11.02.2021

Hysterie in Suburbia

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Hysterie in Suburbia

Joe Biden verdankt seinen Wahlsieg auch einer Mehrheit in den wohlhabenden US-Countys mit den besten Colleges. Deren Wählerschaft, die schon längst von den Republikanern zu den Demokraten übergelaufen ist, schreit heute in schrillen Tönen nach Zensur, die Facebook und Twitter ausüben sollen.

von Thomas Frank

Rinko Kawauchi, ohne Titel, aus der Serie „Ametsuchi“, 2013 (zur Künstlerin siehe Seite 3)
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Die Pflicht eines jeden US-Bürgers, verkündete Präsident Joe Biden bei seiner Vereidigung, sei es, „die Wahrheit zu verteidigen und die Lügen zu bekämpfen“. Ein Großteil von Bidens Rede war ohnehin eine dröge Ansammlung patriotischer Plattitüden, doch dieser Aufruf zum großen Kreuzzug für die Wahrheit war von einmaliger Dreistigkeit.

Nicht von ungefähr wurden der Wanderzirkus, die PR-Industrie und der Televangelismus in den USA erfunden. Unsere führenden Wissenschaftler sind Jünger des Poststrukturalismus, unsere besten College-Absolventinnen lassen sich von der CIA anwerben; unsere besten Zeitungen verwischen die Grenze zwischen Berichterstattung und Meinung; unsere einflussreichsten politischen Akteure sind die Spindoktoren, deren Job darin besteht, die Fakten mal so und mal so hinzubiegen.

An all das hatte Biden bei seinem Aufruf zur großen nationalen Wahrheitssuche natürlich nicht gedacht. Es ging ihm nur um eine einzige Person, nämlich Donald Trump, der mehr Mist von sich gegeben hat als sämtliche seiner Vorgänger im Oval Office. Blicken wir nur auf seine Bilanz der letzten Monate: Nachdem er die Wahlen vom 3. November verloren hatte, weigerte er sich seine Niederlage anzuerkennen und strengte stattdessen eine absurde Klage nach der anderen an, mit der Beschuldigung, man habe ihm – mittels nie genau benannter Methoden – seine Wiederwahl gestohlen. Ehrgeizige junge Republikaner machten diesen Unfug mit und bestärkten Trump demonstrativ in seinen abwegigen Theorien.

Das Fass lief über, als der abgewählte Präsident am 6. Januar seine Kernanhängerschaft aufforderte, zum Kapitol zu marschieren, wo gerade die abschließenden Wahlformalitäten über die Bühne gingen. Das Ganze endete, wie die Welt heute weiß, mit dem Angriff eines Mobs auf den US-Kongress, in dessen Hallen einige der Angreifer mit Büffelhörnern, bemalten Gesichtern und Dreispitzen posierten.

Aufruf zur nationalen Wahrheitssuche

Etliche filmten sich selbst in den Marmorsälen und -fluren, andere schwenkten die Konföderiertenfahne der Südstaaten und die Gadsden-Flagge aus der Zeit der Amerikanischen Revolu­tion, die heute vor allem unter Rechtsextremen beliebt ist, oder hielten selbst gepinselte Plakate mit Bibelsprüchen in die Höhe. Sie redeten davon, Politiker zu ermorden, und prügelten einen Polizisten zu Tode. Es ist immer schockierend, wenn Leute mit idiotischen Vorstellungen rechtsradikaler Provenienz scheußliche Dinge tun. Aber in diesem Fall ist denen, die das Kapitol gestürmt haben, etwas gelungen, was seit Langem niemand geschafft hat: Sie haben in der Republikanischen Partei eine Art Schamgefühl geweckt. Republikanische Kongressmitglieder wandten sich reihenweise gegen den Präsidenten und Parteikollegen, die noch immer das Wahlergebnis infrage stellten. Twitter sperrte seinen prominentesten Kunden Donald J. Trump, der Kongress eröffnete ein zweites Impeachment-Verfahren gegen ihn. Und dann kam der brutalste Schlag: Die New Yorker Bankgiganten kündigten an, ihre Wahlkampfspenden für Repräsentanten einer Partei auszusetzen, deren Hauptziel es immer war, Recht und Gesetz genau diesen Großbanken unterzuordnen.

