10.12.2020

Algier, 11. Dezember 1960

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Algier, 11. Dezember 1960

Nach der Niederlage der Befreiungsarmee nahmen die Algerier den Kampf für ihre Unabhängigkeit selbst in die Hand

von Mathieu Rigouste

Charles de Gaulle in Algier, 1958 ERICH LESSING/picture-alliance/akg
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Die großen Demonstrationen in Algerien von Februar 2019 bis März 2020 – die wegen der Coronapandemie unterbrochen werden mussten – rufen Erinnerungen wach an die umwälzenden, aber wenig bekannten Geschehnisse vor 60 Jahren. Damals, just als die französische Regierung behauptete, die algerische Nationale Befreiungsarmee (ALN), der militärische Flügel der Nationalen Befreiungsfront (FLN), sei endgültig zerschlagen, marschierte die Bevölkerung der Kolonie zu Tausenden durch die Innenstädte, um die Unabhängigkeit zu fordern.

Am 11. Dezember 1960 zogen die Demonstrierenden – hauptsächlich Alte und Frauen mit ihren Kindern – aus den Armenvierteln und Slums in die europäischen Viertel der algerischen Städte. Viele setzten damals ihr Leben aufs Spiel, denn die Proteste wurden mit brutalen Repressionen beantwortet, die der französische Staat bis heute nicht zugegeben hat. Dabei markierte der Aufstand von damals den Anfang vom Ende der kolonialen Ordnung in Algerien. Und er verdeutlichte die entscheidende Rolle der Arbeiterklasse im algerischen Befreiungskampf.

Der Aufstand brach bei einem Besuch von Präsident de Gaulle in Algerien los, der dort für sein Programm des „dritten Wegs“ werben wollte. Seine Strategie bestand darin, ähnlich wie in den rund 15 Ländern Afrikas südlich der Sahara, die gerade ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, eine Marionettenregierung zu installieren, die die politischen und wirtschaftlichen Interessen Frankreichs vertreten sollte.

Dieser Plan wurde jedoch durch die Demonstrationen vereitelt, die teilweise zu veritablen Aufständen wurden und über fast drei Wochen hinweg de Gaulle auf seinem Weg durchs Land verfolgten. Der General musste die großen Städte meiden, er kürzte seinen Aufenthalt ab und beschloss schließlich, mit der FLN zu verhandeln.

Zur gleichen Zeit, am 14. Dezember, befasste sich die UN-Generalversammlung in New York mit der „Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an die kolonialen Länder und Völker“ und beriet am 19. Dezember auch über die „Algerienfrage“. Der Aufstand spielte sich vor den Augen der Journalisten aus aller Welt ab und hatte direkten Einfluss auf die Beratungen in New York. Die französische Regierung konnte nun nicht mehr behaupten, dass sie die Unterstützung einer Mehrheit der Algerier besäße, der bloß einige wenige „Terroristen“ gegenüberstünden. Die Generalversammlung nahm die Erklärung an, ebenso wie eine Resolution, die „das Recht auf Selbstbestimmung als Grundlage für die Lösung des algerischen Problems“ anerkannte.

Bereits am 9. Dezember 1960 war es zuerst in Ain Temouchent und Tlemcen und einen Tag später auch in Oran und Algier zu Demonstrationen gegen das brutale Vorgehen der Europäer in den muslimischen Vierteln gekommen. Auf der anderen Seite organisierten sich unterdessen die französischen Extremisten in der Front de l’Algérie française (FAF). Sie lehnten die algerische Unabhängigkeit in jeglicher Form ab und bereiteten einen Staatsstreich vor, um eine Art Apartheid einzuführen.

In den segregierten muslimischen Vierteln organisierten sich die Bewohner, um sich gegen die gewalttätigen Übergriffe zu verteidigen. In mehreren Großstädten entstanden daraus schnell riesige Demonstrationen, vor denen viele Europäer die Flucht ergriffen. Als die Demonstranten in die für sie verbotenen Innenstädten weiterzogen, trafen sie auf Polizei, Armee und FAF-Kommandos. Die Bevölkerung überrannte die Polizeibarrikaden unter Ju-Ju-Geschrei und Gesang. Parolen wie „Muslimisches Algerien!“ oder „Verhandlungen mit der FLN“ wurden skandiert und auf Transparente gemalt. Und zum ersten Mal wurde in großer Zahl die algerische Fahne geschwenkt.

Am 11. Dezember 1960 gingen im Stadtteil Belcourt in Algier mehr als 10 000 Männer und Frauen auf die Straße, trotz aller Versuche, die Proteste zu unterdrücken. Am Nachmittag gab de Gaulle der Armee die Erlaubnis zu schießen. In mehreren Bezirken der Hauptstadt und später auch in anderen Städten des Landes eröffneten Soldaten das Feuer.

