Die Sponsoren des Austritts
Warum Teile der Londoner City den Brexit unterstützt haben
von Marlène Benquet und Théo Bourgeron
Am 24. Juni 2016 rieben sich Menschen rund um den Globus die Augen. Auf die Frage „Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder austreten?“, hatten 51,9 Prozent der Wähler für „Leave“ („austreten“) gestimmt.
Für viele kam dieses Resultat überraschend. War die von allen politischen Kräften verhätschelte Londoner City nicht unisono für ein „Remain“ („drin bleiben“) eingetreten? Was war passiert? War der mächtigste Finanzsektor Europas nicht mächtig genug, sich in einer so wichtigen Zukunftsfrage Gehör zu verschaffen?
In Wirklichkeit hatte sich die City zwar demonstrativ und lautstark für „Remain“ engagiert, unter diesem Deckmantel aber diskret und doch sehr energisch eine andere Kampagne geführt. Die inzwischen zugänglichen Daten der britischen Wahlkommission verraten drei interessante Fakten: Erstens gingen fast zwei Drittel der Spenden des Finanzsektors an die „Leave“-Aktivisten, während es bei der britischen Industrie weniger als die Hälfte war. Zweitens kamen 57 Prozent der Zuwendungen für die„Leave“-Kampagne aus dem Finanzsektor, beim „Remain“-Lager dagegen nur 36 Prozent.
Und schließlich gab es in der City zwei Gruppen mit unterschiedlichen Positionen. Die eine repräsentiert die Protagonisten der„ersten Finanzialisierung“, also den traditionellen Finanzsektor: Banken, Versicherungen, Finanzberatungsfirmen, dazu institutionelle Anleger inklusive Pensionskassen. Das Akkumulationsmodell dieses Sektors besteht darin, private Sparer zu animieren, ihre Einlagen kurzfristig am Aktienmarkt zu investieren. Bei dieser Art Wertschöpfung streben die Investoren keine Kontrolle über die Unternehmen an, deren Anteile sie erwerben. Diese Kontrolle überlassen die „passiven“ Anleger vielmehr dem Management des Unternehmens.
Die andere Fraktion besteht aus den Protagonisten der „zweiten Finanzialisierung“ wie Private-Equity-Unternehmen und Hedgefonds. Diese treiben, anders als die traditionellen Akteure, private Anlagegelder ein, um sie mittelfristig in nicht börsengehandelte Anteile von Unternehmen zu investieren, deren Kontrolle sie übernehmen. Ihr Geschäftsmodell ist insofern „alternativ“, als es relativ unabhängig von der Entwicklung der Aktienmärkte ist.
Betrachtet man die Finanzierungsquellen der beiden Kampagnen, ergibt sich ein klares Bild: Das „Remain“-Lager wurde weitgehend von den Protagonisten der ersten Finanzialisierung subventioniert, die „Leave“-Kampagne dagegen von denen der zweiten Finanzialisierung (mit etwa 94 Prozent des Spendenvolumens).
Von kritischen Ökonomen wird die EU oft als institutionalisierter Hort des Neoliberalismus beschrieben, als Vehikel, um die Völker im Interesse der Finanzwirtschaft ihrer Souveränität zu berauben. Doch dieser Rahmen, der dem europäischen Finanzsektor beste Operationsbedingungen bietet, ist den Protagonisten der zweiten Finanzialisierung längst zu eng geworden. Sie versprechen sich vom Brexit, dass sie künftig nach Belieben investieren können, ohne durch die als zu streng empfundene Brüsseler Finanzaufsicht eingeengt zu werden.
Ein Singapur an der Themse
Diese Fraktion des Finanzsektors hat es darauf abgesehen, die City in eine Art Offshore-Plattform zu verwandeln, konstatiert der Geschäftsbanker und frühere Trader Marc Fiorentino: „Manche Finanzakteure träumen davon, London in ein globales Singapur zu verwandeln, eine von allen regulatorischen EU-Auflagen befreite Zone, in der alle aufstrebenden Wirtschafts- und Finanzmächte ungehindert ihre mehr oder weniger sauberen Geschäfte verfolgen können. Es wäre ein riesiges Steuerparadies.“ Die britische Presse hat dafür den Begriff „Singapore-upon-Thames“ geprägt.
Mit dem Amtsantritt von Boris Johnson im Juli 2019 haben es die Vertreter der zweiten Finanzialisierung in die Downing Street 10 geschafft und wichtige Regierungsposten erobert. Diese Brexit-Fraktion ist auf eine libertäre Ideologie eingeschworen und will jegliche staatliche Intervention einschränken, die über den Schutz des Privateigentums hinausgeht.
Mit der Ablehnung staatlicher Regulierung auf nationaler Ebene geht der Widerstand gegen jede Art von Institutionalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen einher. Deren Gestaltung soll im freien Ermessen der Staaten liegen, die untereinander Handelsabkommen gemäß ihren wirtschaftlichen Interessen abschließen.
Der Libertarismus propagiert einen radikal deregulierten Kapitalismus als soziales System, das auf der moralischen, politischen und wirtschaftlichen Souveränität des Individuums basiert.
