Die Königin als Schwamm
Corona-Fiasko, Brexit-Chaos, Unabhängigkeitsbestrebungen von Schottland bis Wales: Großbritannien war noch nie so gebeutelt. Nur die Familie im Buckingham-Palast scheint dem Land so etwas wie Stabilität zu geben. Dafür muss sie gar nichts tun, sie muss einfach nur da sein.
von Lucie Elven
Während in Großbritannien die Ungleichheit zunimmt, scheint die Monarchie unangefochten und ist populär wie eh und je: Nach wie vor finden zwei von drei Briten, dass das Land nicht auf sie verzichten kann. Nur 22 Prozent würden sie gern abschaffen. Dieser Meinung ist man insbesondere in Schottland.
Es ist und bleibt ein Widerspruch: In harten Zeiten wird das Königshaus zum Fluchtpunkt der Nation. Wenn die Royals in den letzten Jahren Hochzeit feierten und die Fernsehreporter ihre Mikros in die Menge hielten, sagten die Leute, so ein wenig gute Stimmung könnte die Nation gut gebrauchen.
Auf den Reisen durch ihr Land trägt Königin Elisabeth II. leuchtende Kleider in Pink, Zaubererlila oder Chartreuse. 30 Prozent der Bevölkerung behaupten, sie schon gesehen oder getroffen zu haben. Die Menschen aufzuheitern, auf ihre forsche und wohldosierte Art, gehört für die Queen zu ihrem Job. „Es ist schön, sich als eine Art Schwamm zu fühlen“, sagte sie 1992 in der BBC-Dokumentation „Elizabeth R“ über ihre Aufgaben.1 Die Schwamm-Metapher passt gut zu ihrem unprätentiösen Image. In der britischen Vogue schrieb die Schriftstellerin Zadie Smith einmal, dass „Mrs. Windsor“ gerade wegen ihrer Vorlieben, die sie mit der „Lower middle class“ teile, so beliebt sei. Wie ihre Fans aus der unteren Mittelschicht mag sie Corgis, hat das Sportwettenblatt Racing Post abonniert und lässt sich seit 1986 keine Folge der Fernsehserie „EastEnders“ (über Leute im Londoner East End) entgehen.
Ehrungen gehören zu den wenigen königlichen Befugnissen, die ihr geblieben sind. Seit der Glorreichen Revolution von 1688 wird von den Monarchen erwartet, dass sie sich aus der Politik heraushalten: „Konsultiert zu werden, zu ermutigen und zu warnen“, das seien ihre Rechte, schrieb 1867 der Chefredakteur des Economist Walter Bagehot in seinem Werk „The English Constitution“. So wird jedes Anliegen, dessen sich die Royals annehmen, als unpolitisch betrachtet, auch wenn es hochpolitisch ist.
Sobald sich Prinz William für typische Millennial-Themen wie Mentaltraining oder den Klimaschutz interessiert oder Prinz Harry im Oktober 2020, inzwischen als Zivilperson, erklärt, die Black-Lives-Matter-Bewegung habe ihn „wachgerüttelt“, werden selbst Themen wie der strukturelle Rassismus der britischen Gesellschaft zum unumstrittenen Mainstream und fallen in die gleiche Kategorie wie die Krebsforschung oder das Rote Kreuz. Die älteren Royals rümpften zwar die Nase, als Lady Di am 9. April 1987 im Londoner Middlesex Hospital vor laufender Kamera schwulen Aidspatienten die Hand gab, doch diese einfache Geste hatte eine bahnbrechende Wirkung und trug zur Normalisierung im Umgang mit der Krankheit bei.
Hinzu kommt, dass die Königsfamilie als Institution immer wieder für politisch motivierte Kulturkämpfe benutzt wird. So wurde Boris Johnson beschuldigt, er habe die Königin „belogen“,2 als er sie im Brexit-Streit dazu aufforderte, das Parlament in die Zwangspause zu schicken, um die eigene Position zu stärken. Und als Jeremy Corbyn noch Labour-Chef war, ging es ständig um seine mangelnde Ehrerbietung gegenüber der Monarchin. Seine Weigerung, vor ihr den Kopf zu neigen, „God save the Queen“ zu singen oder zu Weihnachten ihre Fernsehansprache anzuschauen, wurde ihm als Mangel an Patriotismus angekreidet.
Dass die Royals seltsamerweise gegen jede Übernahme von Verantwortung immun sind, ist ebenfalls eine politische Angelegenheit – so machte sich Boris Johnson nur darüber lustig, als die US-Behörden im Missbrauchsfall Epstein um Amtshilfe baten, weil auch der Sohn der Queen, Prinz Andrew, ins Visier der Ermittlungen geraten war.
Ein königlicher Cousin namens Adolf
Die patriotische Erzählung Großbritanniens von der kleinen Insel, die den Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Stirn bot, ist jedoch durch die Beziehungen zwischen den Royals und den deutschen Nationalsozialisten überschattet, die mehr als nur der gemeinsame Glaube an die Hierarchie des Blutes verband. Prinz Philips Schwestern, die in Deutschland lebten, waren überzeugte Nazis, eine taufte ihr Kind sogar Adolf.
