10.12.2020

Syrien – mörderisches US-Embargo

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Syrien – mörderisches US-Embargo

von Patrick Cockburn

Flüchtlingslager bei Atmeh an der türkischen Grenze, Provinz Idlib OSMAN ORSAL/reuters
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Suha Ahmad lebt in einem Außenbezirk der Hafenstadt Tartus an der syrischen Mittelmeerküste. Im März dieses Jahres hat sie ihren Mann verloren, der im Bürgerkrieg aufseiten der Regierung kämpfte. Ihre Eltern sind beide tot, die übrige Familie ist verarmt.

„Als mein Mann getötet wurde, war ich schwanger“, erzählt Suha, „meine Schwiegereltern wollten mich in ihrer Familie behalten; ich sollte den jüngsten Bruder meines Mannes heiraten, wie es hier üblich ist. Aber die Vorstellung war mir zuwider. Ich borgte mir Geld von einer Freundin und machte eine Abtreibung in einer Privatklinik. Daraufhin setzten mich meine Schwiegereltern vor die Tür.“

Suha Ahmad wollte in das alte Haus ihrer Eltern zurück, aber das hatte ihr Bruder in Beschlag genommen. Der sagte, er könne sie unmöglich mitversorgen, sie müsse allein zurechtkommen. Bei allen war das Geld knapper als je zuvor, weil das US-Embargo die katastrophale Wirtschaftslage noch verschärft hatte. „Bei uns ist es heute wie im Dschungel, wo niemand dem anderen hilft“, sagt Suha. „Ich lebe in einer Moschee in einem kleinen Nebenraum, wo Teppiche und Möbel gelagert werden, mein Essen erbettle ich mir auf der Straße.“

Überall in Syrien wächst die Verzweiflung der Menschen. Schon bevor die jüngsten Sanktionen Washingtons in Kraft traten,1 lebten 83 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Im Dezember 2019 hatte Präsident Trump den „Caesar Civilian Protection Act“ unterzeichnet, benannt nach einem syrischen Militärfotografen, dessen außer Landes geschmuggelte Bilder das tausendfache Morden des Assad-Regimes dokumentierten. Das neue Gesetz, kurz „Caesar Act“ genannt, verhängt Sanktionen gegen jede Person und jede Firma auf der ganzen Welt, die Geschäfte, egal welcher Art, mit Syrien betreibt.

Die Maßnahmen, die praktisch die gesamte Bevölkerung einem ökonomischer Belagerungszustand unterwerfen, traten am 17. Juni 2020 in Kraft. Aber schon ihre Ankündigung hatte einen Großteil dessen zerstört, was von der syrischen Wirtschaft übrig geblieben war. Die syrische Lira stürzte ab. Damit haben sich die Preise für Grundnahrungsmittel wie Weizen, Reis und Bulgur schlagartig verdreifacht, während die Einkommen der Menschen – soweit sie noch einen Job haben – gleich geblieben sind.

Der Caesar Act soll vorgeblich die Zivilbevölkerung schützen, indem er „die Regierung von Baschar al-Assad zwingt, die mörderischen Angriffe auf das syrische Volk einzustellen“ und den Übergang zu einer Regierung zu unterstützten, „die rechtsstaatliche Regeln respektiert“. Dieser Wortlaut versieht die Sanktionen mit einem humanitären Mäntelchen, ist aber, was deren wahre Auswirkungen betrifft, total irre­führend.

Der Preis für Reis und Bulgur hat sich verdreifacht

In Syrien wie anderswo sind die autoritären Eliten gegen die Effekte von Embargos weitgehend immun; unter Umständen können sie sogar von ihnen profitieren, weil sie als Machthaber die knappen verfügbaren Ressourcen monopolisieren. Es sind also die Armen und Machtlosen – und die stellen nach fast 10 Jahren Krieg die breite Bevölkerungsmehrheit in Syrien –, die von den Sanktionen am härtesten getroffen werden.