Nach Gilles Dostaler gehen die Libertären bei der Einschränkung der Rolle des Staats weiter als die Neoliberalen: Dem Staat sollen nicht nur das Bildungswesen und Infrastrukturen wie das Verkehrssystem entzogen sein, sondern sogar hoheitliche Befugnisse: „Diese anarchistisch-kapitalistische Bewegung sieht die völlige Abschaffung des Staats und die Privatisierung aller seiner Funktionen vor, einschließlich Armee, Polizei und Justiz, die für Adam Smith dem Staat vorbehalten waren.“1
Der altehrwürdige Adam Smith hatte das Gemeinwohl noch als Summe der Einzelinteressen interpretiert. Der Liberalismus soll durch von souveränen Individuen demokratisch beschlossene Gesetze ergänzt werden. Die Neoliberalen unter Milton Friedman, Friedrich Hayek und Ludwig von Mises propagierten, die radikale Verteidigung des Privateigentums und der Freiheit, sich zu bereichern, führe zur allgemeinen Wohlstandsmehrung und somit zu sozialem Fortschritt, die sogenannte Trickle-down-Theorie.
Die Anhänger des Libertarismus propagieren dagegen einen ethischen Freiheitsbegriff, der die Frage nach den Auswirkungen auf das Gemeinwohl ausblendet. Der absolute Vorrang der Freiheit entspringt nicht der Überzeugung, dass der Kapitalismus überlegen sei, weil er mehr Wohlstand schaffen könne als jede andere Produktionsweise. Die Freiheit der Eigentumsakkumulation findet ihre Begründung nur noch in sich selbst.
Zudem nimmt der ökonomische Libertarismus, dem die Protagonisten der zweiten Finanzialisierung anhängen, auf politischer Ebene autoritäre Züge an. Da alle Umverteilungsmechanismen zur Erfüllung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung – in Bereichen wie Gesundheit, Bildung und Sicherheit – abgelehnt werden, gilt die Unterdrückung sozialer Bewegungen und die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten und Rechte – inklusive der Meinungsfreiheit – als gebotene Methode, um den sozialen Zusammenhalt zu sichern.
Radikale Thinktanks in Westminster
Da eine systemische Reduzierung der sozialen Ungleichheit und der Verarmung von Teilen der Bevölkerung als illegitim gilt, bleibt zur Regulierung des gesellschaftlichen Lebens nur der Einsatz von Gewalt. Die Freiheiten werden geopfert, um die wichtigste Freiheit zu bewahren: das Recht, Eigentum zu besitzen und zu akkumulieren.
In den 2010er Jahren wurden diese Ideen vor allem von Thinktanks verbreitet, die unter dem Sammelbegriff „Tufton Street“ bekannt wurden, weil die meisten von ihnen ihre Adresse in dieser Straße des Londoner Stadtteils Westminster haben. Zum Beispiel (in der Tufton Street 55 und 57) das Adam Smith Institute, die TaxPayers’ Alliance, Leave Means Leave, die Global Warming Policy Foundation, das Centre for Policy Studies (1974 unter anderem von Margaret Thatcher gegründet) und das Institute for Economic Affairs.
Diese Thinktanks werden größtenteils durch die Akteure der zweiten Finanzialisierung finanziert, aber auch durch eng mit ihnen verbundene Branchen wie Hoch- und Tiefbau, fossile Energien und die Tabakindustrie. Dieses Netzwerk beschränkt sich nicht nur auf Großbritannien. Die Tufton Street ist Teil des transatlantischen Atlas Network mit etwa 400 Organisationen, die sich zu einer politisch kohärenten Galaxie formieren.
Geeint wird dieses Netzwerk des Libertarismus auch durch die Verbindungen zur Alt-Right-Bewegung in den USA und zu den Tory-Brexiteers. Diese Organisationen stehen für ein Ensemble von Ideen, die das politische Projekt der zweiten Finanzialisierung ausmachen: Libertarismus, Fortsetzung des Thatcherismus, Euroskeptizismus, Atlantismus, Autoritarismus und Anzweifeln des menschengemachten Klimawandels.
Die politischen Förderer der zweiten Finanzialisierung sind, um zu regieren, offenbar nicht mehr auf die Demokratie als Form bürgerlicher Herrschaft angewiesen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts musste sich das aufstrebende Bürgertum in der Konkurrenz mit den in manchen Gegenden noch sehr populären Lehnsherren und Aristokraten eine neue Legitimität verschaffen, die nicht auf Vererbung gründete.
Damals ging es darum, die durchaus mögliche Wiederherstellung der Interessenkoalition von Landadel und Bauern zu verhindern, die fast tausend Jahre vorgeherrscht hatte. Deshalb konnte die bürgerliche Revolution auf die Neuerfindung des Demokratiegedankens auf Basis der Idee der Volkssouveränität setzen.
Das ist heute anders: Die Macht der Bourgeoisie wird von keiner anderen Gesellschaftsschicht oder konkurrierenden Elite bedroht. Könnte es also sein, dass sie, wenn keine monarchistische oder sozialistische Gefahr mehr besteht, an der Demokratie nicht mehr interessiert ist?
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Die Soziologen Marlène Benquet und Théo Bourgeron haben das Buch „La Finance autoritaire. Vers la fin du néolibéralisme“, Paris (Raisons d’agir) 2021, verfasst. Dieser Text ist ein Auszug daraus.