12.11.2020

Friedrich Engels – die Wanderjahre

zurück

Friedrich Engels – die Wanderjahre

Fabrikant, Publizist und Sozialrevolutionär: Friedrich Engels, am 28. November 1820 geboren, steht meist im Schatten seines Freunds und Weggefährten Karl Marx – zu Unrecht, wie diese beiden Würdigungen zu seinem 200. Geburtstag zeigen.

von Peter Kammerer

Karl Marx und Friedrich Engels in der Redaktion der Neuen Rheinischen Zeitung akg-images/Sputnik
Audio: Artikel vorlesen lassen

Das Leben des jungen Friedrich Engels bildet ein Muster, das sich über die Jahrhunderte immer wieder aktualisiert hat: Der Sohn einer wohlhabenden Familie widersetzt sich den väterlichen Plänen und wird zum Rebellen. Mit Beben muss die Mutter in der Zeitung den Steckbrief lesen, mit dem er als Terrorist gesucht wird. In ihren Augen verrät der geliebte Sohn den Glauben an Gott, für den Vater zerstört er die vernünftige soziale Ordnung. Selbst für die Geschwister führen die hehren Ideale ihres ältesten Bruders ihn und die Gesellschaft nur ins Unglück. Er hört auf schlechte Freunde. „Ich wünschte, Du hättest den Marx nie gesehen“, schreibt Elise Engels ihrem Sohn.

Und doch gibt es ein Happy End und Friedrichs Rebellion endet nicht wie bei Karl Moor oder Götz von Berlichingen mit dem Tod als Preis für den Traum von Freiheit. „Dann tafelten wir festlich und tranken Champagner und waren glücklich“, schreibt Eleonor Marx1 über den Augenblick, in dem Friedrich Engels mit 48 Jahren als erfolgreicher Geschäftsmann die Firma, also die väterliche Welt, endgültig verlässt, um sich ausschließlich seinem Lebensziel zu widmen: der Befreiung des Proletariats. Das klingt verdächtig nach Kitsch und dementiert das Klagelied über die deutschen Zustände und das Schicksal derer, die gegen sie rebellieren.

Auch die Biografen haben Mühe, diese Geschichte ohne Vorurteile zu schreiben. Etwas reißerisch präsentiert Tristram Hunt in der interessantesten der aktuellen Biografien Engels nicht nur als „Erfinder des Marxismus“, sondern auch als Meister eines Doppellebens zwischen revolu­tio­närer Arbeit und „kostspieligen Frauen“, Fuchsjagden und Börsengeschäften.

Nüchtern betrachtet müsste man den „Erfinder“ streichen und den Realismus bewundern, mit dem Engels seinen Lebensumständen Rechnung getragen hat, ohne je das große Ziel aus den Augen zu verlieren: den Umsturz aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist.

Vom ersten Konflikt mit dem Vater wissen wir recht wenig. 1837 trägt sich Friedrich Engels senior mit großen Plänen. Er gründet eine Fabrik in Barmen und beteiligt sich an einer Spinnerei in Manchester. Sein 17-jähriger Sohn Friedrich, dem seine Lehrer „religiösen Sinn, Reinheit des Gemütes, gefällige Sitte und andere ansprechende Eigenschaften“ bescheinigen, soll möglichst rasch in die neue Firma eintreten, also das Gymnasium vorzeitig verlassen.

Der Sprung von der Schulbank in das Zen­trum der industriellen Revolution muss den jungen Friedrich trotz der Trauer über den abgebrochenen Bildungsweg auch begeistert haben. Am 1. August 1838 ist er als designierter Juniorchef bei der Unterzeichnung des Gründungsvertrags der Firma Ermen & Engels in Manchester zugegen. Schon die Reise war ein Erlebnis: Mit dem Schiff auf dem Rhein bis Rotterdam, mit dem Raddampfer nach London, dann auf der ersten regulären Eisenbahnstrecke der Welt von Manchester nach Liverpool. Er schreibt seiner Mutter: „Ich bin in eine ganz neue Welt versetzt.“2 Das alte Deutschland der Kleinstaaten und tausend Privilegien, der politischen Ohnmacht und Willkür liegt hinter ihm.