Suha Ahmad musste schockiert feststellen, dass selbst in einem Land, wo verwandtschaftliche Loyalität eine zentrale Rolle spielt, Familien es sich nicht mehr leisten können, eine zusätzliche Person durchzufüttern, wenn sie selbst von Hunger bedroht sind. „Eine Hungersnot könnte unmittelbar bevorstehen“, warnte das World Food Program (WFP) der Vereinten Nationen vor Kurzem.

Suhas eigene Familie hatte schon immer zu knapsen, aber auch Angehörige der Mittelschicht haben heute nur das Nötigste zum Überleben. Hadil Ali arbeitet an der Tischrin-Universität in Latakia. Ihren richtigen Namen will sie, wie viele der hier Interviewten, nicht veröffentlicht sehen. Die Geheimdienste, sagt sie, hätten ihre Universität in „eisernem Griff“.

Wie viele Menschen in diesem Teil Nordwestsyriens ist Hadil Alawitin, gehört also derselben schiitischen Reli­gions­gruppe an wie der Assad-Clan und der Großteil der Führungsriege des Regimes. Zu früheren Zeiten hätte ihr das bessere Berufschancen und ein besseres Gehalt verschafft, doch jetzt ist die religiöse Zugehörigkeit nicht mehr mit ökonomischen Vorteilen verbunden. Da die Alawiten das Rückgrat der Regierungstruppen bildeten, haben sie in den letzten 9 Jahren schwere Verluste erlitten. Etwa 100 000 von ihnen, das sind 4 Prozent der gesamten Volksgruppe, wurden in den Kämpfen getötet.

Hadil hat 15 Jahre lang an ihrer Uni gearbeitet, aber ihr monatliches Gehalt liegt heute bei 40 000 syrischen Lira, das entspricht etwa 15 Euro. Andere Jobs gibt es nicht in einer Stadt, die viele Männer im Krieg verloren hat. „Ich bin noch unverheiratet und helfe meiner Mutter. Mein Vater starb vor 12 Jahren, mein Bruder ist vor 4 Jahren im Kampf gegen die Opposi­tion in Idlib gefallen.“ Hadil hat noch einen Bruder, der verheiratet ist und zwei Kinder hat. Er arbeitet im Hafen von Latakia und verdient monatlich 25 Euro – was kaum ausreicht, um seine Familie durchzubringen.

Für ein Land, das bereits durch den Krieg ausgezehrt war, kam der Caesar Act zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt, gerade als sich das Coronavirus auch im östlichen Mittelmeerraum ausbreitete. Doch die meisten Menschen, die ich für diesen Bericht interviewt ­habe (notgedrungen über das Internet), waren zwar mehr oder weniger besorgt über die Pandemie, meinten aber, den größten Schaden würden die Sank­tio­nen anrichten. Suhas Alltagssorgen sind so drückend, dass sie in unserem Gespräch das Virus nicht einmal erwähnte.

Hadil sprach mit mir über Corona. Aber auch für sie ist das Hauptproblem die extreme Verarmung, die der Caesar Act mit sich bringt. Sie zitierte, was Imam Ali ibn Abi Talib über die Armut gesagt hat: „Wenn die Armut ein Mensch wäre, würde ich ihn töten.“ Genau so fühle es sich heute in Syrien an: „Die Armut ist so drückend, dass wir uns nicht einmal ein Frühstück leisten können.“

Ab und zu bekommt Hadil etwas Obst und Gemüse von Verwandten, die auf dem Land in der Nähe von Latakia leben. Sie kann genau angeben, was sie in den Läden für Tomaten, Gurken und Auberginen zahlen muss. Die Preise haben sich in den letzten drei Monaten verdoppelt oder verdreifacht; Weintrauben, Äpfel und Bananen sind für sie ohnehin nicht mehr erschwinglich.

