Das Kosovo-Tribunal
Erste Anklagen gegen ehemalige UÇK-Kommandanten in Den Haag
von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin
Am 5. November 2020 trat Hashim Thaçi, Präsident des Kosovo, mit aufgelöster Miene vor die Presse, um seinen Rücktritt zu verkünden: Das Kosovo-Sondertribunal, ansässig beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag, habe die Anklage gegen ihn bestätigt. Der ehemalige Sprecher und spätere Oberkommandierende der Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) wird wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während und unmittelbar nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1998 bis 1999 vor Gericht gestellt.
Wenige Stunden zuvor hatte auch Kadri Veseli, Chef der Demokratischen Partei des Kosovo (PDK) und ehemaliger Leiter des früheren Nachrichtendienstes des Kosovo (SHIK), die Anklage gegen seine Person bestätigt, ebenso wie der Abgeordnete Rexhep Selimi. Bereits am Vorabend war der frühere UÇK-Sprecher und spätere Parlamentspräsident (2007–2014) Jakup Krasniqi in Prishtina verhaftet worden.
Nach der Veröffentlichung der Anklageschrift am 24. Juni 2020 musste Thaçi bereits ein Treffen mit seinem serbischen Amtskollegen Aleksandar Vučić in Washington absagen. Die vier Politiker, die das Büro des Chefanklägers verhaften und zur Untersuchungshaft in die Niederlande überstellen ließ, müssen sich nun wegen bandenmäßig begangener Verbrechen wie Verfolgung, willkürliche Verhaftungen, Folter und Mord verantworten.
Der Sondergerichtshof (Kosovo Specialist Chambers and Specialist Prosecutor’s Office) wird hauptsächlich von der EU finanziert und ist mit der Verfolgung von Kriegsverbrechen in der ehemaligen serbischen Provinz zwischen dem 1. Januar 1998 und dem 31. Dezember 2000 betraut. Er gehört offiziell zum Justizsystem des Kosovo, sitzt aber in Den Haag, und seine Richter stammen aus dem Ausland.
Seit Sommer 2019 wurden hier mehrere Dutzend ehemalige Guerillakämpfer angehört, teils als Verdächtige, teils als Zeugen. Als erster Angeklagter musste am 28. September 2020 Salih Mustafa vor Gericht erscheinen. Der einstige UÇK-Kommandeur in der Region Llap im Nordosten des Kosovo, wird beschuldigt für Morde, unmenschliche Behandlung, Folter und willkürliche Verhaftungen verantwortlich zu sein; die Opfer waren Serben, Roma und Albaner.1
Die Einrichtung des Kosovo-Tribunals war eine direkte Reaktion auf einen Bericht des Schweizer Abgeordneten Dick Marty, der im Januar 2011 von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats angenommen wurde.2 Marty, der bereits für seine Ermittlungen zu den Geheimgefängnissen der CIA bekannt war, hatte die außergerichtliche Verhaftung von mehreren hundert serbischen und Roma-Zivilisten untersucht, die offenbar nach Albanien deportiert worden waren, um sie dort verschwinden zu lassen.
Marty deckte auch illegale Verhaftungen, Folter und Ermordungen von Albanern auf, die der UÇK als politische Gegner galten. Dabei handelte es sich vor allem um Mitglieder der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK), der Partei des prominenten Widerstandsführers und späteren Präsidenten Ibrahim Rugova. Diese Verbrechen wurden zum Teil während des Kriegs begangen, zum Teil aber auch später, nachdem Kosovo 1999 unter UN-Verwaltung gestellt und über 40 000 Nato-Soldaten dort stationiert worden waren.3
Vor dem Marty-Bericht hatten bereits die Interimsverwaltungsmission der Vereinten Nationen im Kosovo (Unmik) und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) festgestellt, dass Gefangene unmenschliche und erniedrigende Behandlung erfahren hatten und man Opfer verschwinden lassen hatte.4 Auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (TPIY) hatte zu möglichen Kriegsverbrechen der UÇK ermittelt. Carla del Ponte, TPIY-Chefanklägerin zwischen 1999 und 2007, berichtete später, sie sei an der Fortführung ihrer Ermittlungen gehindert und Beweisstücke seien absichtlich vernichtet worden.5
Die Anschuldigungen des Marty-Berichts wurden im Juli 2014 von John Clint Williamson bestätigt, einem amerikanischen Diplomaten, den die EU als unabhängigen Ermittler eingesetzt hatte. Allerdings bedurfte es starken Drucks aus Brüssel und Washington, damit das kosovarische Parlament 2015 durch einen Verfassungszusatz die Einrichtung des Sondertribunals ermöglichte.