Das sind gewaltige Veränderungen. Aber was haben sie zu bedeuten? Seit zehn Jahren verkünden die politischen Experten, dass das Ende des Konservatismus, des Reaganismus und der Republikanischen Partei unmittelbar bevorstünde. Jetzt steht die Frage an, ob sich diese Voraussagen nach der Gewalt vom 6. Januar bewahrheiten und sich der Trumpismus in Wahnsinn auflöst.

Um diese Frage zu beantworten, reicht es nicht aus, sich über die jüngsten Schandtaten der Republikaner aufzuregen. Wenn wir uns wirklich der Wahrheit verpflichtet fühlen, wie Biden anmahnt, müssen wir die Ära Trump als Ganzes in den Blick nehmen und insbesondere diejenigen Wähler, die in den letzten Jahrzehnten von der Repu­blika­ni­schen zur Demokratischen Partei übergelaufen sind. Zufällig kenne ich diese Sorte meiner Landsleute sehr genau: Es sind kultivierte und gut

ausgebildete Menschen, die in den reichsten Suburbs des Landes wohnen, und für die das moderne Leben nur aus glitzernden Events und Annehmlichkeiten besteht.

In den hundert Countys mit dem höchsten durchschnittlichen Bildungsniveau haben laut Wall Street Journal am 3. November 84 Prozent für Biden gestimmt. In den hundert Kreisen mit dem höchsten mittleren Einkommen waren es 57 Prozent.1 In diesen gebildeten wie wohlhabenden Wahlbezirken haben die Republikaner vor 30 Jahren noch mit überwältigender Mehrheit gewonnen.

Dieser Shift wird häufig an den Wirtschaftsdaten der Regionen festgemacht, die vorwiegend demokratisch oder republikanisch wählen. Hillary Clinton machte 2016 die Rechnung auf und prahlte damit, dass sie trotz der verlorenen Präsidentschaftswahlen dennoch die „dynamischsten“ Regionen der USA repräsentiere, die zusammen genommen „auf zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts kommen“. Joe Biden hat Clinton sogar noch übertroffen. In den von den Demokraten im November 2020 gewonnenen Wahlbezirken spielen sich 71 Prozent der nationalen Wirtschaftsaktivitäten ab, in Trump-Country dagegen nur 29 Prozent.2

Ich selbst bin in einer dieser wohlhabenden Gegenden aufgewachsen. Johnson County grenzt im Osten an Kansas City, seine großflächigen Vorstadtsiedlungen sind eine begehrte Wohngegend der weißen Mittelschicht. Obwohl meine Familie nicht besonders viel Geld hatte, lebten wir in diesem mit Abstand reichsten Bezirk von Kansas, in dem vorwiegend Rechtsanwälte, Ärzte und Architekten wohnten, die ihre Kinder auf ausgezeichnete öffentliche Schulen schickten.

Diese Menschen arbeiteten in schicken Bürogebäuden; zum Einkaufen gingen sie in gigantische glitzernde Shoppingmalls und ihre Freizeit verbrachten sie auf gepflegten Golfplätzen; sie speisten in Luxusrestaurants und wohnten in supermodernen Villensiedlungen, die sich meilenweit in die Prärie ausdehnten. Als Jugendlicher fuhr ich mit meinem Auto zu Punkrock in maximaler Lautstärke die sechsspurigen Boulevards entlang und machte mich mit meinen Freunden über das bourgeoise Geprotze lustig.

