07.01.2021

Weg aus Paris!

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Weg aus Paris!

Die neue Stadtflucht in Zeiten der Pandemie

von Benoît Breville

Benjamin Nachtwey, Der Fels im Süden 1, 2015, Öl auf Malplatte, 18 x 25 cm
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Überall sieht man in der Pariser Metro diese Plakate, in denen Kleinstädte und ländliche Regionen wie Alès, die Sologne oder Seine-et-Marne mit Platz, Ruhe und frischer Luft werben. Vor allem auf der Linie 1, die zum Geschäftsviertel La Défense führt, hängen sie seit Mai an den Bahnsteigen in jeder Sta­tion, um die Fahrgäste für ein neues Leben zu begeistern.

Noch vor einem Jahr konkurrierte Paris im weltweiten Wettbewerb um Unternehmensansiedlungen, Großveranstaltungen und Spitzenkräfte mit anderen Metropolen wie London, New York oder Singapur. Jetzt sind es die kleinen Städte, die versuchen, der Hauptstadt ihre High Potentials abzujagen.

Lockdowns und Abstandsregeln haben alles zunichte gemacht, was eine Großstadt attraktiv macht: Restaurants, Cafés, Konzerte, Museen, kleine Läden, große Festivals, ein abwechslungsreiches Sozialleben und hohe Mobilität dank Flughäfen und Fernzügen. Seit Beginn der Pandemie besteht das Leben meist nur noch aus dem ewigen Kreislauf von métro, boulot, dodo (U-Bahn, Arbeit, Schlaf), wobei die Metro immer öfter durch das vélo, das Fahrrad, ersetzt wird.

Keiner weiß, wann sich das ändern wird. Mitte Dezember gab es in Frankreich zwar weitere Lockerungen, Bürgerinnen und Bürger können ihre Wohnungen tagsüber wieder ohne Einschränkungen verlassen. Von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens gilt aber weiterhin eine Ausgangssperre. Theater, Museen und Kinos dürften frühestens am 7. Januar wieder öffnen, Cafés, Bars und Restaurants am 20. Januar – alles jedoch unter dem Vorbehalt niedriger Infektionszahlen.

So fragen sich manche, warum sie immer noch in ihren winzigen, völlig überteuerten Wohnungen hocken, wenn alle Freuden der Stadt ohnehin verboten sind. Wäre es nicht schöner, in einer Kleinstadt oder auf dem Land zu leben, in einem geräumigen Haus mit Garten? Homeoffice und Onlineshopping ermöglichen es Angestellten und Freiberuflerinnen auch inmitten der Natur ihren urbanen Lebenstil zumindest teilweise weiter zu pflegen.

Schon während des Frühjahrslockdowns zogen sich zahlreiche Großstädter aus Paris, Lyon oder Lille in ihren Zweitwohnsitz auf dem Land zurück. Zwischen März und April haben nicht weniger als 451 000 Pariserinnen und Pariser die Hauptstadt verlassen, was einem Viertel der Stadtbevölkerung entspricht.1

Dasselbe Phänomen konnte man weltweit beobachten: In einigen wohlhabenden Vierteln New Yorks ergriffen über 40 Prozent der Bewohner die Flucht.2 Die Financial Times beschrieb die City of London als „verlassene Stadt“, in der es auch an Wochentagen so leer war wie sonst nur an Sonntagen: „Die Banker sind verschwunden, dafür sieht man jetzt mehr Bauarbeiter in Arbeitshosen und staubigen Stiefeln, Wachleute in Leuchtwesten, die vor leeren Foyers auf und ab gehen, und junge Leute im Sportdress, die in den leeren Straßen joggen oder Fahrrad fahren.“3

„Fliehe schnell, fliehe weit, mit der Rückkehr lass dir Zeit“ – schon im 5. Jahrhundert vor unserer Zeit empfahl der griechische Arzt Hippokrates dieses probate Mittel gegen Epidemien. Und wer es sich leisten konnte, richtete sich danach. Als Avignon 1348 von der Pest heimgesucht wurde, packte der päpstliche Hofstaat die Koffer und floh. Im 19. Jahrhundert versuchten wohlhabende Pariser auf diese Weise der Cholera zu entkommen. Den Stadtflüchtlingen von heute geht es jedoch nicht allein darum, sich vor dem Coronavirus in Sicherheit zu bringen: Sie möchten den Lockdown auch gern in einer angenehmeren Umgebung aussitzen.

Die Rache der Provinz

In den Medien berichteten die glücklich Entkommenen eifrig von ihrer neuen Begeisterung für Ruhe, Natur, gute Luft und das gemeinsame Familienfrühstück, so dass die Ausgangssperre eher wie ein Ferienaufenthalt anmutete. Bald schon war die Rede davon, dass sich nun das ländliche Frankreich und die Provinzstädte für die jahrzehntelange Dominanz der Metropolen „rächen“ würden.

