Proxy Wars
Das Zeitalter der Stellvertreterkriege
von Tom Stevenson
Seit Beginn dieses Jahrhunderts gibt es kaum einen Krieg, der ohne „proxies“, also ohne Stellvertreter vor Ort, ausgekommen wäre. Überall auf der Welt – ob in Südamerika, in Zentralafrika, im Nahen Osten oder in Osteuropa – verfolgen kriegführende Staaten ihre Ziele mithilfe lokaler Bündnispartner.
Zwar sind uns die katastrophalen Invasionen in Afghanistan und im Irak als konventionelle Kriege in Erinnerung, aber am Anfang des Afghanistan-Kriegs stand die Rekrutierung einer Stellvertretertruppe. Und die Invasion im Irak wurde zwar von traditionellen Streitkräften – fast 180 000 Soldaten aus den USA, Großbritannien, Australien und anderen Ländern – bewerkstelligt, aber die anschließende Besetzung des Landes stützte sich vornehmlich auf Proxy-Kräfte.
Seit der Antike haben sich mächtige Staaten bei der Verfolgung ihrer außenpolitischen Ziele solcher lokalen Hilfstruppen bedient. Die Athener rekrutierten kretische Bogenschützen, weil die bessere Waffen hatten. Das Römische Reich setzte ghassanidische Stammeskrieger ein, um auf der Arabischen Halbinsel die Lachmiden zu bekämpfen, die wiederum Hilfstruppen der Perser waren. In der Renaissance nahm fast jedes europäische Reich die Schweizer „Reisläufer“ in Dienst, die dank ihrer Hellebarden als beste Infanterie galten. Doch trotz dieser langen Tradition war die Strategie des Stellvertreterkriegs nie so allgemein verbreitet wie in unseren Tagen.
Als Meisterstratege in Sachen „proxy war“ galt bis vor Kurzem Qasem Soleimani, der für die verdeckten iranischen Militäraktionen auf fremdem Boden verantwortlich war. Am 3. Januar 2020 wurde der Kommandeur der Quds-Einheit der iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) durch eine US-amerikanische Drohne getötet, was Präsident Trump mit dem Vorwurf rechtfertigte, der iranische Chefstratege habe „schlecht über unser Land geredet“.
Der Ruf Soleimanis war wohl begründet. Er sprach ein passables Arabisch und verstand es, aus irregulären Banden ausländischer Kämpfer loyale Gefolgsleute zu machen. Sein Wirken brachte den Iranern den Ruf ein, dass sie bei der Rekrutierung von Stellvertreterkriegern die wahren Profis seien, US-Amerikaner und Briten dagegen nur Amateure. Die Quds-Einheit, eine für Auslandseinsätze zuständige Spezialtruppe der Pasdaran, war Anfang der 1980er Jahre nach Ausbruch des iranisch-irakischen Kriegs gegründet worden. Sie unterstand seit 1997 Soleimani, unter dessen Oberbefehl sie ihre seit der islamischen Revolution von 1979 übernommene Rolle weiterspielten.
Im Irak beruht der Einfluss der Quds-Einheit auf der Kontrolle über die Haschd asch-Schaabi (Volksmobilmachungskräfte), einer Formation aus etwa 40 schiitischen Milizen, in Syrien über irreguläre afghanische und syrische Kampfgruppen. Im Jemen arbeiten die Huthis, die zu den schiitischen Zaiditen gehören, mit der Quds-Einheit zusammen; in Afghanistan sind es bestimmte Taliban-Fraktionen. Beide Gruppierungen werden von den Iranern unterstützt, ohne dass man sie als Marionetten bezeichnen könnte.
Dasselbe gilt für die Hisbollah im Libanon, die sich vom Auftragnehmer zum eigenständigen Bündnispartner entwickelt hat. Die meisten Kämpfer dieser Gruppen rekrutieren sich aus den örtlichen schiitischen Volksgruppen, ohne dass die Iraner auf eine doktrinäre Gleichschaltung im Glauben drängen würden.
Die Strategie ist überaus plausibel. Seit vier Jahrzehnten ist Iran der erklärte Erzfeind der globalen Supermacht USA. Das Land ist von US-Militärbasen und feindseligen sunnitisch-arabischen Staaten umzingelt. Seine Wirtschaft wird durch US-Sanktionen erdrosselt. Teheran versucht den Erzfeind in Washington von einer Intervention auf iranischem Boden abzuhalten, indem es ihn durch seine Proxies in der gesamten Region beschäftigt hält.
