Wer wen wählt
Trump ist ein Rassist. Trotzdem haben diesmal mehr People of Color für ihn gestimmt als vor vier Jahren – warum?
von Murtaza Hussain
Die Stadt Toronto, eine Hochburg ethnischer Vielfalt, die den Ruf genießt, besonders tolerant zu sein, wählte 2010 einen notorischen Rassisten zum Bürgermeister. Doch anders als erwartet verdankte Rob Ford seinen Wahlsieg nicht einem weißen Backlash gegen Diversity, sondern ausgerechnet den Leuten, die er oft und gern beleidigt hat. Und nicht nur das: Trotz seiner ständigen Pöbeleien oder vielleicht gerade deswegen liebten sie ihn.
Ich wohnte damals in Toronto und wurde Zeuge von Fords Aufstieg. Die Medien waren fassungslos, dass seine größten Fans aus den migrantischen Arbeitervierteln kamen, wo er als Volksheld galt. Viele meiner Freunde wählten ihn. Noch heute erinnern sich einige ans gemeinsame Kiffen mit dem Bürgermeister, wenn sie ihm an der Tankstelle oder vor dem Diner zufällig in die Arme gelaufen waren. Sein Amt führte er zwar mehr schlecht als recht aus, aber als personifizierter Stinkefinger gegen das arrogante, heuchlerische und selbstzufriedene Establishment kam er gut an.
Als am 3. November die ersten exit polls eintrudelten, musste ich wieder an Ford denken. Später bestätigte sich: 2020 unterstützten mehr nichtweiße Wähler den Kandidaten Trump als 2016 – trotz seines in den vergangen vier Jahren unverblümt zur Schau gestellten Rassismus.
Die in der New York Times veröffentlichten Daten von Edison Research zeigen auch, dass Trump nicht nur einen – wenn auch nur kleinen – Zuwachs unter den Latinos und Afroamerikanern verzeichnen konnte, sondern dass auch rund ein Drittel der sinoamerikanischen Wählerschaft für ihn gestimmt hat. Damit dürfte die Annahme widerlegt sein, seine Politik würde nur eine ganz spezifische Gruppe weißer Nationalisten ansprechen.
Joe Biden gewann zwar wie üblich bei den Demokraten eine satte Mehrheit unter den People of Color (PoC), und besonders in so wichtigen Städten wie Philadelphia, Milwaukee, Atlanta und Phoenix haben die PoC-Stimmen entscheidend zu seinem Wahlsieg beigetragen. Dennoch fragt man sich, wie es dieser unverhohlene Rassist Trump geschafft hat, seinen Rückhalt unter Afroamerikanern, Latinos und anderen nichtweißen Wählern auszubauen.
Ein Grund könnte sein, dass Trump nicht ihrer Definition von Rassismus entspricht, die sich nach sozialen Schichten unterscheidet und schwer einzuordnen ist, wenn man die Codes und Anspielungen nicht kennt. Denn selbst wenn Trump offensichtlich rassistische Behauptungen über Einwanderung oder Kriminalität aufstellt, haben People of Color nicht unbedingt das Gefühl, dass sie selbst damit gemeint sind. Wenn er seine Anhänger trifft, umarmt Trump beispielsweise gern auch Schwarze oder Latinos, solange sie einem bestimmten Bild von Erfolg und konservativen Denkmustern zu entsprechen scheinen.
Außerdem sind ethnische Kategorien sehr komplex. Klar nach ethnischer Zugehörigkeit definierte Wählergruppen gibt es sowieso nicht. Es wäre schon ein Fortschritt, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass Einwanderer oder People of Color einen einheitlichen politischen Block bilden. So hat Trump in Florida bekanntlich stark von der Unterstützung durch Exilkubaner profitiert, einer Gruppe, die als Latinos eingeordnet wird, die sich selbst aber meist als weiß bezeichnet und für die eine antisozialistische Politik wichtiger ist als alles andere.
Liberale Politiker wiederum haben Rassismusvorwürfe immer gern dazu benutzt, sich als die wahren Freunde der PoC darzustellen, und gehen wie selbstverständlich davon aus, sie hätten sich die Unterstützung dieser Bevölkerungsgruppen verdient. Das funktioniert jedoch nicht immer.