Der Kollaps hat aber nicht nur katastrophale soziale und ökonomische Auswirkungen: Er bedeutet auch eine Bedrohung für die persönliche Sicherheit. Seit Kriegsbeginn war die Umgebung von Latakia gefährlich, denn die Stadt liegt nicht weit entfernt von der Front um die Enklave Idlib, die bis heute von der Opposition gehalten wird. Aber seit September haben Diebstahl und die allgemeine Kriminalität in der Gegend noch weiter zugenommen, berichtet Hadil: „Eine Arbeitskollegin hat letzten Monat ihren Cousin verloren, der von Unbekannten gekidnappt wurde. Die Entführer riefen die Familie an und verlangten ein Lösegeld von 15 Millionen Lira (mehr als 5000 Euro). Aber so viel Geld konnte die Familie nicht aufbringen. Man hat seine Leiche am Rand eines Dorfs an der Straße nach Hama gefunden.“

Assad nutzt die Sanktionen für seine Propaganda

Da die Kriminalität auch in den ländlichen Gebieten um sich greift, versuchen viele Menschen, in die Städte zu ziehen, wo sie sich aber die Mieten nicht leisten können. Und Corona macht alles noch schwieriger. Hadil erzählt, dass es inzwischen viele Infizierte gibt, dass die Regierung aber die Zahlen verschleiert: „Ich wohne in der sechsten Etage eines achtstöckigen Gebäudes und kenne die meisten meiner Nachbarn. Ich weiß von vier Familien, die sich in der vorigen Woche infiziert haben und sich zu Hause in Quarantäne befinden. Nur die Väter gehen raus, um Essen zu kaufen.“

Die Menschen können sich kaum selbst schützen: Gesichtsmasken und Handdesinfektionsmittel sind oft unerschwinglich, und die Krankenhäuser sind voll. Hadil meint fatalistisch, die Leute in Latakia könnten nur versuchen, irgendwie weiterzumachen und sich – was „Tod, Krankheit, Armut und Krieg“ betrifft – in die Hände Gottes zu begeben.

Durch solche Anzeichen der Demoralisierung in den regimetreuen alawitischen Hochburgen um Tartus und Latakia mögen sich die Verfechter des Caesar Act in Washington bestätigt fühlen. Aber das Assad-Regime wird durch Klagen und die Verzweiflung der Bevölkerung nicht destabilisiert. Die Regierung hat den Bürgerkrieg praktisch schon seit Mai 2018 gewonnen, als die letzte große Enklave der oppositionellen sunnitischen Milizen von Regierungstruppen überrannt wurde. Das einzige Stück Territorium, das noch von Anti-Assad-Kräften gehalten wird, ist das Umland von Idlib – und selbst das ist um ein Drittel geschrumpft, seit die syrische Armee ab 2017 mit russischer Unterstützung mehrfach Offensiven gestartet hat.

Das Ziel der USA ist heute nicht mehr der Sturz Assads; der ist seit dem Beginn der russischen Intervention 2015 unmöglich geworden. Es gilt nur noch zu verhindern, dass der Präsident und seine russischen und iranischen Unterstützer einen endgültigen Sieg erringen. Anders formuliert: Washington und seine Verbündeten werden den Topf am Kochen halten – mittels maximalen Drucks durch den Caesar Act, der Syrien zu einem wirtschaftlich isolierten Pariastaat macht.

Die Strategie, statt eines militärischen einen Wirtschaftskrieg zu führen, ist keineswegs neu, aber unter Trump ist sie zur Hauptwaffe der US-Außenpolitik geworden. Der abgewählte Präsident hat trotz all seiner bombastischen Drohungen gegen angebliche Feinde weder im Nahen Osten noch irgendwo sonst einen Krieg begonnen. Er setzte lieber auf die Macht des US-Finanzministeriums als auf die des Pentagons.

Aus Sicht Washingtons spricht sehr viel für das Mittel der Sanktionen: Man erspart sich kostspielige und riskante militärische Abenteuer, die in der Vergangenheit so häufig schiefgegangen sind. Zudem kann man Wirtschaftssanktionen, im Gegensatz zu Luftangriffen, als gewaltfreie Methode darstellen, um toxische Regime unter Druck zu setzen.

