07.01.2021

Der wichtigste Handelspakt der Welt

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Der wichtigste Handelspakt der Welt

Fast ein Drittel der global produzierten Güter und Dienstleistungen fallen unter das von China dominierte neue Freihandelsabkommen RCEP. Unterzeichnet wurde es zu einer Zeit, in der die Förderung heimischer Produktion und lokalen Konsums auf der Tagesordnung steht.

von Martine Bulard

Benjamin Nachtwey, Große Nachtraststätte, 2019, Acryl auf Leinwand, 160 x 240 cm(zum Künstler siehe Seite 3)
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Dem Verband Südostasiatischer Nationen (Asean) wurde einiges nachgesagt: Er sei schwach, zerstritten und ineffizient, quasi inexistent. Obwohl ihm zehn Länder mit 652 Mil­lio­nen Einwohnern angehören – Myanmar, Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam –, wird dem Asean keine sehr große diplomatische Bedeutung zugemessen.

Entsprechend gering war das Interesse, als am 12. November 2020 in Hanoi das 37. Gipfeltreffen eröffnet wurde. Drei Tage später endete der Gipfel jedoch mit einem Paukenschlag: der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit Australien, China, Südkorea, Japan und Neuseeland unter dem Namen „Regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft“ (Regional Com­pre­hensive Economic Partnership, RCEP).

Die wichtigsten Länder Asiens (mit Ausnahme Indiens, das sich aus Furcht vor der Konkurrenz seiner Nachbarn aus den Verhandlungen zurückzog) setzen also auf die Ausweitung des globalen Freihandels. Und das in einer Zeit, in der die Produktionsrückverlagerung ins eigene Land, das Motto „Consume Local“ und der Schutz der heimischen Märkte eigentlich das Fundament für ein neues Entwicklungsmodell legen sollten.

Der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang, ein Kommunist, sprach von einem „Sieg des Multilateralismus und des Freihandels“, während sein japanischer Amtskollege, der wirtschafts­liberale Suga Yoshihide, „diesen historischen Tag nach achtjährigen Verhandlungen“ begrüßte und dazu aufrief, das Abkommen „so schnell wie möglich“ umzusetzen.1 Freihandelsfreunde aller Länder, vereinigt euch!

30 Prozent der global erzeugten Güter und Dienstleistungen, 28 Prozent des Welthandels und 2,2 Milliarden Menschen: Mit diesen Eckdaten ist das RCEP das größte Freihandelsabkommen, das je unterzeichnet wurde. Und es markiert einen historischen Wendepunkt: China majestätisch auf dem Thron in Südostasien, einer Region, die Peking einst feindlich gesonnen war.

Geopolitik ohne die USA

Schließlich wurde die Asean 1967 mitten im Kalten Krieg gegründet, mit dem erklärten Ziel, den Kommunismus aufzuhalten. Die Gründungsstaaten Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand – ein Kern „sicherer Staaten“ – schlossen sich damals zu einem Bollwerk gegen das Böse zusammen. Sie hatten vielfach auf die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Roten im eigenen Land Jagd gemacht und waren eingeschworene Verbündete der Vereinigten Staaten. Doch mit der Zeit und besonders nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die ideologischen Auseinandersetzungen bedeutungslos.

Die Asienkrise von 1997/98, die die Region kalt erwischte, während die chinesische Wirtschaft zum Höhenflug ansetzte, tat ein Übriges: Die ehemaligen Feinde setzten sich an den Verhandlungstisch.

In der Folge erweiterte sich die Asean, indem sie zusammen mit den drei asiatischen Riesen (China, Südkorea und Japan) das Forum „Asean plus drei“ gründete und eine Reihe von Organisationen mit wechselnder Zusammensetzung schuf – unter anderem das Asean-Regionalforum, dem 27 Staaten angehören (neben den Asean plus drei auch die USA, Nordkorea, Russland, Indien und die EU), und das Asean Defense Ministers Meeting Plus, an dem 18 Länder beteiligt sind (neben Asean plus drei Australien, die USA, Indien, Neuseeland und Russland).