Solches Agieren mittels Stellvertretern bietet einen weiteren Vorteil: Bei Vermeidung einer direkten Konfrontation bewahrt sich die iranische Regierung die Möglichkeit, den USA immer wieder Angebote zu machen. Damit erkennt das Regime in Teheran an, dass es für das eigene Überleben auf längere Sicht eine gewisse Einigung mit dem mächtigen Gegner anstreben muss.
Irans Proxy-Strategie ist vorwiegend defensiv angelegt. Zugleich aber hat sie es dem Land ermöglicht, größeren Einfluss auf seine Nachbarstaaten auszuüben, etwa durch die Unterstützung von Baschar al-Assad in Syrien oder der schiitischen Kräfte im Irak. Für diese Bündnispolitik benutzen die Pasdaran den Begriff „effects-based operations“, erfolgsorientierte Operationen, der interessanterweise dem Vokabular des US-Militärs entnommen ist.1
Washington hat den Begriff „proxy warfare“ für die Kriegsführung heimtückischer Feinde, also insbesondere für Iran und Russland, reserviert. In der offiziellen National Defense Strategy vom Januar 2018 wird auf die Gefahr verwiesen, dass Konkurrenten zur Durchsetzung ihrer Ziele weniger auf einen offenen Krieg setzen würden als auf Mittel eines „Informationskriegs“, auf „undurchsichtige oder verleugnete Proxy-Operationen“ und „Subversion“.2
Der jüngste Report der National Defense Strategy Commission konstatiert eine wachsende Tendenz zu „Aggression und Konflikt in der Grauzone zwischen Krieg und Frieden“.3 Westliche Sicherheitsexperten sprechen zuweilen von der „Gerassimow-Doktrin“. Der Begriff wurde von dem Journalisten Mark Galeotti – eher scherzhaft – nach einer Rede des russischen Generalstabschefs Waleri Gerassimow im Januar 2013 in die Welt gesetzt.
Die Sicherheitspolitiker in Washington und London haben den Ausdruck aufgegriffen, um die angeblichen russischen Pläne zur Destabilisierung Europas und Nordamerikas zu beschreiben. Die ironische Pointe liegt darin, dass Gerassimow gar nicht über die russische Strategie gesprochen, sondern seinerseits den Westen beschuldigt hatte, „die Grenze zwischen Krieg und Frieden zu verwischen“. Wenn das Pentagon ständig bemüht ist, seinen Feinden „asymmetrische“ oder unkonventionelle Taktiken und Stellvertreterkriege nachzusagen, darf man nicht vergessen, dass nicht Russland oder Iran, sondern die USA die eigentlichen Erfinder der „Proxy-Doktrin“ waren – und bis heute auch das meiste Geld für die Bewaffnung von Proxy-Kriegern ausgeben.
In dem Strategiereport vom Januar 2018 wird erstmals auf die „By-with-through“-Methode verwiesen, die von der J-2, der Geheimdienstdirektion des Vereinigten Generalstabs (Joint Chiefs of Staff), entwickelt wurde. Demnach müsse das US-Militär lokale Kampftruppen „organisieren, militärisch ausstatten und ausbilden“, um „by, with and through“ (etwa: mittels, mit und durch) Partner und Länder zu operieren, „mit denen wir gemeinsame Interessen haben“. Es fällt auf, dass hier das Wort Proxy sorgfältig vermieden und durch weniger anstößige Begriffe ersetzt wird, obwohl die CIA seit Jahrzehnten solche Stellvertreterkräfte einspannt.
Was die J-2-Doktrin beschreibt, ist eine Form des Kriegs, die inzwischen fast zur Normalität geworden ist. Das Modell beruht auf der Schlagkraft der US-Luftwaffe, die häufig auf satellitengestützte Aufklärung und den Einsatz von Drohnen zurückgreift, um ihre Proxy-Bodentruppen zu unterstützen. Wobei Letztere durch Spezialeinheiten der U.S. Army oder ihrer Verbündeten ergänzt werden, falls spezielle militärische Expertise erforderlich ist.