Wir spotteten über diese Leute, weil sie die herrschende Klasse waren. Johnson County war reich, weiß, dominant – und eine der stärksten republikanischen Hochburgen in den gesamten USA. In meiner Jugend schienen die Republikaner buchstäblich jedes Amt zu kontrollieren, jede Wahl zu gewinnen und überall das Sagen zu haben.

Das County hatte seit 1916, als Präsident Woodrow Wilson das zweite Mal ins Weiße Haus gewählt wurde, kein einziges Mal für einen Demokraten gestimmt. Franklin D. Roosevelt und John F. Kennedy wurden hier verachtet, aber der Kommunistenfresser Barry Goldwater geliebt, mit dem die Republikaner bei den Präsidentschaftwahlen 1964 eine krachende Niederlage gegen Lyndon B. Johnson erlebten.

Doch im November 2020 hat sich in Johnson County endlich der Wind wieder gedreht und 53 Prozent der Wahlberechtigten haben für den Demokraten Joe Biden gestimmt, der allerdings in ganz Kansas nur in 5 von 105 Counties gegen Trump gewonnen hat. Als ich vor dem Wahltag in meinem alten Viertel herumgefahren bin, sah ich in den Vorgärten zahlreiche „Black Lives Matter“-Schilder und sogar eine selbst gebastelte Freiheitsstatue, die ein Plakat hielt: „Bitte rettet mich! Rettet die Demokratie!“

Nicht dass sich hier viel verändert hätte. Johnson County ist nach wie vor überwiegend weiß, ausgeprägt businessfreundlich und sehr wohlhabend. Die Jugendlichen besuchen immer noch gute Colleges, die Immobilienpreise sind hoch, die pseudoherrschaftlichen Paläste stehen noch. Allein ihre betuchten Eigentümer weisen sich heute als empathische Zeitgenossen aus, die Vorbeifahrende mit Slogans wie „Frauenrechte sind Menschenrechte“, „Wissenschaft ist real“ oder „Liebe ist Liebe“ auf ihren Vorgartenschildern grüßen.

Beim Rennen um einen der beiden Senatssitze von Kansas im letzten November trat für die Demokraten eine Frau aus Johnson County gegen einen Republikaner aus dem Westen des Bundesstaats an. Barbara Bollier hat für ihren Wahlkampf 28 Millionen Dollar ausgegeben, viermal mehr als die 7 Millionen ihres Rivalen Roger Marshall. Bollier unterlag zwar, doch die entscheidende Tatsache bleibt, dass derart asymmetrische Wahlkampfausgaben noch vor Kurzem undenkbar gewesen wären.

Koalition der Entsetzten

Die Unterstützung der Geschäftswelt für die Republikaner gehörte seit jeher zu den unverrückbaren Marksteinen der US-amerikanischen Parteienlandschaft. Nur so lässt sich unser ganzes System überhaupt verstehen. Dieses Faktum erklärt auch, warum die Republikaner so und nicht anders regiert haben, warum sie mit Inbrunst an die Märkte glauben, warum ihre Repräsentanten aus der Politik aussteigen, um Lobbyisten zu werden. Und es erklärt natürlich, warum die Repu­bli­kaner in Wahlkämpfen stets so viel mehr Geld ausgeben konnten als die Demokraten.

Doch dieses Mal eben nicht. Donald Trump hat sich buchstabengetreu an das Drehbuch der Republikaner gehalten. Während seiner Amtszeit machte er den Unternehmern fantastische Geschenke, von Steuersenkungen bis zur Begünstigung von Umweltsünden. Aber es hat nicht gereicht.

Der Berufspolitiker Joe Biden konnte 1,6 Milliarden Dollar an Spendengeldern einsammeln und ausgeben, der Immobilienmagnat dagegen nur 1,1 Milliarden Dollar. Auf die Seite der Demokraten haben sich offenbar auch große Teile der Wall Street und des Silicon Vallys geschlagen: Alle fünf GAFAM-Unternehmen (Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft) tauchen in der Spitzengruppe der Biden-Spendenliste auf. Trump dagegen fand am meisten Unterstützer bei den alten Industrien Agrobusiness, Kohleindustrie sowie Öl- und Gaskonzernen.