In seinem Bericht hatte Marty auch auf einen möglichen Handel mit Organen serbischer Gefangener für Transplantationen im Ausland hingewiesen. Diese Anschuldigung sorgte für große mediale Aufmerksamkeit und provozierte eine Welle der Entrüstung, ganz so, als könne die UÇK unmöglich derartige Verbrechen begangen haben: Florence Hartmann, die frühere Sprecherin von Carla del Ponte, bezeichnete die Vorwürfe als „unverantwortlich“ und sprach sogar von „Revisionismus“, offenbar wolle man die Verbrechen der serbischen Armee mit dem Verweis auf andere Übergriffe „relativieren“.6
Allerdings könnte der vermutete Organhandel tatsächlich nur die Spitze des Eisbergs sein, denn er ist nur ein Vorwurf unter vielen. Der Marty-Bericht beleuchtet nämlich vor allem, wie eine kleine Gruppe von Guerillakämpfern, die zumeist aus der Region Drenica in Zentralkosovo stammten, das Monopol des bewaffneten Kampfs gegen die serbische Regierung für sich beanspruchte. Die Mitglieder dieser Gruppe waren häufig familiär verbunden und zögerten nicht, potenzielle Rivalen auszuschalten, um an die Macht und die staatlichen Pfründen zu kommen.
Mord, Folter, Organhandel
Die aus der UÇK hervorgegangene Demokratische Partei des Kosovo (PDK) konnte sich auf die geheimen Netzwerke des SHIK stützen, der noch lange nach Kriegsende weiter aktiv blieb, aber auch auf die Veteranen – deren Zahl nach Friedensschluss exponentiell in die Höhe schoss. Als ehemaliger Kämpfer hatte man Anrecht auf verschiedene soziale Vergünstigungen, und dieser Status wurde – als Instrument der Klientelpolitik – eher für politische Treue als für das Ausharren im Untergrund vergeben.
Die internationale Verwaltung im Kosovo war lange von der Angst gelähmt, einen Konflikt mit dieser mächtigen Interessengruppe heraufzubeschwören, die bei jeder Verhaftung eines ehemaligen Guerillaführers auf die Barrikaden ging. Das war auch den Richtern des Sondertribunals bewusst: Unmittelbar nach der Verhaftung von Sali Mustafa ließen sie zwei Führer der Organisation der UÇK-Veteranen, Hysni Gucati und Nasim Haradinaj, wegen Justizbeleidigung, Einschüchterung von Zeugen und Verbreitung geheimer Ermittlungsunterlagen festnehmen.
Seit dem Ende des Konflikts wird überall in Kosovo an den „Vaterländischen Krieg“ erinnert. Nach dieser Heldenerzählung sind Kriegsverbrechen allein auf der Seite der serbischen Regierung unter Slobodan Milošević zu suchen. Die Kämpfer der UÇK waren demnach die „Bodentruppen“ der Nato, die sich im März 1999 zum Eingreifen entschlossen hatte, während Rugova sich zwar um das Land gesorgt hätte, aber wegen der Übermacht der serbischen Armee in Prishtina nicht habe intervenieren können.
Diese nationale Erzählung vermag jedoch immer weniger Menschen zu überzeugen. Zum einen macht die Aufdeckung der Verbrechen gegen die Mitglieder von Rugovas LDK die Fiktion der politischen Einigkeit der Kosovo-Albaner zunichte. Zum anderen bieten die Geschichten von den Heldentaten im Untergrund keine ausreichende Rechtfertigung mehr dafür, dass die früheren Guerilleros das Land ausplündern – häufig sogar mit aktiver Unterstützung von internationalen, vor Ort stationierten Beamten, die gewalttätige Auseinandersetzungen fürchten.7
Das Jugoslawien-Tribunal hatte Urteile gegen einige hochrangige serbische Täter gesprochen: Der frühere Vizepremier Nikola Šainović und der ehemalige stellvertretende Innenminister Vlastimir Đorđević wurden 2009 beziehungsweise 2014 zu je 18 Jahren Haft verurteilt. Doch obwohl das Tribunal mehrere ehemalige UÇK-Kommandanten angeklagt hatte, kam keiner von ihnen vor Gericht – mit Ausnahme von Haradin Bala, der 2005 für seine im Sommer 1998 im Lager Llapushnik/Lapušnik begangenen Verbrechen für 13 Jahre ins Gefängnis wanderte.
