10.12.2020

Erdoğans Drohnen, Putins Raketen

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Erdoğans Drohnen, Putins Raketen

von Igor Delanoë

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Die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei sind vom Ringen um Einflusssphären und Macht geprägt. Ihre Ambitionen stoßen in einem Krisenbogen aufeinander, der sich von Nordafrika über die Levante und das Schwarze Meer bis zum Kaspischen Meer erstreckt. In Syrien und in Libyen unterstützen Moskau und Ankara gegnerische Lager. Und in diesem Sommer ist mit dem armenisch-aserbaidschanischen Krieg um Bergkarabach ein weiterer Konflikt hinzugekommen.

Gleichzeitig haben die beiden Länder im Energiesektor eine geoökonomische Partnerschaft aufgebaut. So versorgt die durch das Schwarze Meer verlaufende Pipeline Blue Stream die Türkei seit 2003 mit russischem Erdgas. Im Januar 2020 wurde ihre kleine Schwester TurkStream in Betrieb genommen, die im türkischen Hafen Kıyıköy ankommt und auch die Märkte Südosteuropas versorgt. Und in der südtürkischen Stadt Akkuyu baut die russische Atombehörde Rosatom für 25 Milliarden US-Dollar das erste türkische Kernkraftwerk.

2019 belief sich das russisch-türkische Handelsvolumen auf 26,1 Milliarden US-Dollar1 , was vor allem dem Tourismus- und dem Landwirtschaftssektor zu verdanken ist. 6,7 Millionen russische Touristen verbrachten ihren Urlaub 2019 in türkischen Feriengebieten2 , während die Türkei 2020 der zweitgrößte Importeur von agroindustriellen Produkten aus Russland sein wird. Auch im militärisch-industriellen Bereich arbeiten die beiden Länder mitunter eng zusammen. Das hat zum Beispiel der Kauf russischer S-400-­Flugabwehrsysteme durch Ankara Ende 2017 gezeigt – zum Leidwesen Washingtons.

Politisch verbindet Ankara und Moskau ein geteiltes Misstrauen gegenüber dem Westen und ihr Interesse an einer multipolaren Weltordnung, die ihnen – so das Kalkül beider Länder – bei der Durchsetzung ihrer machtpolitischen Projekte zugutekommen würde. Sowohl in Russland als auch in der Türkei ist eine Militarisierung der Außenpolitik zu beobachten, die sich in einer neuerlichen Bereitschaft zur Entsendung von Truppen widerspiegelt.

Diese Entwicklung hat Spannungen in Regionen zutage gefördert, in denen sich die traditionellen Einflusssphären der beiden Länder überlappen. So versucht Präsident Recep Tayyip Erdoğan die strategische Bedeutung der Türkei in Nordafrika und im Nahen Osten wiederherzustellen – beide Regionen gehörten im 17. Jahrhundert zum Osmanischen Reich (siehe Karte).

Ahmet Davutoğlu, von 2009 bis 2014 türkischer Außenminister und bis 2016 Premierminister, beschrieb sein Land als Regionalmacht, die ihren kulturellen und politischen Einfluss weltweit geltend machen könne. Zwar gab er das Motto „Null Probleme mit den Nachbarn“ aus, läutete aber gleichzeitig eine Außenpolitik ein, die den politischen Islam mobilisierte und die pantürkische Solidarität in einem Bogen von Südrussland über den Kaukasus (Aserbaidschan) und Zentral­asien (Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan und Kirgistan) bis ins chinesische Xinjiang propagierte.

Der russische Präsident Wladimir Putin stellt hingegen die Souveränität in den Mittelpunkt seines machtpolitischen Kurses, mit dem er Russland wieder zu einer Weltmacht ersten Ranges machen will. Den Erfolg des Militäreinsatzes in Syrien hat er dazu genutzt, seinen Einfluss auszuweiten. Im Zentrum der Moskauer Interessen steht jedoch der postsowjetische Raum, den der Kreml noch immer als schützende Pufferzone begreift. Im Bergkarabach-Konflikt fordert die Türkei Moskau nun in ebendieser Zone heraus.

Dabei konnte Ankara im Kaukasus einen gewissen Erfolg verbuchen. Dank der massiven politischen Unterstützung und türkischer Militärhilfe eroberte die aserbaidschanische Armee einen Teil der Gebiete zurück, die der selbsternannten „Republik Arzach“ als Pufferzone dienten, und nahm auch die symbolträchtige Stadt Schuschi im Herzen Bergkarabachs ein. Um eine noch vernichtendere Niederlage zu vermeiden, unterzeichnete Armenien am 10. November ein Waffenstillstandsabkommen.