Das war auch das Konzept der USA bei ihren Interventionen zugunsten der Aufständischen im libyschen und im syrischen Bürgerkrieg, wie auch bei der Unterstützung der kurdischen und irakischen Milizen, die den „Islamischen Staat“ (IS) in die Knie zwangen. Anders im Jemen, wo das Pentagon die Luftschläge den militärischen Vasallenstaaten Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate (VAE) überließ. Deren Luftstreitkräfte wurden allerdings von US-amerikanischen und britischen Beratern angeleitet, ausgebildet und mit Munition, technischer Hilfe und taktischen Ratschlägen versorgt.4
Proxy-Truppen sind keine Söldnerheere
Das britische Militär hat dieses Konzept übernommen und verwendet eine ähnlich euphemistische Terminologie. Nach den Worten von Generalstabschef Nick Carter hat es Großbritannien mit „autoritären Rivalen“ zu tun, die ihre Angriffe unterhalb der Schwelle ansetzen, bei deren Überschreitung man mit Kriegshandlungen reagieren müsste. In diesem ständigen Kampf, in dem die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden nicht mehr gelte, würden die Gegner „unsere natürliche Abneigung gegen die Gefährdung von Menschenleben“ als Schwäche interpretieren, die es auszunutzen gelte.
Nach Carter ist die britische Antwort ein „integriertes Operationskonzept“, das auf „partnerschaftlichen Operationen gegen gemeinsame Bedrohungen“ beruht. Dieses Konzept würde man, wenn die erklärten Gegner es praktizieren, schlicht als „Stellvertreterkrieg“ bezeichnen. Doch das britische Militär spricht lieber von einer „Kampfhaltung, die auf kontinuierliches Agieren nach unseren Bedingungen und an Orten unserer Wahl“ abhebt.5
Auch andere Mächte sind bemüht, sich möglichst an diesem US-Konzept zu orientieren. Die Golfmonarchien zum Beispiel haben in Syrien ihre eigenen Stellvertretertruppen rekrutiert. Auch Russland hat in der Ostukraine Proxy-Milizen eingesetzt. Und die Türkei setzt ihre syrischen Proxies auch in Libyen und neuerdings in Bergkarabach ein. Militärexperten neigen ja immer wieder dazu, den Anbruch eines neuen militärtechnischen Zeitalters auszurufen. Aber heute erleben wir womöglich wirklich einen.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs verfügten die USA über die weitaus stärkste konventionelle Militärmacht des Globus. Sie beherrschten die Weltmeere, und die U.S. Air Force war den Luftstreitkräften aller anderen Staaten weit überlegen. Ihre Rolle als dominierende Supermacht demonstrierten die USA nicht nur mit der nuklearen Apokalypse von Hiroshima und Nagasaki, sondern auch mit den Flächenbombardements von Tokio, Nagoya, Yokohama, Osaka, Hamamatsu und Kobe, die noch mehr Zerstörungen anrichteten als ihre Atomwaffen.
In Korea befahl General George E. Stratemeyer den US-Piloten, „alle Gebäude, die einen Schutz bieten könnten“, zu zerstören – mit der erklärten Absicht, die ganze Koreanische Halbinsel in eine Wüste zu verwandeln. Zwischen 1950 und 1953 wurden die größeren Städte einschließlich Pjöngjang und sogar Seoul fast völlig zerstört. General Curtis LeMay, seinerzeit Oberkommandeur der Strategischen Luftstreitmacht, sagte damals, die USA hätten „praktisch jede Stadt in Nord- und Südkorea niedergebrannt“. Eine Million Zivilisten wurden dabei getötet. LeMay gehörte zu den Generälen, die dafür plädierten, ebenso gegen die Sowjetunion vorzugehen.
In der Epoche des Kalten Kriegs verlegten sich die USA – die über mehr Militäranlagen in allen Weltregionen verfügte als je ein Staat zuvor – auf Konzepte wie verdeckte Interventionen und Stellvertreterkriege. Beide Supermächte – oder besser: die eine Supermacht und ihr Herausforderer – führten Angriffskriege gegen kleine Staaten der globalen Peripherie. Die USA attackierten Kuba, die Dominikanische Republik und Grenada und begannen einen Zerstörungskrieg in Indochina. Die Sowjetunion marschierte in Ungarn, der Tschechoslowakei und Afghanistan ein.