Viele People of Color sind enttäuscht von dem sogenannten Establishment, das nichts für sie tut und ihnen überdies nur mit Herablassung begegnet – was die rechten Medien ihnen auch unablässig vorbeten. Allein erleben zu dürfen, wie das Establishment die Fassung verliert, ist offenbar für viele schon Grund genug, einem Außenseiter wie Trump ihre Stimme zu geben.
Weiße bestimmen, was rassistisch ist
Wie Rob Ford bedient Donald Trump fast jedes rassistische Klischee. Sein Verhalten stößt aber vor allem jene weißen Bildungsbürger ab, die sich in einem politischen und kulturellen Existenzkampf mit den Leuten ohne College-Abschluss wähnen. Bei den nichtweißen Wählern hat es ihm offenbar kaum geschadet.
„Die Wahrnehmung von Trump als Rassist ist ein wesentlicher Impuls, der die Weißen zu den Demokraten treibt. Warum lässt sich bei Wählern aus Minderheitsgruppen, also genau den Leuten, gegen die der Präsident rassistisch eingestellt ist, das Umgekehrte beobachten?“, fragte Musa al-Gharbi, Soziologe an der Columbia University, kurz vor der Wahl.1
„Womöglich begreifen viele dieser Wähler seine umstrittenen Kommentare und politischen Entscheidungen oft gar nicht als rassistisch“, meint al-Gharbi. „Wenn Forscher herausfinden wollen, ob etwas rassistisch ist, achten sie allzu oft ausschließlich darauf, ob die von ihnen selbst als anstößig empfundene Rhetorik oder Politik bei Weißen Anklang finden. Häufig machen sie sich nicht einmal die Mühe, zu prüfen, ob dadurch vielleicht auch Minderheiten angesprochen werden.“
In der Tat findet die konservative Rhetorik zu Themen wie Einwanderung, Polizeiarbeit und Kriminalität bei Afroamerikanern und Latinos oft mindestens ebenso viel Anklang wie bei konservativen weißen Wählern. Beide Gruppen ebenso wie ein beträchtlicher Teil der Asian Americans sind bei bestimmten Themen, insbesondere religiösen, konservativer eingestellt als die progressiven weißen Wähler, die den größten Teil der demokratischen Wählerschaft ausmachen.
Das hat zwar nicht dazu geführt, dass diese Gruppen mehrheitlich die Republikanische Partei unterstützen – noch nicht. Aber für die Demokraten ist es eine deutliche Warnung, die Zustimmung der nichtweißen Wählerschaft nicht als gegeben zu betrachten.
Laut al-Gharbi machen es sich die liberalen Trump-Gegner aus der Upperclass auch zu einfach, indem sie sich selbst stets als diejenigen definieren, die People of Color gegen Rassismus verteidigen. Dass einige Liberale das Thema möglicherweise benutzen, um sich nicht der Klassenfrage zu stellen, sei nur ein Teil des Problems.
„Weiße Eliten, die eine überproportional große Rolle bei der Definition von Rassismus in der Wissenschaft, den Medien und der Kultur spielen, definieren ‚Rassismus‘ offenbar so, wie es am besten zu ihren eigenen Einstellungen passt.“2 Anstatt die Dominanz der Weißen zu mindern oder People of Color gezielt zu stärken, liefen die Bemühungen oft nur darauf hinaus, das soziale und kulturelle Kapital in den Händen der „guten“ Weißen zu konzentrieren.
Bei Wahlen ist das Bild aus mehreren Gründen weniger eindeutig. So kommen die Rassismusvorwürfe gegen Trump nicht nur aus der gebildeten weißen Oberschicht. Auch unter den Aktivistinnen, Politikern oder ganz normalen Demonstranten gibt es viele People of Color, die gegen Trump sind und weder reich noch gebildet. Dennoch spricht einiges für al-Gharbis Kritik.