Nahezu geschlossen waren die Reihen gegen Trump in den Branchen, die für Kultur und Bildung stehen: Die Unterhaltungsindustrie hasste ihn, die Hightech-Industrie und die akademische Welt hassten ihn. Darüber hinaus war er bei den außenpolitischen Experten verhasst, bei den Geheimdienstlern, bei den Republikanern, die den Irakkrieg unterstützt hatten, und in der kleinen Welt der Hauptstadt-Korrespondenten wie in der weiten Welt der Medien.

Der größte Irrwitz bei dieser Koalition der Entsetzten bestand darin, dass auch die CIA dabei war. Vor gar nicht langer Zeit war der Geheimdienst für alle friedliebenden Progressiven der große Buhmann. Alle Welt kennt die lange und verstörende Liste der Verbrechen gegen die Demokratie, die von der CIA begangen wurden: dass sie ausländische Regierungen gestürzt, dass sie Menschen in fernen Weltregionen getäuscht und betrogen und dass sie für alle möglichen Diktaturen gearbeitet hat.

Doch in den letzten vier Jahren hat sich das Bild völlig gewandelt. Heute sind progressive US-Amerikaner geneigt, den Geheimdienst zu bemitleiden, weil die arme CIA von Trump verleumdet und beleidigt wurde: Der 45. US-Präsident hatte unter anderem behauptet, dass der Geheimdienst übertrieben hätte, was den Einfluss Russlands auf die Wahlen von 2016 betraf. Am Ende der Trump-Ära war die Affinität zwischen dem progressiven Lager und dem Geheimdienst so selbstverständlich geworden, dass sie gar keiner Erklärung mehr bedurfte.

Proteste gegen einen Politiker, der die CIA beleidigt, sind für praktizierende Linke eine bemerkenswerte Neuerung. Übertroffen wird sie nur noch von dem Kommentar, den der Ex-CIA-Chef Michael Hayden über den Konflikt zwischen Trump und dem Geheimdienst abgab. „Geheimdienstliche Tätigkeit dient der Wahrheit“, erklärte Hayden gegenüber der Washington Post, „das Ziel eines Geheimdienstlers ist es, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Das haben wir, glaube ich, mit der Presse gemeinsam.“

Das ist zwar vollkommen albern, doch nicht ganz falsch. Denn in der Trump-Ära haben sich die Medien tatsächlich zunehmend der „Geheimdienstgemeinschaft“ anverwandelt, wie sie in Washington genannt wird. Hayden selbst heuerte 2017 als „Analyst“ für Sicherheitsfragen bei CNN an, desgleichen der ehemalige Nationale Geheimdienstdirektor James Clapper.

John Brennan, ein anderer Ex-CIA-Chef, arbeitet mittlerweile für den TV-Sender NBC. Viele ehemalige Spione taten es ihnen nach und spekulierten im Fernsehen laut über „Desinformation“ und die heimliche Macht, die Wladimir Putin über Donald Trump ausübte.

Damit sind wir beim Thema Russiagate. Was einmal die aufregendste Horrorstory der Trump-Jahre war, ist heute nur noch eine verwickelte Geschichte, um deren Details sich niemand mehr schert. Dennoch müssen wir, wenn wir unsere nationale Wahrheitssuche ernst nehmen, noch einmal einen Blick zurückwerfen.

Der Kern des Skandals waren die angeblichen „geheimen Absprachen“, der Vorwurf also, dass Trump irgendwie mit der russischen Regierung konspiriert habe, als diese sich in die Wahlen von 2016 einzumischen versuchte – oder dass er von Moskau unter Druck gesetzt worden sei. Demnach war Donald Trump nicht nur unfähig oder korrupt, sondern auch noch der Agent einer feindlichen ausländischen Macht.