Auf der Rückfahrt setzt ihn sein Vater in Bremen ab. Er soll eine kaufmännische Lehre machen. Friedrich übersteht die zweieinhalb Jahre nur, weil er literarisch zu publizieren beginnt. Unter dem Pseudonym Friedrich Oswald, um nicht mit der Familie in „höllische Schwulitäten“ zu kommen. Im Briefwechsel mit seinen alten Freunden, die später Theologen werden, setzt er sich mit der Religion auseinander und entdeckt Hegel. Er ist tief beeindruckt, „als sich zum erstenmal die Gottesidee des letzten Philosophen vor mir auftat, dieser riesenhafteste Gedanke des neunzehnten Jahrhunderts“ (MEW 41, S. 72). Hegels Geschichtsphilosophie „ist mir ohnehin wie aus der Seele geschrieben“ (MEW 41, S. 435).

Nach Ablauf der Lehrzeit trickst er den Vater aus und verschafft sich eine wertvolle Atempause, indem er sich zum Militärdienst in Berlin meldet. Dagegen kann der Vater nichts einwenden. Ab Herbst 1841 besucht Friedrich die Universität und freundet sich mit den linken Junghege­lia­nern an. Er stürzt sich sofort in die Diskussion um Schellings Antrittsvorlesung und wird nach Veröffentlichung seiner polemischen Broschüre von Arnold Ruge, dem Herausgeber der kurz zuvor in Preußen verbotenen Hallischen Jahrbücher, mit Herr Dr. angeredet. Seine Antwort: „Doktor bin ich übrigens nicht und kann es nie werden, ich bin nur Kaufmann und königlich preußischer Artillerist“ (MEW 27, S. 404).

Schon in Bremen sucht Engels nach einer Literatur, die der Gegenwart Rechnung trägt in ihrem „Ringen nach Freiheit“ (MEW 41, S. 13). Er rezensiert die „Deutschen Volksbücher“ und untersucht ihren „volkstümlichen Wert“, einen Begriff, den Brecht 100 Jahre später trotz aller Tümeleien als unverzichtbar bezeichnen wird. Wenn er nur wenige Jahre später im Northern Star den englischen Arbeitern die deutschen Zustände erklärt, erinnert er an die Literatur als „einzige Hoffnung auf Besserung“. Denn der Drang und der Sturm „der um 1750 Geborenen, der Dichter Goethe und Schiller, der Philosophen Kant und Fichte“ (MEW 2, S. 567) weckten inmitten der Misere „einen Geist des Trotzes und der Rebellion“. Bis die Deutschen am Ende des Jahrhunderts, entsetzt über die Konsequenzen der Französischen Revolution, resignierten und „ihrem alten ruhigen heiligen römischen Dunghaufen den Vorzug vor der gewaltigen Aktivität eines Volkes“ (MEW 2, S. 568) gaben.

In den Jahren vor dem deutschen Frühling von 1848 entspinnt sich unter den jungen Intellektuellen eine interessante Diskussion über Goethe, in die sich auch Engels polemisch einmischt. Es geht um den „Begriff des Menschen, welcher gefunden werden soll“ im „Versöhnungsfest“, das einen „Götz, Werther, Tasso, den Prome­theus-Faust, Eduard und Ottilie, und nicht minder auch ihre Stammverwandten vom Carl Moor, bis zu Tiecks William Lovell und selbst den Hype­rion Hölderlins“ versammelt. So hat es Ferdinand Gregorovius geschildert, Autodidakt wie Engels, der „die sozialistischen Elemente in Goethes Wilhelm Meister“ fruchtbar machen will.3

Engels sieht Goethes größtes Dilemma darin, „in einer Lebenssphäre zu existieren, die er verachten mußte, und doch an diese Sphäre als die einzige, in welcher er sich betätigen konnte, gefesselt zu sein“. Goethe hat seinen Wilhelm Meister bis an die Schwelle einer neuen Welt geführt und mit ihm einen Blick geworfen auf die Krise der Heimindustrie, das neue Maschinenwesen, die utilitaristische Gedankenwelt, die das Tun der Menschen ergreift und die Schönheit bedrängt, auf die sich abzeichnenden Veränderungen im Verhältnis zwischen den Geschlechtern, auf geheime Gesellschaften und soziale Utopien.