In der Realität allerdings sind Beschlüsse wie der Caesar Act denkbar grobschlächtige Instrumente, weil die Strafe pauschal und willkürlich eine ganze Gesellschaft trifft. Der Caesar Act wird mit ganz ähnlichen Argumenten gerechtfertigt wie seinerzeit die UN-Sanktionen gegen das Saddam-Hussein-Regime, die nach der irakischen Invasion Kuwaits 1990 verhängt wurden und 13 Jahre in Kraft blieben. Damit sollte Saddam geschwächt und gezwungen werden, Informationen über seine mutmaßlichen Massenvernichtungswaffen preiszugeben.

Tatsächlich haben die Sanktionen die Macht des Regimes und dessen Kontrolle über die irakischen Finanzen in keiner Weise beschränkt. Saddam gab demonstrativ verschwenderische Summen für den Bau von gigantischen Moscheen und Palästen aus. Und die Massenvernichtungswaffen, die er angeblich versteckte, gab es am Ende gar nicht. Dafür ruinierten die Sank­tio­nen das Leben von Millionen Irakern und zerstörten die Infrastruktur und die Wirtschaft des Landes.

Das Ergebnis war seinerzeit für alle Welt klar zu erkennen: Im September 1998 legte Denis Halliday sein Amt als Koordinator der UN-Hilfe im Irak aus Protest nieder. Als Begründung führte er an, dass wegen der Sanktionen jeden Monat 4000 bis 5000 irakische Kinder stürben und dass das Embargo „wahrscheinlich das Regime stärken, die ­Bevölkerung aber weiter schwächen“ würde.

Diese Aussage gilt heute wieder für Syrien. Assad mag ökonomisch unter Druck geraten sein, aber das kann er dadurch kompensieren, dass er zum Beispiel regierungsnahe Unternehmer zwingt, dem Regime einen Teil ihrer riesigen Kriegsgewinne abzutreten. Zudem kann er von der Korruption und Inkompetenz seiner Regierung ablenken, indem er für das Leiden der Bevölkerung den Caesar Act verantwortlich macht – genauso wie Saddam in den 1990er Jahren.

In der ersten Phase der Pandemie verkündete das syrische Staatsfernsehen fiktive Erfolge im Kampf gegen das Virus. In Wirklichkeit waren die Krankenhäuser voll, die Infektionszahlen stiegen rasant und die Zahl der Toten lag nach allgemeiner Meinung weit höher, als die Regierung zugab.

Das war natürlich auch in anderen Ländern so. Doch in Syrien entwickelte die Regierung, als die tatsächlichen Auswirkungen des Virus kaum noch zu verschleiern waren, eine neue propagandistische Verteidigungslinie. Wie die Krankenschwester Muhanad Shami aus Damaskus berichtet, wird in den meisten TV-Sendern und Nachrichtenkanälen das Versagen im Kampf gegen die Pandemie auf den Caesar Act zurückgeführt.

Die Assad-Regierung profitiert außerdem davon, dass die neuen Sank­tio­nen unterschiedslos alle Syrerinnen und Syrer treffen, ungeachtet ihrer politischen Orientierung. Besonders schlimm ist die Lage in Gebieten, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung regimekritisch eingestellt ist. Hier sind die Menschen am stärksten von den Maßnahmen getroffen.

Das gilt insbesondere für die 3-Millionen-Provinz Idlib, die letzte Enklave der bewaffneten Opposition. Nach jahrelanger Bombardierung durch Artillerie und aus der Luft sind die Städte und Siedlungen der Region weitgehend zerstört oder zumindest unbewohnbar. Eine Million Menschen, zumeist Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens, leben inzwischen in Zelten; allein in der Nähe der türkischen Grenze gibt es etwa 1200 überfüllte Lager.

Die Menschen in den Lagern sind zwar relativ sicher vor dem Beschuss und den Bombardierungen, denen die übrige Provinz ausgesetzt ist, aber die meisten haben keine Arbeit, schlafen zu fünfzehnt in einem Zelt und sind auf gemeinsame Wassertanks und Toiletten angewiesen. Unter solchen Bedingungen ist es unmöglich, die Verbreitung des Coronavirus zu stoppen.