So knüpfte die Asean geräuschlos ein weitgespanntes diplomatisches Netz, das etwa eine Eskalation der Gebietsstreitigkeiten im Südchinesischen Meer zu verhindern half, ohne allerdings das Problem lösen zu können. 2018 erarbeitete der Verband gemeinsam mit Peking den Entwurf eines Verhaltenskodex (Code of Conduct, COC), der als Grundlage für Verhandlungen zwischen all jenen Parteien dienen sollte, die Hoheitsansprüche auf die Spratly- und die Paracel-Inseln erheben. China bleibt in dieser Angelegenheit unnachgiebig und beansprucht das gesamte Gebiet für sich; Vietnam, die

Philippinen, Malaysia, Brunei und Indonesien sind nicht so unersättlich, kommen sich aber trotzdem mit ihren Ansprüchen ins Gehege.1 Heute – zwei Jahre später – liegt COC auf Eis, die Zwischenfälle häufen sich, und der Groll wächst.

Doch die anhaltenden Spannungen haben die Unterzeichnung des RCEP nicht verhindert; die zweit- und die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt – China und Japan – haben sich auf einen gemeinsamen Text verständigt. Das über 500 Seiten starke Abkommen, mit 20 Kapiteln, 17 Anhängen und einem Zeitplan für den Zugang zu den nationalen Märkten dient der „Abschaffung von Einfuhrzöllen und -kontingenten im Warenverkehr“, heißt es auf der Asean-Webseite. Außerdem regelt das Abkommen einige normenbezogene, nichttarifäre Handelshemmnisse, Teile des Dienstleistungsverkehrs, den Onlinehandel und Fragen des geistigen Eigentums. Agrarerzeugnisse bleiben hingegen weitgehend ausklammert.

Das RCEP harmonisiert darüber hinaus die Ursprungsregeln für gehandelte Güter. Eine Ware, die aus Vormaterialien aus einem der 15 Unterzeichnerstaaten hergestellt wurde, profitiert automatisch von den Zollsenkungen innerhalb der RCEP. Dies wird auch für die EU Konsequenzen haben, die mit mehreren RCEP-Vertragsstaaten (Vietnam, Südkorea, Japan) Freihandelsabkommen hat.

Ökologische, gesundheitliche oder soziale Kriterien berücksichtigt das RCEP in keiner Weise. Solche gibt es allerdings auch nicht in den Abkommen unter US-amerikanischer oder europäischer Ägide – abgesehen von Sozialklauseln wie dem Mindestlohn oder dem Streikrecht, die 2018 in die überarbeitete Fassung des Nordatlantischen Freihandelsabkommens (Nafta) aufgenommen wurden.2 Andererseits sieht das RCEP keinen Mechanismus vor, mit dem multinationale Konzerne gegen Staaten vorgehen können, wenn ihnen bestimmte Vorschriften missfallen. Dem Internationalen Zentrum für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID), das über den nationalen Rechtsordnungen steht, spielt im Rahmen des RCEP keine Rolle.3

In der Regel wird die Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens mit einer Fülle von Versprechungen über Zugewinne bei Wachstum und Beschäftigung verknüpft (die nur selten eingehalten werden). Diesmal üben sich allerdings selbst die liberalsten Wirtschaftsfachleute in Zurückhaltung und rechnen bestenfalls mit einem Wachstum von durchschnittlich 0,2 bis 0,4 Prozent. Schließlich haben die meisten beteiligten Länder bereits Freihandelsabkommen abgeschlossen, insbesondere mit den drei Riesen. Überdies gibt es in der Region massenhaft steuerbefreite Sonderwirtschaftszonen: in Südostasien 700, in China mehr als 2500.4

Die begrenzten Veränderungen, die zu erwarten sind, werden auch nicht für alle Länder gleichermaßen profitabel sein. Denn die Asean bleibt eine bunt zusammengewürfelte Ansammlung von Ländern mit ganz unterschiedlichen Wohlstandsniveaus.