Goethes Roman ist nicht nur formal, sondern auch durch die Einnahme verschiedener Standpunkte eine – schon für die Zeitgenossen – schwer zu durchschauende Wirrnis. Ein möglicher Schlüssel zu deren Verständnis liegt in Manchester, dem Ort, an dem man mehr als anderswo die große Umwälzung sehen und erfahren konnte, die Goethe nur ahnungsvoll andeutet.

Hier, in der ersten Hochburg der industriellen Revolution, beginnen im November 1842 die Wanderjahre des Friedrich Engels, auf denen er Mary Burns, Karl Marx und dem „Bund der Gerechtigkeit“ begegnet und die ihn nach Brüssel, Paris, Köln und in die Revolution von 1848/49 führen.

Schon in Berlin kommen die Junghegelianer, unter denen sich Engels bewegt, im Laufe des Jahres 1842 zur Überzeugung, dass politische Veränderungen unzureichend seien: Eine „soziale Revolution auf der Grundlage des Gemeineigentums“ sei „der einzige gesellschaftliche Zustand“, der sich mit ihren philosophischen Grundsätzen vertrage.

Sprung von der Schulbank ins Zentrum der industriellen Revolution

Engels wird Mitarbeiter der Rheinischen Zeitung, unter der Leitung von Marx das führende Blatt der demokratischen Opposition in Deutschland. Moses Hess propagiert eine europäische Arbeitsteilung, nach der Frankreich die politische, Deutschland die philosophische und England die soziale Revolution vorantreiben würde. Auch Engels ist überzeugt, dass in England die „soziale Revolution“ unmittelbar bevorsteht, und akzeptiert das Angebot des Vaters, in die Firma nach Manchester zu gehen.

In England erlebt er unmittelbar die „gewaltige Aktivität eines Volkes“, vor der Goethe zurückgeschreckt war. Seit zehn Jahren agiert und wächst die chartistische Bewegung, der erste Versuch eines modernen Industrieproletariats, sich selbst zu organisieren. 1839 legen die Chartisten dem Unterhaus eine von 1,3 Millionen Menschen unterzeichnete Petition zur Reform des Wahlrechts vor; es kommt zu meist festlichen Demonstrationen mit bis zu 100 000 Teilnehmern; Zeitschriften und Bildungseinrichtungen werden gegründet. Engels stellt fest: „Shelley, der geniale prophetische Shelley, und Byron mit seiner sinnlichen Glut und seiner bittern Satire der bestehenden Gesellschaft haben ihre meisten Leser unter den Arbeitern; die Bourgeois besitzen nur kas­trier­te Ausgaben“ (MEW 2, S. 455). Die Arbeiter bilden „eine eigne Klasse mit eignen Interessen und Prinzipien, mit eigner Anschauungsweise gegenüber allen Besitzenden“ und sind sich bewusst, „daß in ihnen die Kraft und die Entwicklungsfähigkeit der Nation ruht“ (MEW 2, S. 455).

Die Neuheit und Macht dieser Bewegung, ihre Ästhetik und politische Moral machen auf Engels einen ungeheuren Eindruck. Trotz der Anwendung von Gewalt. Es gibt sogar Versuche, Fabriken in die Luft zu sprengen, und Taten, „die nur durch einen bis zur Verzweiflung gesteigerten Haß, durch eine wilde, alle Schranken durchbrechende Leidenschaft zu erklären sind“ (MEW 2, S. 437). Engels sieht in diesem Hass das rohe Mittel, in einem auf die tierische Existenz reduzierten Leben menschliche Gefühle und Bedürfnisse zu entwickeln. Sein Verständnis von Hass und Gewalt als soziale Prozesse verweist jede moralische Beurteilung in den Hintergrund.