Bewaffnete Konflikte zwischen rivalisierenden Staaten waren jedoch eher selten und hatten kaum etwas mit der Rivalität zwischen den Großmächten USA und UdSSR zu tun (was etwa für die Kriege in der Nahostregion gilt). Dagegen nahm die Zahl der Bürgerkriege zu, die vor dem Hintergrund der bipolaren weltpolitischen Konstellation oft zum Schlachtfeld wurden, auf dem die globale Konkurrenz mittels verbündeter Proxies ausgetragen wurde.
Die meisten Studien über Stellvertreterkriege stammen von Militärhistorikern und Taktikexperten. Ihr Material stammt überwiegend aus der Epoche des Kalten Kriegs.6 Die bot offenbar ideale Bedingungen für Proxy-Szenarien, sodass man eigentlich erwarten sollte, dass Stellvertreterkriege seit dem Ende dieser Ära seltener wurden. Doch weit gefehlt: Seitdem gab es nicht nur die von westlichen Mächten begonnenen Kriege im Nahen Osten, sondern auch überaus brutal geführte Bürgerkriege, etwa in Algerien, Somalia, Liberia, Jugoslawien, Sierra Leone, Kongo, Libyen, Syrien und Jemen. Viele dieser „inneren Konflikte“ wurden durch das Agieren ausländischer Mächte und deren Proxies vor Ort angeheizt und verlängert, wodurch sie sich – wie in Libyen, Syrien und Jemen – zu internationalen Konflikten ausgeweitet haben.
Die USA waren und sind in der Lage, an der Peripherie des globalen Wirtschaftssystems nach Belieben zu intervenieren. Dabei setzen sie immer häufiger auf eine ausgeklügelte Kombination von Stellvertretertruppen, Drohnen und eigenen Spezialeinheiten. Mit der taktischen Frage, wie solche „modernen“ Stellvertreterkriege möglichst erfolgreich geführt werden können, beschäftigen sich etliche Wissenschaftler und Militärs.
In seinem Buch über „Proxy Wars“ stellt Tyrone Groh klar, dass das Ziel bei Stellvertreterkriegen – anders als bei „traditionellen“ militärischen Invasionen – nicht unbedingt der Sieg ist.7 Eine äußere Macht kann lokale Stellvertreter auch unterstützen, um einen prekären Status quo zu erhalten. Oder um über ein Instrument der Einmischung zu verfügen, etwa mit dem Ziel, eine unliebsame Regierung zu stürzen. Oder auch schlicht, um „das Chaos zu schüren“. Im letzteren Fall wird sich die ausländische Macht vor allem auf verdeckte Operationen verlegen, um eine gewaltsame Auseinandersetzung in die Länge zu ziehen.
Wie Groh schreibt, ist die Steuerung einer Stellvertretertruppe leichter, wenn diese dasselbe Ziel hat wie ihr Unterstützer. Doch selbst in dieser Konstellation müsse der Unterstützer mit einem System von Strafe und Belohnung operieren. Die politische Legitimität der Stellvertreter spiele vor allem dann eine Rolle, so Groh, wenn es um die Eroberung des nationalen Machtzentrums geht. In jedem Fall müssen die Strippenzieher des Stellvertreterkriegs dafür sorgen, dass die Proxies vollständig von ihnen abhängig sind, was entsprechende Anreize erfordert. Andererseits dürfen sie gegenüber den Vasallen nicht zu viele Verpflichtungen eingehen, jedenfalls nicht öffentlich. Vor allem aber muss der Sponsor stets in der Lage sein, die Stellvertreter wieder fallen zu lassen, wenn sie ihm nicht mehr von Nutzen sind.
Als erfolgreiches Beispiel für ein solches „proxy management“ benennt Groh den Stellvertreterkrieg der USA in Laos, wo Washington seit 1959 bemüht war, die rechte Regierung in Vientiane an der Macht zu halten. Damals baute die CIA, um den Einfluss der kommunistischen, provietnamesischen Widerstandsbewegung Pathet Lao auf eine „weitgehend friedfertige buddhistische Bevölkerung“ zu brechen, eine antikommunistische Geheimarmee auf, die sie vorwiegend aus dem Bergvolk der Hmong (Meo) rekrutierte.