Im Radiosender France Culture prophezeite Brice Couturier Anfang April „eine Art umgekehrter Landflucht“, die „zu einer neuen geografischen Balance in unserem Land beitragen wird, das derzeit an der Entvölkerung der ländlichen Räume leidet“. Der Ökonom Olivier Babeau sah eine „grundlegende Umwälzung des Wohnungsmarkts“ zugunsten der ländlichen Räume voraus, die nun von ihren „zahlreichen exklusiven Vorteilen“ profitieren könnten: „die niedrigen Preise, die gute Luft, die Ruhe und vor allem der so kostbar gewordene Platz“.4

Innerhalb weniger Monate wurden die üblichen Darstellungsmuster der sozialen Geografie Frankreichs auf den Kopf gestellt. Wenn Journalistinnen vor der Pandemie aus der „Provinz“ berichteten, waren das meist Schilderungen des Verfalls: Es ging um Arbeitslosigkeit oder die Schließung kleiner Geschäfte, um die Tristesse der Eigenheimsiedlungen, den Mangel an öffentlicher Daseinsvorsorge oder den nicht vorhandenen öffentlichen Nahverkehr.

Solche Themen sind jetzt aus den Zeitungen verschwunden: Das Leben abseits der Großstadt wird derzeit illustriert durch das Bild eines idyllischen Landhauses mit Garten. Im Gegenzug dienen die Metropolen, die bis vor einem Jahr für Kreativität, Innovation und Intelligenz standen, nur noch als abschreckender Kontrast zur ländlichen Beschaulichkeit.

Diese Umkehrung zeugt von der Unfähigkeit, das Land durch eine andere Brille als die der herrschenden Klassen zu betrachten. Für zahllose Menschen in Kleinstädten oder auf dem Dorf war der Lockdown alles andere als ein Zuckerschlecken. Viele mussten weiterhin zur Arbeit fahren, Landwirte standen ohne Erntehelfer da, alte Menschen waren noch einsamer als zuvor, für zahlreiche kleine Geschäfte, die bereits auf der Kippe standen, bedeutete Corona den Todesstoß, und die (im Gegensatz zur Hauptstadt) schlecht ausgestatteten Regionalkrankenhäuser waren überbelegt. Unter diesen Umständen ist der eigene Garten nur ein schwacher Trost.

Die fliehenden Großstädter zieht es überdies nicht einfach „aufs Land“ oder ins „ländliche Frankreich“, sondern in reiche, attraktive Gegenden: in die Urlaubsregionen im Süden und Westen oder in den Speckgürtel der Metropolen. Längst nicht alle ländlichen Gebiete und kleinen Gemeinden müssen „Rache“ an der Großstadt nehmen. Manchen ging es auch schon vor Corona bestens, dank wachsender Einwohnerzahl und eines florierenden Immobilienmarkts. Das gilt etwa für die Bretagne, die Dordogne, die Landes oder das Vaucluse.

Das „ländliche Frankreich“ wird häufig als homogener Raum dargestellt, dabei gibt es hier bedeutende Unterschiede, die durch die neue Stadtflucht noch weiter verschärft werden. Wie viele Pariserinnen oder Lyoner würden wohl ins unbeliebte Hinterland von Belfort oder Metz ziehen?

Außerdem ist die Ankunft der wohlhabenden Stadtmenschen nicht immer ein Segen. Wenn die Einwohnerzahl steigt, werden zwar mehr Steuern gezahlt und Geschäfte und Handwerksbetriebe bekommen mehr Kunden. Allerdings müssen die Neuankömmlinge dann auch vor Ort einkaufen und nicht online, und sie müssen vor Ort arbeiten statt für eine Firma in Paris. Kurzum, sie müssen sich ans Landleben anpassen und das Dorf nicht nur als Kulisse für ihren aus der Stadt importierten Lebensstil betrachten.

Die Geografin Greta Tommasi hat am Beispiel der Dordogne gezeigt5 , dass das nicht immer der Fall ist: Oft gelingt es Alteingesessenen und Neuankömmlingen nicht, Kontakte zu knüpfen; sie bewegen sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen. Der Zuzug von Menschen aus einer wohlhabenderen Bevölkerungsschicht führt zudem zur Gentrifizierung des ländlichen Raums: Die Immobilienpreise orientieren sich jetzt an den Großstadtgehältern, so dass die Menschen vor Ort – vor allem junge Leute – nur noch schwer eine Wohnung finden.

Andererseits ist der so oft prophezeite Exodus aus den großen Städten noch lange nicht ausgemacht. Zwar sind die Pariser Immobilienpreise seit März nicht mehr so astronomisch gestiegen, nachdem sie sich im Verlauf der letzten 25 Jahren vervierfacht hatten6 ; und im äußeren Vorortgürtel explodieren die Eigenheimpreise. Auch die Umfragen sagen alle dasselbe: Die Metropolenbewohner träumen von Gärten und Kleinstädten. Aber deshalb ziehen nicht gleich alle um. Die Träume werden abgewogen gegen Jobperspektiven, eine bessere soziale Infrastruktur, die Nähe zu Familie und Freunden, die Qualität der Schulen. So werden manche Träume niemals Wirklichkeit.