Dies war der heißeste Nachrichtenstoff der gesamten Trump-Ära. Er dominierte die Schlagzeilen mit der immer selben Masche: Wir stehen kurz vor den vernichtendsten Enthüllungen – die dann aber irgendwie nie kamen. Der Sonderermittler Robert Mueller hat zwar mehrere republikanische Funktionäre anderer Delikte beschuldigt, aber nicht einen von ihnen der Koordination oder Verschwörung mit der russischen Regierung angeklagt. Sein Bericht vom März 2019 kam zu dem Schluss: „Letztendlich haben die Ermittlungen nicht ergeben, dass der Wahlkampfstab mit der russischen Regierung bei deren Aktivitäten zur Beeinflussung der Wahl konspiriert hat oder dass es in dieser Hinsicht Absprachen gab.“3

Und so wurde Russiagate, der Trump-Skandal, über den die Medien am breitesten berichteten, zum ultimativen Journalismus-Skandal. In ihrem Übereifer, einen von ihnen verachteten Präsidenten zu Fall zu bringen, hatten die Presseleute jeden Anspruch auf eine faire und ausgewogene Berichterstattung aufgegeben.

Aber wie so viele Skandale blieb auch dieser folgenlos. Kaum jemand von denen, die falsch oder verzerrt über das Thema berichtet hatten, wurde für seine Fehler bestraft. Trump war schließlich, objektiv gesprochen, ein Blödmann. Und doch ist es befremdlich, dass sich manche Journalisten ausgerechnet im Moment ihres ungeheuerlichsten beruflichen Versagens als Superhelden aufspielten, die sich mutig gegen ausländische Desinformationsschurken und gegen den ideologischen Fremdling im Weißen Haus stellten.

Die beliebteste historische Parallele, die in der Trump-Ära herangezogen wurde, war der Kalte Krieg, also jene Ära, als die Demokratie von der finsteren Macht Russland bedroht war und sich die aufrechte Berichterstattung gegen ausländische Propaganda zu behaupten hatte. Wie können wir diesen neuen und noch schlimmeren kalten Krieg, diesen Krieg gegen die Wahrheit an sich gewinnen? Einen versteckten Hinweis gibt die viel diskutierte Videoserie der New York Times mit dem Titel: „Operation InfeKtion. Russian Disinformation: From Cold War to ­Kanye“.4 Es scheint, dass in unserem Zeitalter universeller Überwachung und universellen Entsetzens eine klassische Waffe aus dem Arsenal des Kalten Kriegs wieder hoffähig wird: die Zensur.

Der Flirt mit der Zensur ist dieser Tage in progressiven Kreisen allgegenwärtig. Kürzlich berichtete in einem Interview Ira Glasser, der legendäre Vorsitzende der American Civil Liberties Union (ACLU), was er bei einer Podiumsdiskussion an einer juristischen Fakultät erlebt hat. In den anschließenden Debattenbeiträgen aus dem ethnisch diversen Publikum dominierte eindeutig die Ansicht, „soziale Gerechtigkeit für Schwarze, für Frauen und generell für alle Minderheiten sei unvereinbar mit der Redefreiheit“. Die Redefreiheit als Gegner?

Tatsächlich ist Glassers Anekdote für das aktuelle politische Klima mehr als bezeichnend. Was sich gewisse progressive Kreise in den USA heutzutage erträumen, ist nicht, für das einfache Volk zu sprechen, sondern es zu belehren. Solche „Liberalen“ glauben, die korrekt Denkenden, die rechtmäßig Befugten, die gutgläubigen Experten müssten sich nur mit der Tech-Industrie zusammentun, um „Desinformation“ und falsches Denken auszutilgen, dem die Öffentlichkeit ausgesetzt sein könnte. Das heißt: Kontrafaktische Aussagen, wie Trumps idiotische Tweets nach den Wahlen, müssten von zuständigen Instanzen mit einem entsprechenden Warnvermerk versehen werden. Ebenso müssten Podcasts, die gefälschte oder als falsch entlarvte Behauptungen ­transportieren, eingehend geprüft und wenn ­nötig von den betreffenden Websites gelöscht werden.