Und Elizabeth’ Onkel Edward VIII. ließ sich, nachdem er abgedankt hatte, um die geschiedene US-Amerikanerin Wallis Simpson heiraten zu können, 1937 nach Deutschland einladen und besichtigte mit Hitler höchstpersönlich eine Munitionsfabrik. Aufnahmen zeigen ihn im schottischen Schloss Balmoral, einer der edelsten Residenzen des Königshauses, wie er seinen Nichten den Hitlergruß beibringt. Später wollte er von den Bahamas aus die USA überzeugen, dass sie im Krieg neutral bleiben sollten. Und der Cousin von Elizabeth’ Vater, der Herzog von Sachsen-Coburg, erschien in SA-Uniform zum Begräbnis des englischen Königs.3
Die Monarchin mit der längsten Amtszeit in der Geschichte Großbritanniens verkörpert Zeitlosigkeit – trotz Brexit, Punk und langsamem Zerfall des Empires. Sie ist nur älter geworden und trägt heute statt eines echten einen falschen Pelz. Beim ersten Lockdown im März hielt sie mit unbewegter Miene eine Rede, die die Erinnerung an Vera Lynns Song aus dem Zweiten Weltkrieg „We’ll meet again“ wachrief.
Monarchisten liegen viel Wert auf Kontinuität. In seinem Werk „Betrachtungen über die Französische Revolution“ von 1790 verglich der Schriftsteller Edmund Burke die französische revolutionäre „Sekte“ mit der Gesinnung seiner Landsleute: „Da dergleichen Kabalen in England nie vorhanden gewesen sind, so konnte auch ihr Geist weder an der Bildung unserer Konstitution noch an ihren nachmaligen Veränderungen Anteil haben.“4 Nur blendete er dabei komplett die politischen Unruhen des vorangegangenen Jahrhunderts aus, die am 30. Januar 1649 in der Hinrichtung von König Charles I. gipfelten. „Wir sind entschlossen, die Verfassung unserer Kirche, die Verfassung unserer Monarchie, die Verfassung unserer Aristokratie, die Verfassung unserer Demokratie, gerade in dem Verhältnis, in welchem sie diesen Augenblick existieren, und in keinem andern beizubehalten“, schrieb der konservative Burke, der nicht zufällig von Metternichs späterem Berater Friedrich Gentz ins Deutsche übersetzt wurde.
Ein Beispiel dafür ist das königliche Privileg, das inzwischen auf die Exekutive übergegangen ist und es ihr erlaubt, in einem Graubereich ohne Zustimmung des Parlaments zu agieren. Versuche, diese Gesetze unter New Labour zu reformieren, scheiterten 2009 unter Premier Gordon Brown: „Unsere Verfassung hat sich über viele Jahrhunderte hinweg organisch entwickelt, und Veränderungen sollten nicht um der Veränderungen willen vorgeschlagen werden.“5
Der Historiker David Cannadine erklärte den Versuch, Kontinuität mithilfe von Ritualen herzustellen, die ins 19. Jahrhundert zurückreichen, hingegen für „weitgehend illusorisch“.6 Die extravaganteren Traditionen seien eigens erfunden worden, um die schwindende Macht der königlichen Familie zu kompensieren, die gezwungen war, das Empire aufzugeben. Falls er recht hat, könnten bald noch spektakulärere Traditionen erforderlich sein.
Prinz Charles, der Petitionen an die Regierung richtet, in denen es um Architektur, Klimawandel und soziale Benachteiligung geht, fehlt die Beherrschtheit seiner Mutter, die viel angesehener ist als ihr ältester Sohn. Mit Elizabeth II. könnte die Monarchie sterben. Verschwörungsfantasien, wonach sie bereits tot sei, werden als Memes auf Twitter und Reddit reproduziert – die moderne Version der gruseligen Besessenheit der Briten, den Körper ihres Monarchen mit dem Staat zu identifizieren, sei er auch syphilitisch (Heinrich XVIII.), jungfräulich (Elisabeth I.) oder gichtgeplagt (Königin Anne). „Heutzutage köpfen wir königliche Damen nicht, aber wir opfern sie“, schrieb die Autorin Hilary Mantel über die Obsession der Presse für die physische Erscheinung von Williams Ehefrau Kate.7
Auch auf internationaler Bühne verliert die Monarchie an Glanz. Manche wollten nach Elizabeth’ Ableben ein Rotationsprinzip für die Führung des Commonwealth einführen, andere verlangten nach einer staatsmännischen Persönlichkeit, bis es der Königin gelang, ihren Sohn als Nachfolger durchzusetzen. Die Liste der Länder, die eines Tages ihr Konterfei auf ihren Zahlungsmitteln werden ersetzen müssen, wird immer kürzer. Mittlerweile sind 31 der 54 Commonwealth-Staaten Republiken. Erst im September stimmte Barbados dafür, die Königin von ihrem Posten als Staatsoberhaupt abzusetzen. Australien hielt darüber 1999 ein Referendum ab, und die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern hat das auch schon vorgeschlagen. 44 Prozent der Kanadier sind dafür, der britischen Monarchie den Laufpass zu geben, 29 Prozent wollen sie behalten.