In diesem verpflichtete sich die armenische Seite, mehrere von ihr kontrollierte Gebiete zu evakuieren: die Region Agdam und die aserbaidschanischen Enklaven in den armenischen Gebietsteilen der Region Qazax sowie die strategisch wichtigen Bezirke Kelbadschar und Latschin. Nur ein unter russischer Kontrolle stehender, fünf Kilometer breiter Korridor soll die Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach garantieren.

Das unter Vermittlung Moskaus zustande gekommene Abkommen sieht zudem die Einrichtung eines Zen­trums zur Überwachung des Waffenstillstands auf aserbaidschanischem Boden vor. Es soll unter russisch-türkischer Kontrolle steht, wie Putin und Erdoğan am Tag der Unterzeichnung der Waffenruhe telefonisch vereinbarten. Mit einem Vorposten in Aserbaidschan dürfte die Türkei die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, ihren Einfluss auf die turksprachigen Regionen Zentralasiens noch wirksamer auszuweiten.

Wo sich Moskau und Ankara in die Quere kommen

Außerdem wird ein neuer Korridor zwischen der autonomen aserbai­dscha­nischen Republik Nachitschewan – einer durch armenisches Staatsgebiet abgetrennte, im Nordwesten an die Türkei grenzende Exklave – und Aserbaidschan eingerichtet. Dadurch erhält auch die Türkei einen Zugang zum Kaspischen Meer und seinen wertvollen Offshore-Gasvorkommen.

Der Waffenstillstand soll zunächst fünf Jahre gelten, mit Option auf Verlängerung. Nun bleibt abzuwarten, ob Ankara sich mit seiner Gewinnbeteiligung begnügt. Auch wenn die Türkei im Dokument nirgends erwähnt wird, hat der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev wissen lassen, dass neben russischen auch türkische Streitkräfte die Einhaltung des Abkommen überwachen sollen – was der Kreml umgehend dementierte.

Dass Ankara das Kräftemessen mit Moskau auf den postsowjetischen Raum ausweitet, könnte dadurch motiviert sein, dass die Türkei ihre Positionen gegenüber dem Kreml an anderen Fronten – in Syrien, in Libyen und im östlichen Mittelmeerraum – festigen möchte. Die Initiative wirkt zudem wie der Versuch eines Befreiungsschlag Ankaras, um den Druck durch die zunehmende Militärpräsenz Moskaus in seiner unmittelbaren Nachbarschaft im Schwarzen Meer, im Kaukasus und in der Levante zu vermindern.

Im Juni 2020 betankte die türkische Luftwaffe bei einem Trainingsmanöver über dem Schwarzen Meer zwei US-Langstreckenbomber vom Typ B-1B Lancer, die einen Angriff auf Seeziele simulierten. Womöglich strebt Ankara auch die Errichtung einer Militärbasis in Aserbaidschan an, um das strategische Gleichgewicht gegenüber Moskau wiederherzustellen. Aus Sicht der Türkei ist dieses gestört, seitdem Russland 2017 in Syrien die Marinebasis Tartus und den Militärflugplatz Chmeimim übernommen hat. Beide Basen befinden sich unweit der türkischen Grenze.

Moskau seinerseits bereitet die türkische Abkehr vom kemalistischen Modell der laizistischen Republik Sorge – ein politischer Kurs, der im Juli durch die Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee nochmals bekräftigt wurde. Auch der Panturkismus nährt die Angst Moskaus: Im postsowjetischen Raum – Russland eingeschlossen – leben 120 Millionen turksprachige Menschen. Und die Instrumentalisierung des Islam könnte schlimmstenfalls sogar das Gebiet der Russischen Föderation selbst destabilisieren. 15 Prozent der russischen Bevölkerung sind sunnitische Muslime. Die blutigen Konflikte, die in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre im Nordkaukasus in Tschetschenien und Dagestan wüteten, sind noch in schmerzlicher Erinnerung.

Dass die Türkei ab Ende September mehrere hundert libysche und syrische Söldner an die Front in Bergkarabach transportierte, dürfte in Moskau große Besorgnis ausgelöst haben. Im Schwarzen und im Kaspischen Meer sucht Russland deshalb den Schulterschluss mit Partnern, die ein gespanntes Verhältnis zur Türkei haben. So nahmen im September iranische Kriegsschiffe im Kaspischen Meer am russischen Militärmanöver „Kaukasus 2020“ teil. Und im November fanden unter dem Namen „Brücke der Freundschaft“ erstmals gemeinsame Manöver der russischen und ägyptischen Marine im Schwarzen Meer statt.