Aufstand der Muskeln und Nerven

Nach offiziellen französischen Angaben gab es in Algier zwischen dem 9. und 16. Dezember 112 Tote, alles unbewaffnete Zivilisten. Unseren Recherchen zufolge wurden zwischen dem 9. Dezember 1960, dem Tag der Demonstrationen in Aïn Temouchent, und den Zusammenstößen vom 6. Ja­nuar 1961 in Tiaret, mindestens 260 Per­sonen durch die Polizei, die Armee und französische Zivilisten getötet.

Die Demonstrationen vom Dezember 1960 beendeten auch den Mythos, die „Schlacht um Algier“ (1957–1958) habe die Entscheidung und das Ende der FLN gebracht. Für die Experten der subversiven Kriegsführung und der Unterdrückung sei es „eine Zeit der verloren gegangenen Illusionen“ gewesen, notierte später der Journalist Henri Alleg.1 Und der Filmemacher Gil­lo Pontecorvo lässt seinen berühmt gewordenen Film „Schlacht um Algier“ von 1966 mit Bildern der Demos vom Dezember 1960 enden, um daran zu erinnern, dass zwar die Führung der FLN von den Fallschirmjägern des Generals Massu eliminiert worden war, nicht aber die Idee der Unabhängigkeit.

Durch die Aufstände in den Städten ließ auch der militärische Druck auf die algerischen Partisanen etwas nach, was ihnen ermöglichte, sich neu zu formieren. Es zeigte sich, dass nicht nur die FLN zur Reorganisation imstande war, weil sie die Unterstützung der breiten Bevölkerung genoss, sondern auch, dass diese Bevölkerung den Unabhängigkeitskampf nun selbst in die Hand nahm. Die Putschpläne der rechtsextremen Kolonialisten und Militärs konnten in der Folge abgewehrt werden.

Frauen und Kinder waren dabei von Anfang an sehr präsent, auch an vorderster Front. „Von Beginn der Revolution an beteiligten sich Frauen an der Pflege und Versorgung der Partisanen. Bei den Demonstrationen waren sie stark engagiert“, erinnert sich Mes­saou­da Chader, die als Kind die Ereignisse vom Dezember 1960 miterlebt hat. In Aïn Temouchent, Oran, Algier, Annaba und Constantine bildeten sich Gruppen von Jugendlichen, um Fahnen und Transparente vorzubereiten, sie heimlich an Polizeistationen aufzuhängen und erste Kundgebungen zu organisieren.

Langsam formte sich die Gestalt eines algerischen Volks, das imstande war, die Fesseln der kolonialen Ordnung zu sprengen. Die Leute leisteten Widerstand, aber sie sangen und tanzten auch. Sie eroberten die Straßen von den Besatzern zurück und nahmen die Städte wieder in Besitz. Es war ein Aufstand der bis dahin durch die Kolo­nial­herrschaft eingeengten Muskeln und Nerven, so beschrieb es Frantz Fanon in „Die Verdammten dieser Erde“2 . Die Historikerin Malika Rahal zeigt in ihrer aktuellen Forschung, dass dieser Prozess bis zu den Feiern der offiziellen Unabhängigkeit im Sommer 1962 andauerte.

In ihren von Sicherheitskräften umzingelten Wohnvierteln organisierten die Algerierinnen und Algerier Volksküchen und die Verteilung von Lebensmitteln, sie empfingen Journalisten und richteten eigene klandestine Krankenstationen ein. Es war diese kollektive Praxis, durch die das unabhängige Algerien Gestalt annahm.

Berichte von Zeitzeugen machen deutlich, wie sehr die nur scheinbar spontanen Aufstände im Dezember 1960 in Wirklichkeit durch einen 130 Jahre währenden Widerstand gegen den Kolonialismus geprägt waren. „Es war ein kollektiver Akt, kein individueller. Wenn es um den 11. Dezember geht, sprechen wir nicht von einer Person, sondern von einem Volk“, sagt Mustapha Saadi. Er war eines der Kinder, die den Aufstand in Algier in Gang brachten, indem sie das Monoprix-Kaufhaus in Belcourt in Brand setzten. Die, die damals dabei waren, haben erzählt, wie in Stadtteilgemeinschaften bei Spielen und beim Sport, beim Singen und bei der Pflege kultureller Bräuche zutiefst politische Handlungsrepertoires entwickelt wurden – mit den verschiedenen Formen der Solidarität und gegenseitiger Hilfe, mit List, Selbstverteidigung und Gegenangriffen im Angesicht der alltäglichen Unterdrückung.

Die Aufstände vom Dezember 1960 sind bislang allerdings kaum wissenschaftlich untersucht worden, weder in Algerien noch in Frankreich. Es gibt keine Dissertation zu diesem Thema, und bis heute gibt es, abgesehen von einer Sonderausgabe der algerischen Zeitschrift Naqd zum 50. Jahrestag,3 auch keine eingehende sozialgeschichtliche Untersuchung.4 In der französischen offiziellen Geschichtsschreibung tauchen diese Demonstrationen nicht auf. Sie werden genauso wie ihre brutale Unterdrückung schlicht unterschlagen.