„In Idlib-Stadt wurden die ersten Coronafälle im Juli registriert und die Ausbreitung ging zunächst sehr langsam“, erzählt die Lehrerin Huda Hussein. „Anfangs blieben die Leute zu Hause, aber jetzt gehen sie wieder raus, weil sie sagen, dass die ganze Region ohnehin infiziert wird, egal ob du eine Maske trägst oder nicht.“

Dank des zwischen Russland und der Türkei am 5. März vereinbarten Waffenstillstands sind die Kämpfe in Idlib seit einiger Zeit abgeflaut. Aber die Waffenruhe wird wohl kaum von Dauer sein. Assad ist entschlossen, die Provinz zurückzuerobern, würde allerdings die regierungsfeindliche Bevölkerung am liebsten vorher loswerden. Diese ausgehungerten und heimatlosen Menschen werden im Fall einer erneuten Offensive keine andere Wahl haben, als in die Lager an der Grenze zur Türkei zu fliehen, deren Regierung sich vor einem weiteren Zustrom syrischer Flüchtlinge fürchtet.

Ach für die Menschen in Idlib bedeuten die Sanktionen, dass die Waren des täglichen Bedarfs unerschwinglich teuer geworden sind. Ein weiterer Schlag kam im Juni, als die Obrigkeit – die von den Dschihadisten der Hai’at Tahrir asch-Scham dominierte „Regierung der Rettung“ – die lokale Währung von der syrischen auf die türkische Lira umstellte.

Dieser Wechsel war eine Antwort auf den Absturz der syrischen Lira, aber wie Huda berichtet, ist das Überleben seitdem noch schwerer geworden. Das Monatsgehalt der Lehrerin ist umgerechnet nicht mehr 135, sondern nur noch 85 Euro wert; zugleich sind die Preise für Kartoffeln, Gemüse, Obst und Joghurt noch einmal stark gestiegen. Sie schätzt, dass die Währungsumstellung 95 Prozent der Bevölkerung von Idlib ärmer und nur 5 Prozent reicher gemacht hat. Letztere sind vornehmlich Händler und Leute, die für internationale Hilfsorganisationen arbeiten.

Der Staat Syrien ist heute in drei Teile zerfallen: Erstens das von der Regierung kontrollierte Gebiet, das die meisten der dicht besiedelten Regionen umfasst; zweitens die kleine Opposi­tions­enklave Idlib; und drittens ein großes dreieckiges Gebilde im Nordosten, wo kurdische, türkische und Assad-treue Kräfte mit der syrischen Opposition sowie russischen und US-amerikanischen Truppen um die Kontrolle der Hauptstraßen und der Ballungsräume konkurrieren.

Die Bevölkerung in diesem Landesteil, einer Ebene, die sich vom Euphrat nach Osten erstreckt und im Norden an die Türkei, im Osten an den Irak grenzt, besteht aus etwa 2 Millionen Kurden und 1 Millionen Araber, die in chronischer Unsicherheit leben. Bis Herbst 2019 waren die Kurden die militärisch dominierende Kraft, damals hatten sie mit Unterstützung Washingtons den Islamischen Staat (IS) besiegt.

Aber nachdem der IS, zumindest vorläufig, von der Bühne verschwunden war2 , verkündete US-Präsident Trump im Oktober 2019 den Rückzug der US-Truppen. Damit gab er grünes Licht für eine Invasion der Türkei und ihrer Verbündeten, die ein rechteckiges Gebiet auf syrischem Territorium besetzten und die kurdischen Bewohner vertrieben oder zur Flucht zwangen.

Der Angriff der Türkei – und die anschließende ethnische Säuberung der Region um die Grenzstädte Tall Abjad und Ras al-Ain – stützte sich vornehmlich auf Kämpfer der syrisch-arabischen Opposition aus Idlib, Aleppo und Hama. Diese „Stellvertreterkrieger“ wurden von Ankara auch nach Libyen entsandt, und neuerdings nach Bergkarabach, wo sie auf der Seite Aserbai­dschans gegen die Armenier kämpften (siehe den Beitrag von Igor Delanoë auf Seite 11).