Der Einsatz dieser Proxy-Truppe, die in Lagern auf thailändischem Boden ausgebildet wurde, ergänzte die Luftschläge der U.S. Air Force im Kampf gegen die Pathet Lao und später gegen die nordvietnamesische Armee. Mit dem Rückgriff auf diese Proxies, deren Existenz ein „offizielles Geheimnis“ blieb, konnte die CIA, laut Groh, „einen erheblichen Nutzen zu vergleichsweise geringen Kosten“ erzielen. Anders gesagt: Ein Übergreifen der linksnationalistischen Bewegungen auf Thailand wurde verhindert. Was das für die Bevölkerung von Laos bedeutete, ist wohl bekannt. Aber auch die Hmong selbst haben ihren Einsatz teuer bezahlt – mit dem Verlust ihrer Heimat und mit sehr vielen Menschenleben.8
Für die rekrutierten Hilfstruppen sind die Risiken, die sie mit einer Patronage-Beziehung eingehen, offensichtlich. Stellvertreterkrieg bedeutet immer auch Ausbeutung. Für eine lokale Miliz, die fast immer aus Freiwilligen besteht, ist es oft die einzige Aktionsmöglichkeit, mit der sie auf Missstände reagieren kann. Und die ihr angebotene Ausbildung und Bewaffnung kann sie nutzen, um noch mehr Freiwillige zu rekrutieren.
Andererseits wird ein Konflikt durch Interventionen von außen tendenziell eher verlängert als beigelegt. Im Kontext eines Bürgerkriegs kann das für eine Gruppe, die man beschuldigt, Marionette einer fremden Macht zu sein, katastrophale Folgen haben. Wenn es einer Stellvertretertruppe nicht gelingt, ihre Feinde zu unterwerfen, wird sie in der Regel für ihre Vasallenschaft büßen müssen.
Selbst für reguläre Truppen ist das Schlachtfeld ein unübersichtlicher Ort. Aber der Einsatz von Proxies macht die Konfusion noch größer. Undisziplinierte Soldaten kämpfen womöglich nicht so entschlossen, wie es sich die Auftraggeber wünschen. Und es kann durchaus vorkommen, dass sie dabei nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Das kann auch heißen, dass nagelneue Waffen ihren Weg auf den Schwarzmarkt finden, statt für den beabsichtigten Zweck eingesetzt zu werden. Schon Niccolò Machiavelli galten Söldner und Hilfstruppen als „nutzlos und gefährlich“, denn sie seien meist „uneinig, herrschsüchtig, undiszipliniert und treulos; mutig unter Freunden und feige vor dem Feind“. Den Grund sah er in dem geringen Sold, der „nicht ausreicht, um sie für dich den Tod suchen zu lassen“.9
Man darf allerdings nicht den verbreiteten Fehler machen, Stellvertretertruppen mit Söldnern gleichzusetzen. Denn obwohl beide bezahlt werden müssen, gibt es einen wichtigen Unterschied: Söldner haben kein eigenes Programm und sind daher leichter zu kontrollieren. Heute sind etwa die Hälfte der US-Truppen in Afghanistan Angestellte von Privatfirmen, die für ihren Einsatz bezahlt werden. Aber dieser Rückgriff auf private Auftragnehmer wird von der Logik der Privatisierungsideologie diktiert und nicht von der des Stellvertreterkriegs.
Regierungen stehlen sich aus der Verantwortung
Der Einsatz von Stellvertretertruppen durch die USA im Nahen und Mittleren Osten begann mit der Unterstützung paramilitärischer Gruppen in Afghanistan. Um die sowjetische Invasion von 1979 zu kontern, versorgte die CIA afghanische und arabische Mudschaheddin mit Geld – häufig in Form von Rücksäcken voller Dollars – und mehr als 2.000 Luftabwehrraketen vom Typ Stinger. Die Kontrolle dieser Kämpfer blieb weitgehend dem pakistanischen Geheimdienst ISI überlassen.
Dagegen fungierten die Milizen der sogenannten Nordallianz als direkte Stellvertretertruppe der USA, als sie 2001 die Taliban aus Kabul vertrieben. Diese Allianz aus fünf islamisch geprägten Gruppen war das geeignete Instrument für einen erfolgreichen Aufstand, erwies sich jedoch als hinderlich für den Aufbau einer neuen Regierungsmacht. Deshalb sahen sich die USA in der Folge gezwungen, eine große Zahl eigener Soldaten zu entsenden – mit Konsequenzen, die bis heute andauern.