An der Spitze steht Singapur mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 64 567 Dollar und ist damit Welten entfernt von Myanmar mit 1440 Dollar.5 In Brunei leben 78 Prozent der Bevölkerung in Städten; in Kambodscha nur 23 Prozent. Ihre Bedürfnisse und auch die Stellung der Arbeiternehmerschaft sind nicht miteinander vergleichbar. Die multinationalen Konzerne in der Region und im Rest der Welt, die auf der Suche nach neuen Billiglohnländern sind, dürften sich die Hände reiben. Vietnam profitiert schon jetzt von der Verlagerung von Fabriken aus dem benachbarten China. Tokio hat ein Unterstützungsprogramm für japanische Unternehmen aufgelegt, die aus China nach Japan zurückkommen oder in Viet­nam, Myanmar oder Thailand investieren.6 Japan hat eine der am stärksten exportorientierten Volkswirtschaften und ist in Asien der Hauptkapitalgeber: Das Land bestreitet 13,7 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen (IDE), die in die Asean-Staaten fließen (China: 7 Prozent). Durch das RCEP dürfte es zu Verschiebungen innerhalb der Gruppe der Mitgliedstaaten kommen, aber sicher nicht zu einem Umbruch.

Die Hauptbedeutung dieses Abkommens liegt in seiner strategischen Dimension: Es festigt Chinas zentrale geopolitische Rolle. Der erste Anstoß zum RCEP kam denn auch aus Peking und war eine Reaktion auf die Transpazifische Partnerschaft (TPP) von 2016, die der damalige US-Präsident Barack Obama sich ausgedacht hatte, um Chinas Aufstieg Einhalt zu gebieten (und aus dem Donald Trump wieder ausstieg).

Zwar handle es sich um ein „Handelsabkommen auf niedrigem Niveau“, sagt der Singapurer Ex-Diplomat und Politikwissenschaftler Kishore Mahbubani,7 hält es aber für einen „weltgeschichtlichen Wendepunkt, dessen Bedeutung man nicht unterschätzen sollte“. Bislang, meint Mahbubani, „gab es mindestens drei Visionen für mögliche Kooperationen in Asien: die asiatisch-pazifische, die indopazifische und die ostasiatische“. Die RCEP zeige, dass die ostasiatische Vision sich durchsetzen werde. Der asiatisch-pazifischen Variante, für die sich die USA erst im Rahmen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (Apec), dann im Rahmen von TPP starkmachten, habe Präsident Trump den Garaus gemacht. „Und die indopazifische Vision hängt in der Luft, seit Indien sich zurückgezogen hat.“

Chinesische Strafzettel gegen Australien

Die Rückzieher Indiens und der USA sind allerdings nur vorläufig, und China wird nicht lange allein auf dem Thron bleiben. Aber es ist geschützt vor Isolation – was Pekings größte Sorge war. „Die RCEP sichert China den Ausbau seiner wirtschaftlichen Macht“, meint der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Politologe David P. Goldman. Er weist vor allem darauf hin, dass China in der Lage ist, „mit seinem Wirtschaftsmodell Anziehungskraft auf die Länder des Südens auszuüben, über seine Technologie und der Art und Weise, wie es seinen Handel organisiert“.

Das habe nichts mit dem Export seines Politikmodells zu tun, so Goldman. Im Gegenteil: „Die Stärke der chinesischen Herangehensweise weltweit liegt darin, dass es versucht die Wirtschaft nach dem Kapillarprinzip umzugestalten – von unten nach oben, nicht von oben nach unten.“8

Die Länder des Westens spielen eher die politische und militärische Karte. Die USA haben unter Trump den Quadrilateralen Sicherheitsdialog (QSD, auch Quad genannt) wieder in Schwung gebracht, mit dem Japan, Indien, Australien und die USA erklärtermaßen auf die Bildung einer Anti-China-Koalition hinarbeiten. Die Länder des Quad haben die Militärbeziehungen zu den Philippinen und zu Indonesien intensiviert und sich Vietnam und Taiwan angenähert.

Flankiert wurde dies mit mehreren Waffendeals in rascher Folge und einer Vielzahl US-amerikanischer und chinesischer Machtdemonstrationen im Chinesischen Meer9 – mit allen Risiken durch Fehlmanöver und Missverständnisse, die schlimme Folgen haben könnten.