Die türkische Regierung hält aber noch einen anderen Trumpf in der Hand: die Ukraine. Ankara hat die russische Annexion der Krim nie anerkannt, allerdings auch keine Sanktionen verhängt. In der Zwischenzeit hat Ankara seine militärisch-technische Zusammenarbeit mit Kiew ausgeweitet. 2018 bestellte die Ukraine sechs türkische Angriffsdrohnen vom Typ Bayraktar-TB2, wie sie auch in Idlib, in Libyen und in Bergkarabach zum Einsatz kamen.

Darüber hinaus kooperieren beide Länder bei der Entwicklung der neuen Drohne Bayraktar Akıncı, die in Zukunft womöglich in der Ukraine produziert werden könnte. Ihr Einsatz würde die verstärkte Stationierung von russischen Flugabwehrsystemen wie Panzir-S1 nach sich ziehen, die sich in Syrien und Libyen als einigermaßen wirksames Mittel gegen türkische Drohnen erwiesen haben. Russland könnte zudem auf mobile Mittel der elektronischen Kriegsführung setzen, so etwa das Störsystem Krasucha-4. Es wurde offensichtlich in Bergkarabach gegen türkische Bayraktar-TB2-Drohnen und die von Aserbaidschan gekauften israelischen Kamikaze-Drohnen vom Typ Harop eingesetzt.

Dieser „Drohnenkrieg“ ist einer der Faktoren, die das Kräfteverhältnis zwischen Russland und der Türkei in den vielfältigen Konflikten vom Mittelmeerraum bis zum Kaukasus prägen. Durch seine Angriffsdrohnen ist Ankara gegenüber Moskau, das bisher nicht über derartige Waffen verfügt, im Vorteil. Sie sind die türkische Antwort auf die russische Überlegenheit in der Raketentechnologie, die es Moskau erlaubt, den See- und Luftzugang zur Levante und zum Schwarzen Meer abzuriegeln.3

Die Schlagkraft der Drohnen zeigte sich im März in Idlib, als das Gebiet von erbitterten Kämpfen zwischen pro­türkischen Dschihadisten und von Russland unterstützten, regierungstreuen syrischen Truppen erschüttert wurde. Damals hatte Russland große Probleme, seine unter türkischem Drohnenbeschuss stehenden Verbündeten zu schützen. Der Türkei gelang es, Russland die lokale Lufthoheit streitig zu machen. Dies hatte es im Syrienkrieg außerhalb der von den USA östlich des Euphrats kontrollierten Zone noch nie gegeben.

Seit Putin und Erdoğan Anfang der 2000er Jahre an die Macht kamen, verfolgen Moskau und Ankara eine Politik der „Kompartimentierung“, also der separaten Betrachtung von Konflikten. Dieser Ansatz verhinderte etwa, dass die fundamentalen Meinungsverschiedenheiten über die Ukraine das gesamte Verhältnis vergifteten. Nur in der Syrienkrise kam es einmal zu einer Eiszeit, nachdem zwei türkische F-16-Jets Ende November 2015 eine russische Su-24 abgeschossen hatten. Nach einer schriftlichen Entschuldigung Erdoğans entspannte sich die Situation wieder.

Wie sich die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei weiterentwickeln, bleibt offen. Der anhaltende Dissens in der Kurdenfrage, in Bezug auf Zypern, den Donbass und die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer sowie die akuten Krisen, in denen Moskau und Ankara als Kontrahenten auftreten, belasten das Verhältnis. Werden die beiden Länder also am Status quo ihrer Beziehungen festhalten? Oder suchen sie vielleicht doch nach einem umfassenderen Ansatz zur Beilegung ihrer Differenzen?

Letzteres taten sie schon einmal im Juli 2005. Damals sollen Putin und Er­do­ğan bei einem Treffen in Sotschi vereinbart haben, sich gegenseitig im Kampf gegen Separatismus und Terrorismus zu unterstützen. Moskau hatte dabei tschetschenische Kämpfer im Sinn, Ankara militante Kurden.

In jedem Fall verfügen beide Seiten über genügend Erfahrung, um durch ausgehandelte Kompromisse und Kompensationen zu Lösungen zu kommen. Derweil demonstriert Europa in strategischen Fragen im Mittelmeerraum Schwäche, während die USA neue militärische Abenteuer scheuen. All das verschafft Moskau und Ankara zusätzlichen Handlungsspielraum, um die Koexistenz ihrer jeweiligen Interessen zu gewährleisten. Denn eines ist klar: An einer direkten Konfrontation ist keiner der beiden interessiert.

1 Zollbehörde der Russischen Föderation.

2 Rostourim (Tourismusbehörde der Russischen Föderation).

3 Siehe „Streit um das Asowsche Meer“, LMd, Januar 2019.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Igor Delanoë ist stellvertretender Leiter des französisch-russischen Beobachtungsdienstes in Moskau und promovierter Historiker.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2020, von Igor Delanoë