Bevor wir uns für den Kampf einspannen lassen, der die Demokratie vor den dunklen Machenschaften Wladimir Putins bewahren soll, täten wir gut daran, uns einige grundlegende Sachverhalte aus den Anfängen des Kalten Kriegs in Erinnerung zu rufen. Die Erfindung der „Roten Gefahr“ sollte damals in den USA vor allem die Truman-Regierung diskreditieren, die angeblich mit Kommunisten durchsetzt war, und das politische Establishment nach rechts verschieben.

Auch die US-amerikanische Gesellschaft hat der Kalte Krieg verändert, und zwar nicht zum Besseren. Damals spürten professionelle „Redhunter“ sogenannte subversive Elemente auf, die dann ihren Job oder ihr Amt verloren. Auf diese Weise wurde das Leben vieler unschuldiger Menschen zerstört. Verdächtigungen und Schuldzuweisungen konnten in dieser hysterischen Zeit praktisch jeden und jede treffen.

Die politischen Kulturkämpfe unserer Tage gehen eindeutig in Richtung einer ähnlichen Dauerhysterie. Und der Angriff des Mobs auf das Kapitol am 6. Januar hat das Klima der Angst und der Verdächtigungen nur noch verstärkt. Aber wie sind die Rollen verteilt? Wer sind heute die subversiven Kräfte, die angeblich falsche Informa­tio­nen verbreiten und die es im Namen der Nation aufzuspüren und auszuschalten gilt? Wer sind die Edgar Hoovers von heute, die wie der damalige FBI-Chef Panik verbreiten und die Unterdrückung verschärfen?

Wenn die russische Desinformation darauf angelegt ist, die „Risse in der Gesellschaft“ auszunutzen, wie uns die New York Times erklärt5 , so könnte man das Gleiche auch über die Gastkommentarseite der Times sagen. Das gilt auch für Twitter und Facebook oder CNN und all die anderen Medienhäuser. So funktioniert eben das aktuelle Geschäftsmodell der Massenmedien. Deshalb präsentieren sie uns Kulturkämpfe, Tag für Tag und rund um die Uhr. Weil Wut und Streit ein Publikum erzeugen, dem sie Schokoriegel und Windeln für Erwachsene verkaufen können.6

Diese zänkische Grundstimmung geht natürlich nicht nur auf das Konto von Desinformation. Bei der New York Times betrachtet man die Kulturkämpfe, die das Blatt betreibt, ganz gewiss als Mission zur Erleuchtung und geistigen Gesundheit. Und zweifellos glauben auch Konservative, dass sie die Macht haben müssten, die andere Seite zum Schweigen zu bringen, wie sie es in früheren Zeiten getan haben. Aber derzeit verfügt das konservative Lager nicht über die nötigen Waffen. Die kulturelle Legitimität liegt komplett bei der Koalition der Entsetzten.

Die Edgar Hoovers von heute

Was eine Kulturkriegserklärung „legitim“ macht, ist aber nicht eigentlich ihr Wahrheitsgehalt, denn der ist manchmal schwer zu bestimmen. Die Legitimität hängt vielmehr vom Ruf der jeweiligen Person innerhalb ihrer oder seiner Berufsgruppe ab. Zur „Fehlinformation“ wird eine Äußerung also dann, wenn sie von einem normalen Menschen ohne nennenswerten Nimbus stammt, von irgendeinem Spinner, der fachliche Koryphäen auf Twitter kritisiert und seine Theorien auf Reddit verbreitet.