Doch was ihren Einfluss betrifft, so hat sich die „Firma“, wie Prinz Philip die königliche Familie zu nennen pflegt, längst den modernen Zeiten angepasst. Die Marke Windsor ist eine der stärksten der Welt. Mit ihrem Umzug nach Los Angeles haben Harry und Meghan ihren königlichen Status zum Label gemacht: „Sussex Royal“ vom Anorak bis zum Mentoring-Programm.
Wurden die Royals schon im 20. Jahrhundert zu Promis, ist die Familie heute gespalten: Während der eine Teil der Familie der Versuchung der sozialen Medien unterliegt und jede noch so banale Information twittert, besteht der andere auf Geheimhaltung, was den Windsors immer noch eine gewisse Macht verleiht. Elizabeth II. hat noch nie ein Presseinterview gegeben, und die königliche Familie ist die einzige öffentliche Institution, die vom Gesetz zur Informationsfreiheit (Freedom of Information Act) befreit ist, das Großbritannien im Jahr 2000 ratifiziert hat.
Beim Tod von Prinzessin Diana 1997 war mit der Geheimnistuerei vorübergehend Schluss. Als der Buckingham-Palast nicht halbmast flaggte, war die öffentliche Empörung so groß, dass die Königin schließlich nachgab und Gefühle zeigte. Zum ersten Mal in 38 Jahren sprach sie live im Fernsehen: „Was ich Ihnen jetzt als Ihre Königin und als Großmutter sage, sage ich von Herzen“, sprach sie, wobei sie leicht schaukelte und die Worte aufsagte, die ihr Tony Blairs Spindoktor Alastair Campbell vorgegeben hatte, um persönlicher rüberzukommen.8
So lenken die kleinen und großen Familiendramen der Windsors immer wieder vom Status dieses Haushalts ab, der sich in einem demokratischen Defizit eingegraben hat. Die Royals stehen an der Spitze einer Kultur, in der die Klassencodes, vom Butler bis zur Sprachetikette, zu nationalen Eigenheiten geworden sind. In der „Heritage“-Industrie der Windsors sind mehr Menschen beschäftigt als in Bergbau und Fischereiindustrie zusammen. Und Schauspielerinnen und Schauspieler, die in Filmen wie „The King’s Speech“, „The Queen“ oder zuletzt der Netflix-Serie „The Crown“ Royals mimen, werden mit prestigeträchtigen Auszeichnungen überhäuft – als ob deren Darstellung eine größere Herausforderung sei als jede andere Rolle.
Die königliche Familie kostet den britischen Staat jährlich nicht nur 67 Millionen Pfund, sie vermeidet auch durch diverse Ausnahmeregelungen und Offshoring-Steuern in großem Stil. Dass Großbritannien einen aristokratischen Clan dermaßen feiert, macht London für andere Steuerflüchtlinge zu einer noch attraktiveren Adresse und treibt dadurch die Immobilienpreise und Mieten noch mehr in die Höhe. Formal gehört der Königin ein Sechstel der Landfläche der Erde. Als das britische Parlament am 14. Oktober über Offshore-Windparks debattierte, bezeichnete Premier Johnson das Crown Estate als den „Grundherrn des Meeresbodens“.
In Großbritannien droht derzeit 55 000 Haushalten die Obdachlosigkeit, seit der von der britischen Regierung angeordnete Stopp von Zwangsräumungen als Reaktion auf die Coronakrise Ende September aufgehoben wurde. In derselben Woche wurde publik, dass in diesen schwierigen Zeiten das Crown Estate für die Verluste, die es mit seinen Mietobjekten in der Londoner Regent Street gemacht hat, mit Steuergeldern entschädigt werden soll.9
Die Verhältnisse mögen sich in den letzten Jahren mit den Debatten über Großbritanniens Souveränität – den Brexit, das schottische Unabhängigkeitsstreben – noch so sehr verändert haben, die Monarchie ficht das nicht an.
1 Siehe auf Youtube „Elizabeth R“, BBC, 1992.
3 Adam J. Sacks, „The fascist sympathies of Britain’s aristocracy“, Tribune, Oktober 2020.
4 Edmund Burke, „Betrachtungen über die französische Revolution“, Berlin (Vieweg) 1793.
7 Hillary Mantel, „Royal bodies“, London Review of Books, 2013, Bd.35, Nr. 4.
Aus dem Englischen von Oliver Pohlisch
Lucie Elven ist Autorin und Webmanagerin der englischsprachigen Ausgabe von LMd, London.