Im Irak dagegen hatte der Zusammenbruch des Staates zur Folge, dass die Besatzungstruppen die neue irakische Armee bewaffnen und ausbilden mussten, wobei das Pentagon hoffte, diese Armee zu einer festen und berechenbaren Stellvertretertruppe zu machen. Zugleich rekrutierten die US-Militärs und die Geheimdienste lokale bewaffnete Kämpfer, die nicht dem offiziellen irakischen Militär angehört hatten. In der Provinz Anbar zum Beispiel setzten sie auf sunnitische Stämme, um al-Quaida zu bekämpfen und die Ordnung wiederherzustellen.
Als im Oktober 2016 die Belagerung von Mossul begann, koordinierten die USA eine gemischte Proxy-Truppe aus irakischen Sicherheitskräften, kurdischen Peschmerga und Schiitenmilizen, deren Auftrag es war, mit US-Luftunterstützung den IS aus der Stadt zu vertreiben.
Ein anderer Fall, der das Zeitalter der Stellvertreterkriege exemplarisch veranschaulicht, ist der komplizierte Bürgerkrieg in Syrien. Hier sind mindestens neun Staaten mit Proxy-Milizen vertreten. Die iranische Badr-Organisation und das russische „Fünfte Corps“ unterstützten die syrischen Regierungstruppen mit Freiwilligen, die sie durch Monatsgehälter in Höhe von mehreren hundert Dollar anlockten. Die Türkei und die Golfstaaten finanzierten fundamentalistische sunnitische Milizen. Und die USA und Großbritannien koordinierten ihre Unterstützung für aufständische Gruppierungen in Syrien über militärische Operationszentralen in Amman und im südtürkischen Gaziantep.
In Syrien hatten die USA mit der Kontrolle der lokalen Fraktionen – und ihrer medialen Präsenz – ein ständiges Problem. Zum Beispiel als 2016 ein Video auftauchte, in dem Kämpfer einer zuvor von der CIA unterstützten Miliz einen offenbar 12-jährigen Jungen enthaupteten.10 In Afghanistan und im Irak hatten die lokalen Proxy-Gruppen den unschätzbaren Vorteil der Unterstützung durch die U.S. Air Force. Das war in Syrien meist nicht der Fall, was sich als entscheidend herausstellte, als die russischen Luftstreitkräfte in den Krieg eingriffen.
Am Ende waren die meisten syrischen Stellvertreter für ihre Sponsoren in Washington wegen ihrer geringen strategischen Bedeutung entbehrlich. Anders die syrischen Kurden, die ein wichtiger Verbündeter Washingtons im Kampf gegen das Kalifat des IS wurden. In dieser Phase waren sie nicht einfach gefügige Auftragnehmer, sondern kooperierten mit den US-Geheimdiensten bei der Koordinierung der Luftangriffe. Aber auch sie wurden fallen gelassen, sobald sie dem Auftraggeber keinen Nutzen mehr brachten.
Die gängige Erklärung für den Anbruch eines neuen Zeitalters von Stellvertreterkriegen lautet, dass die von den USA dominierte internationale Ordnung zerbrochen ist. Die alte unipolare Welt, so lautet der allgemeine Konsens, tendiere in Richtung einer ausgeglicheneren Machtbalance, die an das Konzert der europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert erinnert.
Doch diese Sichtweise ist zu einfach. Denn die Vereinigten Staaten können sich – trotz einer gewissen Erosion ihrer Macht – mit Fug und Recht immer noch als die dominierende Weltmacht sehen. Und ihr unter Trump vollzogener Rückzug aus internationalen Organisationen und Verträgen sieht eher nach einer Demonstration der Stärke als nach Rückzug aus. Allein in Ostasien unterhalten die USA mehr als ein Dutzend Flottenstützpunkte. Und es gibt weder eine iranische noch eine russische und auch keine chinesische Einflusssphäre, die Washington daran hindern könnte, seinen Willen in allen Weltregionen durchzusetzen.