Das Problem der Fehlinformation wird so zu einem weiteren Aspekt innerhalb der allgemeinen Autoritätskrise der Eliten, die das progressive Lager seit Trumps Aufstieg beschäftigt. Diese Kreise jammern seit fünf Jahren, das Land habe den Glauben an seine ausgewiesenen Eliten verloren. In dem schrecklichen Sommer 2016 schrieb Jonathan Rauch von der Brookings Institution: „Heute ist unser dringlichstes politisches Problem, dass das Land dem Establishment die Gefolgschaft verweigert und nicht umgekehrt.“7

Was das progressive Lager in den USA derzeit umtreibt, ist die Sorge über die Krise der Autorität. Über frühere Anliegen wie die ökonomischen Probleme der weißen Arbeiterschaft können sich manche Liberale nur noch mokieren. Ihr moralisch vordringliches Thema ist inzwischen die angemessene Hierarchie der ausgewiesenen Experten. Viele Liberale tragen zum Beispiel Sticker mit der Aufforderung „Respektiert die Wissenschaft“. Und meinen damit die Respektierung der Experten – und der Hierarchie.

Auch die Außenpolitik soll wieder der außenpolitischen „Expertengemeinschaft“ vorbehalten bleiben. Die Politik der Notenbank gilt es vor dem Einfluss der Farmer zu schützen. Wenn sich eine Berufsgruppe auf eine gemeinsame Position einigt, sollte keine abweichende Meinung formuliert werden, jedenfalls nicht öffentlich. Zweifel sei zwar eine Kardinaltugend in den Wissenschaften, stand vor kurzem in der Washington Post, doch Zweifel könnten katastrophale Folgen haben, wenn es um Fragen der öffentlichen Gesundheit geht, „wo Leben davon abhängen, ob die Menschen den wissenschaftlichen Experten vertrauen“. Deshalb müssten Zweifel unterdrückt oder zum Schweigen gebracht werden. Das läuft auf eine das Denken unterdrückende Logik hinaus, die man auf jedes beliebige Wissensgebiet ausweiten kann.

Damit wir uns nicht missverstehen: Dieser Aufsatz ist kein Plädoyer für absolute Redefreiheit, der versucht, Verschwörungstheorien für rational zu erklären oder der den Wissenschaftsbetrieb angreifen will. Es geht mir vielmehr um die Zukunft der Demokratischen Partei, die Zukunft der Linken. Zu diesem Thema lautet meine klare Meinung: Die hier geschilderte Art von progressiver Politik ist durch und durch verachtenswert. Eine demokratische Gesellschaft wird mundtot gemacht, wenn man ihr immer wieder – auf subtile wie grobe Weise – erzählt, das große Problem der Nation sei der fehlende Respekt vor der Autorität unserer traditionellen Eliten.

Wenn diese traditionellen Eliten in einzigartiger Geschlossenheit behaupten, dass ihr sozialer Rang die Richtigkeit ihrer Ansichten verbürge und ihre Privilegien rechtfertige, wird eine Gesellschaft wie die unsere eine derartige Heuchelei nicht durchgehen lassen. Zudem erreicht eine Elite, die ständig mit moralischen Urteilen um sich wirft, nur das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt. Die Trump-Anhänger vier Jahre lang im Ton schrillster moralischer Hysterie zu beschimpfen, war womöglich das perfekte Rezept, um diese Menschen dazu zu bringen, ihren vor Selbstüberschätzung und Vorurteilen strotzenden Helden erst recht zu unterstützen.

Das Merkwürdige ist, dass man im progressiven Lager hätte wissen können, dass diese Nörgelei von oben nach unten wahnsinnig ungeschickt ist und strategisch überhaupt nichts bringt. Bei den US-Präsidentschaftswahlen von 1936 war die gesamte gesellschaftliche Elite des Landes in einer Art kollektiver moralischer Panik geeint. Alle wollten sie die Wiederwahl von Präsident Franklin D. Roosevelt verhindern: die Industriemagnaten, die besseren Kreise, die Ökonomen, die Unternehmensanwälte und so weiter. Rund 85 Prozent der Presse schrieben gegen FDR und überzogen ihn mit einem denunziatorischen Vokabular: Er sei ein Möchtegern-Diktator, ein Kommunist, ein Faschist, er überlasse Spinnern die Macht, er ignoriere die Ratschläge ausgewiesener Experten, und überhaupt sei er wahrscheinlich ein Werkzeug der Russen.

