die in Baku auf Besorgnis stießen. Die sowjetkritische armenische Diaspora in den westlichen Länder etwa trat offen für den Anschluss von Bergkarabach an Armenien ein und verband dieses Thema häufig mit dem Völkermord von 1915. Am 24. April 1965 gab es zum Gedenken eine spektakuläre Großdemonstration in Jerewan. Umgekehrt nutzten die Behörden in Baku die starke wirtschaftliche Entwicklung in Aserbaidschan, um die Anbindung Bergkarabachs durch die Ansiedlung von Aserbaidschanern dort zu stärken und zugleich den Handel der autonomen Region mit Armenien einzuschränken.

Anhand einer Karte des Südkaukasus, die ein Jahrhundert nach der Seidlitz-Karte gezeichnet wurde, lassen sich die wesentlichen Entwicklungen in der Region gut erkennen. Am Ende des Ersten Weltkriegs ebenso wie nach dem Zusammenbruch der Sowjet­union gut 70 Jahre später versuchten die neuen Staaten, ihre Macht auf territo­ria­le wie ethnisch-religiöse Souveränität zu gründen, was zumindest zum Teil die Spannungen mit Minderheiten wie Adscha­ren, Les­giern oder Talyschen und die offenen Kriegshandlungen erklärt, etwa in Südossetien, Abcha­sien und Karabach – ganz abgesehen von den Konflikten im zur Russischen Föderation gehörenden Nordkaukasus.

Auf die massive Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgten leisere Formen der ethnischen und kulturellen Homogenisierung. Die in der Zeit der Perestroika (1985–1991) aufflammenden Konflikte lassen sich im Kontext dieses langsamen Prozesses schwindender Diversität begreifen. Die bröckelnde Macht der sowjetischen Zentralorgane ließ den nationalen Ambitionen freien Lauf und schuf die Voraussetzung für unabhängige, „im Feuer getaufte“6 Staaten.

1 „Carte ethnographique du Caucase par le rédacteur principal du comité de statistique du Caucase“, 1881, ­Gallica, Bibliothèque nationale de France, www.galli­ca.bnf.fr.

2 Juliette Cadiot, „Le Laboratoire impérial. Russie-URSS, 1860–1940, Paris (CNRS Éditions) 2007.

3 Arsène Saparov, „From Conflict to Autonomy in the Caucasus: The Soviet Union and the Making of Abkhazia, South Ossetia and Nagorno Karabakh“, New York (Routledge, Abingdon) 2014.

4 Yuri Slezkine, „The USSR as a communal apartment, or how a socialist state promoted ethnic particularism“, Slavic Review, Band 53, Nr. 2, Urbana (Illinois), Sommer 1994.

5 Claire Pogue Kaiser, „Lived Nationality: Policy and Practice in Soviet Georgia, 1945–1978“, Doktorarbeit, University of Pennsylvania 2015.

6 Taline Papazian, „L’Arménie à l’épreuve du feu. Forger l’État à travers la guerre“, Paris (Karthala) 2016.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Étienne Peyrat ist Dozent für moderne Geschichte an der politikwissenschaftlichen Hochschule von Lille und Autor von: „Histoire du Caucase au XXe siècle“, Paris (Fayard) 2020.

Le Monde diplomatique vom 07.01.2021, von Étienne Peyrat