Die Konfrontation gleicht somit einer Erpressung von zwei Seiten: „Kein verlässlicher Schutz ohne Loyalität zu Washington“, sagt die eine Seite; „Kein (oder vielmehr weniger) Handelsverkehr ohne Anerkennung der chinesischen Regeln“, warnt die andere Seite. Jeder Partner wird aufgefordert, sich für eine Seite zu entscheiden oder sich zumindest nicht auf die Gegenseite zu schlagen.

Australien, das sich offen für das US-Lager entschied, indem es eine Untersuchungskommission zum Ursprung des Coronavirus forderte und Hua­wei vom Aufbau des australischen 5G-Netzes ausschloss, bekam von Peking eine Liste mit „14 Beschwerdepunkten“ und der Mahnung: „Wenn Sie sich China zum Feind machen, wird China auch Ihr Feind sein.“10 Eingeführt wurden prompt massive Strafzölle auf Wein, wie schon zuvor auf Kohle, Rindfleisch und Gerste.

Über den Streit wird die Welthandelsorganisation demnächst entscheiden. Die australischen Erzeuger zahlen schon jetzt die Zeche.

Die meisten asiatischen Regierungen verweigern sich indes solchen Großmachtdiskursen. Dass die Nachbarländer angesichts der wachsenden Macht Chinas beunruhigt sind, bedeute nicht, dass sie sich seinem Aufstieg entgegenstellen, sagt Ex-Diplomat Mahbubani. Manche Länder wie Singapur oder Südkorea versprechen sich davon eher ein gewisses Gleichgewicht; alle versuchen, von beiden Giganten respektiert zu werden.

Für Wendy Cutler, Vizepräsidentin des Asia Society Policy Institute in New York, macht der Abschluss des RCEP vor allem eines deutlich: dass „unsere asiatischen Handelspartner genügend Vertrauen zueinander entwickelt haben, um zusammenarbeiten zu können, ohne dass sie auf die USA angewiesen sind“.11 Ob dies dauerhafte geopolitische Folgen haben wird, ist noch nicht absehbar.

Der durch seinen Erfolg gestärkte Xi Jinping gönnt sich unterdessen einen besonderen Luxus: Kurz vor Weihnachten verkündete der chinesische Staatschef, sein Land erwäge, der Neuauflage des Transpazifischen Partnerschaftsabkommens namens TPP-11 beizutreten, für das sich Japan nach dem Ausstieg Trumps starkgemacht hatte.

Das war allerdings eher ein politischer Schachzug ohne konkrete wirtschaftliche Verpflichtungen. Chinas Präsident will sich zum Vorkämpfer des Freihandels aufschwingen – allerdings unter der Voraussetzung, dass der Staat weiter das letzte Wort hat. Ob alle diese Meinung teilen, darf bezweifelt werden.

1 China Daily, Peking, 16. November 2020, und die Seite des japanischen Außenministeriums, Tokio, 15. November 2020.

2 Siehe Lori M. Wallach, „Nafta à la Trump“, LMd, November 2018.

3 Siehe Benoît Bréville und Martine Bulard, „Profit als höchstes Rechtsgut“, LMd, Juni 2014.

4 „World investment report 2019 – Special economic zones“, Unctad, Genf, Juni 2019: www.unctad.org.

5 Alle Zahlen zur Asean entstammen dem „Asean Statistical Yearbook 2019“, Djakarta.

6 „Japan starts paying firms to cut reliance on Chinese factories“, Bloomberg News, 18. Juli 2020.

7 Kishore Mahbubani, „Has China Won?“, New York (Public Affairs) 2020.

8 David P. Goldman, “The State Department’s wrong telegram“, Asia Times, Hongkong, 18. November 2020.

9 Siehe Daniel Schaeffer, „Chine – États-Unis – Mer de Chine du Sud et riverains: En attendant Biden“, Asie21, September 2020: www.asie21.com.

10 Jonathan Kearsley, Eryk Bagshaw und Anthony Galloway, „‚If you make China the enemy, China will be the enemy‘: Beijing’s fresh threat to Australia“, The Sidney Morning Herald, 18. November 2020.

11 Wendy Cutler, „PERG agreement: Another wake-up call for the United States on trade“, Asia Society Policy Institute, New York, 15. November 2020.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Le Monde diplomatique vom 07.01.2021, von Martine Bulard