Dieses Verständnis durchdringt/imprägniert auch die wissenschaftliche Methode, die Engels bei der Untersuchung der Lage der arbeitenden Klassen in England anwendet.

Er entdeckt das „Fabriksystem“, das Geheimnis der industriellen Revolution. Er findet in Mary Burns, einem „Manchester (Irish) factory girl“, seine große Liebe. Jahre später wird er über ihre Schwester Lizzie (und sie) sagen: Das „leidenschaftliche Gefühl für ihre Klasse, das ihnen angeboren war, war mir unendlich mehr wert und hat mir in allen kritischen Momenten stärker beigestanden, als alle Schöngeisterei und Klugtuerei der jebildeten und jefühlvollen Bourgeoistöchter gekonnt hätten“ (MEW 38, S. 298).

Das Bild der „proletarischen Frau“, das sich Engels macht, entspricht sehr konkreten Erfahrungen und hat wenig Ideologisches. In Manchester hat Engels auf dem Höhepunkt der chartistischen Bewegung den „Menschen“ getroffen, dessen Begriff im „Versöhnungsfest“, von dem Gregorovius ein paar Jahre später spricht, noch gefunden werden sollte. „Ich fand“, schreibt Engels den Arbeitern, denen er sein geniales Frühwerk widmet, „daß ihr Menschen seid, Angehörige der großen und internationalen Familie der Menschheit, die erkannt haben, daß ihre Interessen und die der ganzen menschlichen Rasse die gleichen sind, … als Glieder dieser Familie der einen und unteilbaren Menschheit, als menschliche Wesen in der nachdrücklichsten Bedeutung des Wortes“ (MEW 2, S. 230f.).

Engels kehrt im Sommer 1844 nach Deutschland zurück. Auf dem Rückweg begegnet er in Paris Karl Marx und es entsteht eine der folgenreichsten Freundschaften der Geschichte. Im väterlichen Betrieb hält er es nicht mehr aus. „Der Schacher ist zu scheußlich, Barmen ist zu scheußlich, die Zeitverschwendung ist zu scheußlich, und besonders ist es zu scheußlich, nicht nur Bourgeois, sondern sogar Fabrikant, aktiv gegen das Proletariat auftretender Bourgeois zu bleiben“ (MEW 27, S. 18). Im Konflikt mit der Familie, die nie aufhört, ihn zu unterstützen, geht er zu Marx nach Brüssel, dann nach Paris, um dort die zahlreichen Bünde der deutschen und französischen Arbeiter (meist Handwerker) zu organisieren.

1848 arbeitet er in Köln an der Neuen Rheinischen Zeitung mit, dem Organ der Revolution. Nach deren Scheitern flieht er über die Schweiz und Genua nach London und muss, um sich und vor allem die Familie Marx finanzieren zu können, Ende 1850 einen Kompromiss mit dem Vater eingehen: zurück ins Kontor nach Manchester.

Es wird knapp 20 Jahre dauern, bis er die Firma verlassen kann. Das Happy End kommt am 30. Juni 1869. Eleonor Marx hat es so beschrieben: „Ich werde niemals das triumphierende zum letzten Mal vergessen, das er ausrief, als er seine Röhrenstiefel am Morgen anzog, um zum letzten Mal seinen Weg zum Geschäft zu nehmen. … Er schwang seinen Stock in der Luft und sang und lachte mit dem ganzen Gesicht. Dann tafelten wir festlich und tranken Champagner und waren glücklich.“

1 Zitiert nach: „Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels“, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Dietz Verlag) 1965.

2 London, 26. Juli 1838; erstmals veröffentlicht in: „Ergänzende Materialien zum Briefwechsel von Marx und Engels bis April 1846 (zu MEGA III,1), in: Marx-Engels-Jahrbuch 13 (1991).

3 Ferdinand Gregorovius, „Göthe’s Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen entwickelt“, Königsberg 1849.

Peter Kammerer ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Urbino.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Peter Kammerer