In Algerien immerhin gibt es offizielle Gedenkveranstaltungen, wenn auch keinen Feiertag wie den 1. November, den Beginn des Unabhängigkeitskriegs 1954. Im Zuge der Staatsgründung unter Führung der FLN bildete sich ein offizielles Narrativ heraus, das sich auf die Ereignisse in Algier am 11. Dezember 1960 konzentrierte, an dem das „algerische Volk“ einmütig den Aufrufen der FLN gefolgt sei. Am 11. Dezember 2017 wurde ein Museum in Belouizdad (wie Belcourt heute heißt) eröffnet, dem Stadtteil von Algier, in dem es zu den ersten Zusammenstößen kam.

Jedes Jahr findet dort nun die offizielle Gedenkfeier statt. Neben Vertretern des Staats kommen einige Zeugen zu Wort, während die Alten ihre Erinnerungen im Café des örtlichen Fußballklubs Chabab Riadhi de Belouizdad (CRB) austauschen. Im ganzen Land tragen Schulen und Stadtviertel nun Namen, die an die Demonstrationen erinnern. Auch im Geschichtsunterricht an den Gymnasien spielen sie eine wichtige Rolle.

Aber die meisten der nach der Unabhängigkeit Geborenen, mit denen wir gesprochen haben, sagen, sie wüssten wenig über die Ereignisse vom Dezember 1960. Sie misstrauen dem staatlichen Diskurs über „die Revolution“. Dem Historiker Daho Djerbal zufolge „wird in Schulbüchern wie auch in den staatlich geförderten Publikationen alles getan, um den revolutionären Charakter der Demonstrationen vom Dezember 1960 zu entschärfen“.5

In der Erinnerung an den Alge­rien­krieg halten sich hartnäckig diverse Mythen über die Ereignisse von 1960. So behauptet die kolonialistische extreme Rechte, die Demonstrationen seien von der FLN gesteuert worden, betont aber zugleich, dass de Gaulle sie zu seinem eigenen Vorteil beeinflusst habe. Während unserer jahrelangen Recherche zu diesem Thema haben wir dafür allerdings keinerlei Beweise gefunden.

Die „Services d’action psychologique“ – eine französische Einrichtung zur psychologischen Kriegsführung – veranstalteten damals zwar „Verbrüderungstreffen“ in mehreren Städten und versuchten, mindestens eine Demons­tra­tion in Algier zu manipulieren. Allerdings ohne Erfolg. Die Kolonialmacht wandte vielmehr rohe Gewalt an, um die Rebellion zu stoppen.

Auch einige Mudschaheddin behaupten, die Demonstrationen seien von der FLN organisiert worden. Tatsächlich aber hatte diese die Proteste weder geplant noch initiiert. In Algier und in den wenigen Städten, in denen es zu diesem Zeitpunkt noch aktive FLN-Mitglieder gab, versuchten sie allenfalls, Demonstrationszüge zu flankieren, vor allem mit Parolen zur Unterstützung der in Tunis ansässigen Provisorischen Regierung der Algerischen Republik.

Die war von den Ereignissen allerdings völlig überrascht worden und befürchtete eine Manipulation durch die Kolonialbehörden. Ihr Präsident, Ferhat Abbas, forderte am 16. Dezember 1960 die Bevölkerung auf, nach Hause zu gehen und den Kampf für die Unabhängigkeit der FLN zu überlassen. Doch niemand hörte auf ihn, und die Demonstrationen breiteten sich weiter aus.

So war es der algerischen Bevölkerung gelungen, drei Jahre nach der „Schlacht um Algier“ den revolutionären Prozess selbst in die Hand zu nehmen und schließlich die Unabhängigkeit zu erlangen. Die verschiedenen Formen der Selbstorganisation, die den 11. Dezember erst möglich gemacht hatten, wirkten dann auch während der Periode der „Selbstverwaltung“ in den ersten Jahren der Unabhängigkeit im Sinne einer Transformation der algerischen Gesellschaft. Doch diese Experimente wurden schließlich vom algerischen Staat erstickt. Mit der Entstehung einer neuen Protestbewegung 2019 leben sie jedoch in anderer Form wieder auf.

1 Henri Alleg (Hg.), „La Guerre d’Algérie, tome 3. Des complots du 13 mai à l’indépendance“, Paris (Temps actuel) 1981.

2 Frantz Fanon begann das Buch nach Beginn der Aufstände 1960.

3 „11 décembre 1960. Le Diên Biên Phù politique de la guerre d’Algérie“, Naqd, Algier 2010.

4 Der Autor dieses Artikels widmet diesen Ereignissen einen Blog: unseulheroslepeuple.org.

5 Mélanie Matarese, „Daho Djerbal, historien: ‚Il ­reste peu de choses du 11 décembre 1960‘ “, Visa pour l’Algérie, 12. Dezember 2010, blog.lefigaro.fr/algerie.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Mathieu Rigouste ist Soziologe und Autor von „Un seul héros, le peuple. La contre-insurrection mise en échec par les soulèvements algériens de décembre 1960“, Paris (Premiers Matins de novembre Éditions) 2020.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2020, von Mathieu Rigouste