Diese Kampagne ging auf spektakuläre Weise in die Hose. Roosevelt attackierte seinerseits die „ökonomischen Royalisten“ und wurde mit der erdrutschartigen Mehrheit von 60,8 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Im Gegensatz zu Donald Trump war Roosevelt ein echter Populist und wirklich populär. Und die Einheitsfront der Upperclass, die sich 1936 gegen ihn formierte, machte ihn sogar noch populärer.

In 30 Jahren werden Historikerinnen und Historiker mit Abscheu und Fassungslosigkeit auf diese vergangenen vier Jahre zurückblicken. Mit Abscheu angesichts des schrillen, selbstgefälligen Ignoranten, der im Weißen Haus hockte, Hamburger in sich hineinstopfte und Verschwörungstheorien über Twitter ausstreute, während die Coronapandemie das Land verheerte.

Aber wenn sie das progressive Lager betrachten, werden sie sich kopfschüttelnd fragen: Wie konnten es diese Liberalen klug finden, die größten ökonomischen und kulturellen Mächte unserer Zeit – die Herren des Silicon Valley – mit der Aufgabe zu betrauen, ihre Gegner zu zensieren?

Der liberale Veteran Ira Glasser berichtet, wie progressive Akademikerkreise sich für Sprachregelungen einsetzen, weil sie davon ausgehen, „dass die Entscheidungen darüber, gegen wen sich diese richten, bei ihnen selber liegen wird“. Solche wohlmeinenden Liberalen, folgert Glasser, haben nicht verstanden, dass einschränkende Sprachregeln wie Giftgas sind: „Wenn man Giftgas in der Hand und ein Ziel vor Augen hat, hält man das für eine großartige Waffe; aber der Wind kann sich jederzeit drehen – insbesondere in der Politik – und plötzlich kriegst du das Giftgas selbst ins Gesicht.“

Folgt man dieser Metapher, kann die Geschichte eigentlich nur schlecht enden. Der Angriff des Mobs auf das Kapitol hat uns allen Angst gemacht. Aber wenn die Demokraten die Lösung für das Problem in der Zensur sehen – ausgeübt durch die Monopolisten des Silicon Valley –, ist dies ein schockierender Treuebruch. Man kann eine Partei, die 30 Jahre lang die Sorgen und Anliegen der Arbeiterklasse missachtet und stattdessen die Autorität der Etablierten respektiert und protegiert hat, mit vielen Begriffen kennzeichnen – aber das Wort „liberal“ im Sinne von „progressiv“ gehört nicht dazu.

1 Aaron Zitner and Dante Chinni, „How the 2020 election deepened America’s white-collar/blue-collar split“, The Wall Street Journal, 24. November 2020.

2 Nach einer Analyse der Brookings Institution vom 10. November 2020.

3 Zu weiteren Einzelheiten siehe Aaron Maté, „Der Mueller-Report: ein Debakel für die Demokraten“, LMd, Mai 2019.

4 „Operation InfeKtion. Russian Disinformation: From Cold War to Kanye“, 12. November 2018.

5 Siehe Anmerkung 4.

6 Siehe Matt Taibbi, „Hate Inc: Why Today’s Media Makes Us Despise One Another“, New York (OR Books) 2019.

7 Jonathan Rauch, „How American Politics Went Insane“, The Atlantic, Juli/August 2016.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Thomas Frank ist Journalist und Autor von „The People, No. A Brief History of Anti-Populism“, New York (St Martin’s Press) 2020. In deutscher Übersetzung erschien von ihm zuletzt „Americanic. Berichte aus einer sinkenden Gesellschaft“, München (Kunstmann) 2019.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2021, von Thomas Frank