In den Städten hat man schon lange vor der Coronapandemie von einem Häuschen im Grünen geträumt. Bereits 1945, als das französische Institut für Demografie (Ined) die Bevölkerung erstmals nach ihren Wohnvorstellungen befragte, antworteten 72 Prozent der Franzosen, sie wollten am liebsten in einem Haus mit Garten abseits der Stadt leben.

Homeoffice im Grünen

Seit dieser Zeit hat das jede Studie bestätigt: Für 70 bis 80 Prozent der Französinnen und Franzosen ist das eigene Häuschen das Ideal. Im Gegensatz zu den USA, wo die Behörden den Ausbau endloser Eigenheimsiedlungen in den Suburbs unterstützten, ignorierten Frankreichs Stadtplaner lange Zeit diesen Wunsch der Bevölkerung. Am Ende des Zweiten Weltkriegs setzten sie trotz der Ined-Studie auf Mehrparteienhäuser und große Wohnsilos. Möglichst schnell musste möglichst viel Wohnraum geschaffen werden, um das Land wieder aufzubauen und das Bevölkerungswachstum aufzufangen.7

Man wollte sich vom Vichy-Regime absetzen, das die Eigenheimideologie eifrig gefördert hatte. Alle hatten zudem noch das Fiasko der „Fehlsiedlungen“ der Zwischenkriegszeit in Erinnerung – jene von durchtriebenen Bauunternehmern auf schematisch parzelliertem Land errichteten Bruchbuden, die ohne Zugangswege inmitten matschiger Felder standen. Damals hatte sich der Traum vom eigenen Häuschen für Hunderttausende in einen Albtraum verwandelt, und es brauchte fast 20 Jahre, um die Schäden zu beseitigen.

Lange Zeit setzten die französischen Behörden deshalb auf Mehrfamilienhäuser und ließen erst in den 1970er Jahren wieder einen verstärkten Bau von Eigenheimen zu, was allerdings zu einer wachsenden Zersiedelung des ländlichen Raum führte. Seit 50 Jahren lernen französische Kinder in der Schule, dass alle 7 bis 10 Jahre eine Fläche in der Größe eines Dé­parte­ments zubetoniert wird und dass für die Hälfte davon der Bau von Eigenheimen verantwortlich ist.

Seit 20 Jahren schreiben sich die Regierungen nunmehr den Kampf gegen die Ausdehnung der Städte als vordringliches Ziel auf die Fahnen: im Gesetz für „Solidarität und Stadterneuerung“ von Dezember 2000, im Umweltschutzgesetz „Grenelle 2“ von Juli 2010 und im „Gesetz über den Zugang zu Wohnraum und neue Stadtplanung“ von März 2014. Die Notwendigkeit, die Bebauung an den Stadträndern zu verdichten, vor allem im Einzugsgebiet der Großstädte, steht auf der Tagesordnung jedes Stadtplanungssymposiums, das diesen Namen verdient.

Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass sich Julien Denormandie, bis zum Sommer 2020 Minister für Städtebau und Wohnungswesen und seitdem Landwirtschaftsminister, über die Umzugswünsche der Städter freut: „Wir sehen eine große Nachfrage nach Grundstücken, die vor der Krise auf dem Immobilienmarkt längst nicht so attraktiv waren“, erklärte er am 14. Mai.8 „Das Homeoffice hat daran großen ­Anteil. Heute stellen wir fest, dass neue Gesellschaftsmodelle möglich sind.“

Das Gesellschaftsmodell, in dem höhere Angestellte in großer Zahl die Metropolen verlassen, um in ihren Häusern im Perche oder im Vexin im Homeoffice zu arbeiten, dürfte jedoch die Verstädterung weiter vorantreiben. Hinzu käme eine größere Abhängigkeit vom Auto und von Internetfirmen wie Amazon und Zoom. Sieht so die Rückkehr zur Natur aus?

1 „Population présente sur le territoire avant et après le début du confinement: résultats consolidés“, Insee, 18. Mai 2020.

2 Kevin Quealy, „The richest neighborhoods emptied out most as coronavirus hit New York City“, The New York Times, 15. Mai 2020.

3 Ben Hall und Daniel Thomas, „Everyday is like Sunday in a deserted City of London“, Financial Times, 27. März 2020.

4 Olivier Babeau, „Le coronavirus prépare-t-il la revanche des campagnes?“, FigaroVox, 24. März 2020.

5 Greta Tommasi, „La gentrification rurale, un regard critique sur les évolutions des campagnes françaises“, GéoConfluences, 27. April 2018.

6 Zwischen 1995 und 2020 von 17.000 Francs (etwa 2500 Euro) auf 10 500 Euro pro Quadratmeter.

7 Die französische Bevölkerung wuchs zwischen den Jahren 1946 und 1960 doppelt so schnell wie zwischen 1860 und 1946.

8 „Julien Denormandie: ‚Je veux revitaliser les villes mo­yennes!‘“, „L’Immo en clair“, SeLoger – Radio Immo – Le Parisien, 14. Mai 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 07.01.2021, von Benoît Breville