Sein Vorgesetzter Fatmir Limaj wurde 2003 verhaftet, aber zwei Jahre später freigesprochen. Er kehrte als Märtyrer zurück in den Kosovo, wo er sogleich eine politische Karriere startete. Die Rechtsstaatlichkeitsmission der EU im Kosovo (Eulex) eröffnete gegen ihn zwar ein neues Verfahren wegen der Ermordung von sieben serbischen Gefangenen und eines Albaners im Dorf Kleçkë/Klečka. Doch im Mai 2012 wurde er erneut freigesprochen.
Der Schutz der Zeugen ist nach wie vor die größte Herausforderung, wie der Fall von Ramush Haradinaj zeigt. Der charismatische frühere UÇK-Kommandant im Westkosovo, der später zum Premierminister aufsteigen sollte, wurde im März 2005 angeklagt und begab sich sofort nach Den Haag, wo er jedoch am 3. April 2008 freigesprochen wurde.
Dieses Urteil wurde im Juli 2010 von der Berufungskammer des Jugoslawien-Tribunals widerrufen, die außerdem Untersuchungshaft für Haradinaj anordnete, weil man ihn der Einschüchterung von Zeugen verdächtigte. Wenige Wochen nach der Eröffnung des ersten Prozesses im Februar 2007 war einer der Kronzeugen, der kosovarische Rom Kujtim Berisha, von einem Auto überfahren worden. Im November 2012 wurde Haradinaj erneut freigesprochen.
Nicht nur die Zeugen, auch ihre Familien werden bedroht, erpresst oder körperlich angegriffen – mit dem Ergebnis, dass sich viele Zeugen weigern, vor Gericht zu erscheinen, oder dort ihre Aussage zurückziehen. Agim Zogaj etwa sollte im Prozess der Eulex-Mission gegen Fatmir Limaj aussagen, den Leiter des Geheimgefängnisses von Kleçkë/Klečka. Mutmaßlich auf Befehl Limajs sollen dort 1998 und 1999 mehrere albanische und serbische Zivilisten gefoltert und ermordet worden sein.
Am 27. September 2011 fand man Zogaj erhängt in einem Park in Duisburg. Der Verdacht des Suizids wurde zwar nie offiziell ausgeräumt, aber Zogajs Familie berichtete von heftigen Drohungen, denen er ausgesetzt war. Seine schriftliche Zeugenaussage, die Limaj belastete, wurde von den Richtern nicht berücksichtigt.
Wenige Wochen nach Dick Marty präsentierte der monegassische Abgeordnete Jean-Charles Gardetto vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats einen Bericht zum dringend notwendigen Zeugenschutz.8 Dieser sei in einem kleinen Land wie dem Kosovo „besonders schwierig“, erklärte er uns damals, denn dort kenne jeder jeden. Es reiche daher nicht aus, die Zeugen in andere Dörfer oder Regionen umzusiedeln.9
Die Einrichtung des Kosovo-Sondertribunals hat lange auf sich warten lassen, so wurden Zweifel geschürt. Würde das Gericht tatsächlich die Hauptverantwortlichen anklagen oder nur Befehlsempfänger aburteilen? Die ersten Anklageschriften machen Hoffnung. Aber wird das Gericht auch durchsetzen können, dass die dringende Notwendigkeit einer Übergangsjustiz allgemein anerkannt wird? Das Jugoslawien-Tribunal zumindest ist an dieser Herausforderung gescheitert.
Negoman Marić, Vertreter des Vereins der Angehörigen der serbischen Verschwundenen von Rahovec/Orahovac, hat jedes Vertrauen in die Justiz verloren. Für ihn kommen diese Verhaftungen – über 20 Jahre nach den Taten – viel zu spät. Die kosovarische Gesellschaft hat noch einen langen Weg zu gehen, wenn sie sich mit ihrer Vergangenheit aussöhnen und die Verbrechen anerkennen will, die von manchen im Namen des Befreiungskampfes begangen wurden.
1 Erste Anhörung, Kosovo-Sondertribunal, Den Haag, 28. September 2020, www.scp-ks.org.
3 Siehe Jean-Arnault Dérens, „Die UÇK vor Gericht“, LMd, März 2011.
7 Siehe Ana Otašević, „Eulex unter Verdacht“, LMd, Juni 2015.
9 Interview mit Jean-Arnault Dérens, Le Courrier des Balkans, 26. Januar 2011.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin sind Redakteure der Onlinezeitung Le Courrier des Balkans und Verfasser des Buchs „Là où se mêlent les eaux. Des Balkans au Caucase dans l’Europe des confins“, Paris (La Découverte) 2018.