Die Situation in dem von der Türkei kontrollierten Gebiet im Norden ist selbst für syrische Verhältnisse extrem gefährlich und kompliziert. Der 42-jährige Bauarbeiter Jasim Hammad, der mit seiner Frau und drei Kindern in Ras al-Ain lebt, war während der türkischen Invasion im Oktober 2019 aus seiner Heimatstadt geflüchtet. Als er nach einem Monat zurückkehrte, war sein Haus teilweise zerstört. „Mit mir kamen tausende arabische Familien zurück“, erzählt er, „aber viele Kurden trauten sich nicht wieder hierher, denn wer es versuchte, wurde von den Milizen entführt, die mit den Türken verbündet sind.“

Jasim hat es in seinem ehemals gemischten Stadtteil selbst erlebt. Als ein kurdischer Nachbar in sein Haus zurückkehren wollte, wurde er von Milizionären gekidnappt und gefoltert. Er wurde erst freigelassen, als seine Familie 6500 US-Dollar Lösegeld bezahlte. Jasim berichtet, wie sich die verschiedenen syrischen Milizen das Stadtgebiet von Ras al-Ain aufgeteilt haben. Jede von ihnen kontrolliert einen kleinen Distrikt, den sie erbittert verteidigt.

Diese Gruppen streiten sich immer wieder über die Verteilung der Beute – speziell wenn es um die Übernahme von kurdischen Häusern und Läden geht. Dabei ist Gewalt an der Tagesordnung, erzählt Jasim: „Wenn es dunkel wird, bleibe ich im Haus. Die ­ganze Nacht hindurch fallen Schüsse. Die meisten Häuser, in denen Kurden gelebt haben, wurden geplündert: Türen, Fenster, Möbel, alles ist verschwunden.“

Neben Jasim wohnte eine kurdische Familie. Als die alte Mutter das Haus ihrer Tochter besuchen wollte, das sich in der Zwischenzeit die Familie eines Milizionärs aus Aleppo angeeignet hatte, hörte Jasims Frau, wie der Milizionär die alte Frau wegjagte und schrie: „Sag deiner ungläubigen Tochter und ihrem Schwein von Mann, sie sollen bloß nicht zurückkommen.“

In Ras al-Ain gibt es viele Leute, vor denen Jasim Angst haben muss, aber Assad und die syrische Regierung gehören nicht dazu: Die Regierungstruppen haben sich 2012 aus der Stadt zurückgezogen und kamen nie zurück. Der Caesar Act dagegen, der die syrische Zivilbevölkerung angeblich vor Assad schützen soll, führt im Grunde das zu Ende, was die Türkei mit ihrer Inva­sion erreichen wollte: die Vertreibung der verbliebenen Bevölkerung.

Die Straßen von Ras al-Ain sind trostlos und leer, berichtet Jasim. Man fühle sich „wie an einem Ort voller Gespenster“. Seit Juli sind viele Leute in die Türkei geflohen, obwohl sie dafür die Hilfe von Menschenschmugglern brauchen, denn die türkischen Behörden haben die Grenze zu Syrien abgeriegelt. Ein Verwandter von Jasim und drei weitere Nachbarn haben es geschafft. Sie leben jetzt in einem Flüchtlingslager, wo sie wenigstens mit Essen versorgt werden.

Jasim selbst stehen harte Zeiten bevor. Als Bauarbeiter hat er im April und Mai noch umgerechnet 5 Euro pro Tag verdient, heute sind es 1,25 Euro. Das reicht gerade mal für ein eine Mahlzeit für eine Person. Es gibt nur eine einzige gute Nachricht: Corona ist in Ras al-Ain noch nicht angekommen. Das liegt daran, vermutet Jasim, dass die Stadt zu 90 Prozent verlassen ist. Es gibt einfach zu wenig Menschen, als dass sich das Virus ausbreiten könnte.

1 Siehe die Analyse der International Crisis Group vom 13. Juli 2020, „U.S. Sanctions on Syria: What Comes Next?“.

2 Siehe Patrick Cockburn, „Kommt der Islamische Staat zurück?“, LMd, Dezember 2019.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.12.2020, von Patrick Cockburn