Für Politiker der Demokratischen Partei, die zumeist selbstbewusst mit diesem Thema umgehen, ist es natürlich sinnvoll, eine Definition von Rassismus zu verbreiten, die ihnen einen Vorteil gegenüber den Republikanern verschafft. Das dürfte zumindest zum Teil die vielen Neologismen erklären, wenn es um Angelegenheit geht, die People of Color direkt betreffen, auch wenn diese das nicht immer genauso sehen.3
Wenn aber nur Weiße darüber bestimmen, was rassistisch ist und was nicht, entmündigen sie die eigentlich Betroffenen, die existenziell darauf angewiesen sind, Rassismus zu entlarven, um ihre Rechte und ihre Würde zu verteidigen. Deshalb darf ein so ernstes Thema nicht für politische Abrechnungen missbraucht werden.
Die Motive nichtweißer Wähler, die für Trump stimmten, sind im Einzelnen schwer zu ermitteln. Es ist zum Beispiel denkbar, dass dessen Auftreten als „starker Mann“ bei Männern Anklang fand, für die das Geschlecht ein wichtigeres Kriterium ist als die Herkunft. Doch die Demokraten hätten zweifellos gute Chancen, solche kulturalistischen Faktoren zu kontern, wenn sie mit ihrer Politik einfach dazu beitragen würden, die Lebensumstände der Menschen zu verbessern.
Mit ihrer dürftigen Symbolpolitik helfen die Demokraten aber den Minderheiten kaum. Viele von ihnen werden sich damit nicht auf Dauer abspeisen lassen. Maßnahmen wie ein Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde und eine Krankenversicherung für alle würden die Ungleichheiten hingegen spürbar verringern und auch die weiße Arbeiterklasse ansprechen.
Seit zu vielen Jahren schrecken die Demokraten jedoch vor einer mutigen Sozialpolitik zurück. Sie mögen diesmal noch knapp an der Katastrophe vorbeigeschrammt sein, aber sie sollten sich einmal vor Augen führen, wo sie jetzt wären, wenn ihr Kandidat nicht gegen einen derart inkompetenten Gegner angetreten wäre.
All das bedeutet nicht, dass die Demokraten die Themen und Werte, von denen sie glauben, dass sie sie als Partei definieren, über Bord werfen sollten. Der Kampf gegen rassistisch motivierte Diskriminierung ist richtig und sollte keinesfalls aufgegeben werden. Trump ist meiner Meinung nach in der Tat ein Rassist. Das beweisen nicht nur seine Worte, sondern auch die Härte und Gleichgültigkeit, mit der er nichtweißen Menschen oft begegnet. Menschen, die selbst rassistische Diskriminierung erlebt haben und diese Tatsache dennoch ignorieren, machen einen großen Fehler.
Heute würde es schon helfen, die eigene Haltung zur Frage der Gleichberechtigung aller ethnischen Gruppen zu demokratisieren – als Gegenentwurf zu manchen liberalen Eliten, die versuchen, Antirassismus für ihre eigenen Ziele zu politisieren. Und es würde den Konflikt mit Sicherheit entschärfen, wenn der Rassismus wie ein Fehler behandelt wird, der korrigiert werden kann, und nicht wie ein moralisches Etikett.
Als Rob Ford 2016 starb, zogen tausende Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen durch die Straßen und trauerten um diesen inkompetenten, vulgären und drogensüchtigen Politiker, dessen Rassismus hinreichend dokumentiert ist. Doch Ford war letztlich nur der Bürgermeister einer Stadt. Trump hingegen wurde in das mächtigste Amt der Welt gewählt – zum Präsidenten eines Landes, in dem Millionen Menschen, darunter nicht wenige Angehörige von Minderheiten, nach einem starken Mann verlangen.
Trotz Trumps Niederlage ist das liberale Establishment geschwächter denn je. Aber es besteht immer noch die Chance, Klarheit über die anstehenden Probleme zu gewinnen und angesichts der gewaltigen Herausforderungen eine Politik in die Wege zu leiten, von der eine Mehrheit der US-Amerikanerinnen profitieren würde.
2 Musa al-Gharbi, „Who Gets to Define What’s Racist?“, in: Contexts, 15. Mai 2020: contexts.org
Aus dem Englischen von Nicola Liebert
Murtaza Hussain ist Journalist bei The Intercept. Dieser Text erschien zuerst auf The Intercept am 6. November 2020.
© FLM/The Intercept. Für die deutsche Übersetzung LMd Berlin.