Dass die USA und Großbritannien heute Stellvertreterkriege favorisieren, entspringt weniger einem strategischem Kalkül als vielmehr der Angst vor katastrophalen innenpolitischen Konsequenzen, wie etwa beim Vietnamkrieg oder der Invasion im Irak. Das gilt auch für die meisten westlichen Staaten, die seit gut zehn Jahren vor militärischen Auslandseinsätzen zurückschrecken. Anders stellt sich das für die kleineren Mächte dar, denen ein Proxy-Krieg die Möglichkeit bietet, ihre nationalen Interessen zu verfolgen, ohne den Zorn der Mächtigen auf sich zu ziehen.
Aber das war auch schon früher so. So führte das Apartheidregime in Südafrika während des Kalten Kriegs einen Stellvertreterkrieg in Angola und Mosambik. Und während der Epoche der US-amerikanischen Vorherrschaft tobte in der Demokratischen Republik Kongo einer der blutigsten Bürger- und Stellvertreterkriege überhaupt. Das Lamento über den Verlust der „stabilen internationalen Ordnung“, die damals angeblich herrschte, beschwört nur einen frommen Mythos: Die Pax Americana war niemals friedlich.
Damit sind wir bei einem Punkt, der in der akademischen Literatur zu Proxy-Kriegen nur selten erwähnt wird. Zum Teil sind und waren Stellvertreterkriege auch deshalb attraktiv, weil sie vor unliebsamen Fragen und internen Nachforschungen im eigenen Land schützen. Dabei muss ein Stellvertreterkrieg keineswegs klandestin sein, um der öffentlichen Rechenschaftspflicht zu entgehen. Wer wen unterstützt, lässt sich zumeist leicht herausfinden; und auch wenn die Betreuung einer Proxy-Truppe offizieller Geheimhaltung unterliegt, kommt die Wahrheit doch irgendwann ans Licht.
Allerdings können die Herrschenden bei einem Stellvertreterkrieg genauere Nachforschungen über die Kosten und die Zahl der Toten und Verwundeten vermeiden. Zudem schützt der Einsatz lokaler Hilfstruppen gegen mögliche rechtliche Anfechtungen, die eigentlich fällig wären, weil Stellvertreterkriege in aller Regel gegen das Völkerrecht verstoßen.11 Im Grunde sind Stellvertreterkriege also auch antidemokratische Unternehmungen. Und es ist genau dieser Aspekt, der erklärt, warum sich die westlichen Staaten ebenfalls auf Stellvertreterkriege verlegen, die sie offiziell als eine Erfindung ihrer undemokratischen Feinde darstellen und verurteilen.
In gewisser Weise handelt es sich beim britischen, beim australischen und beim kanadischen Militär ebenfalls um Proxy-Streitkräfte, da sie keine eigenständige Vision erkennen lassen und im Grunde nur als Anhängsel der Militärmacht USA fungieren. Auch die Armeen vieler kleiner Staaten halten sich zur Verfügung des großen Verbündeten, wobei als Rechtfertigung der „Kampf gegen den Terrorismus“ dient oder die notwendige Kontrolle „unregierbarer Räume“ oder irgendeine andere Phantombegründung.
Die neue Strategie, die auf der Kombination lokaler Proxy-Bodentruppen, Luftunterstützung, globalen Überwachungsmethoden und Spezialeinsatzkräften beruht, ist aus unserer Zeit nicht mehr wegzudenken. Für die Spitzenpolitiker ist die Verführung groß, sich diese militärische Strategie als „goldenen Mittelweg“ zwischen Extremen, die es zu vermeiden gilt, einzureden: einem „heißen“ Krieg einerseits und der „kalten“ Gleichgültigkeit andererseits.
Wer so denkt, vergisst allerdings, dass der Einsatz von Gewalt immer zur Eskalation tendiert. Vieles spricht also dafür, dass die Verbreitung dieser illusionären Doktrin in Zukunft zu noch mehr militärischen Interventionen in anderen Ländern führen wird. Und diese Aktionen werden noch zerstörerischer und noch krimineller ausfallen – und zugleich der begrenzten Kontrolle öffentlicher Nachforschungen entzogen sein.
4 Siehe Tom Stevenson, „Es ging nie nur ums Öl“, LMd, Juli 2019.
5 Rede vom 30. September 2020.
7 Tyrone L. Groh, „Proxy War The Least Bad Option“, Stanford University Press, 2019.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Tom Stevenson ist freier Journalist.
© London Review of Books;
für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin