12.11.2020

Waffen für alle

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Waffen für alle

Die US-amerikanische National Rifle Association verteidigt ihr Anliegen mit miesen Tricks und aberwitzigen Argumenten

von Deborah Friedell

Gedenken an die Opfer des Amoklaufs an der Columbine High School 1999 ERIC GAY/picture alliance/ap photo
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Vor 20 Jahren wusste die National Rifle Association (NRA) noch nicht, wie sie nach einer Massenschießerei reagieren sollte. Mittlerweile beherrscht sie das Protokoll aus dem Effeff.

An Anlässen war ja auch kein Mangel. Erste NRA-Regel: Mund halten, Veranstaltungen und Interviews absagen, keine Reaktionen auf Twitter- und Facebook. Zweite Regel: Wenn der Druck zunimmt, erklärt man: „Jetzt ist die Zeit des Trauerns, nicht für Parteipolitik.“ Oder: „Die Antiwaffenfanatiker beuten diese Tragödie aus, um ihr Antifreiheitsprogramm durchzusetzen.“ Zugleich bearbeiten die Spendeneintreiber der NRA sämtliche 5 Millionen Mitglieder mit der Botschaft: Diesmal wird’s ernst. Jetzt nehmen euch die Liberalen eure Waffen weg. Also spendet, was immer ihr entbehren könnt, dem „sichersten Hort der Freiheit“, sprich: der NRA!

Die Mitglieder wiederum sind längst dabei, ihre Kongressabgeordneten anzurufen und aufzufordern, dass sie die Freiheit, eine Waffe zu tragen, mit allen Mitteln verteidigen. Umfragen zufolge sind 60 Prozent der US-Bevölkerung für strengere Waffengesetze, aber die meisten Anrufer im Kongress gehören nicht zu dieser Mehrheit. Die NRA rät übrigens ihren Mitgliedern, die Politiker am Telefon weder zu bedrohen noch sich als NRA-Gefolgsleute zu outen, denn: „Leider sind viele Antiwaffen-Politiker der irrigen Annahme, dass NRA-Leute nur sagen, was ihnen die NRA vorsagt.“

Allerdings kriecht die NRA nach einem Massaker auch nicht mehr zu Kreuze, wie noch 1999 nach Columbine. Damals räumte der sichtlich nervöse Vorsitzende Charlton Heston ein, jeder Käufer einer Schusswaffe müsse sich einer Überprüfung unterziehen und in Schulen sollten Waffen nicht erlaubt sein. Beides nahm er ein paar Jahre später wieder zurück.

Bei Journalisten kommt die NRA mit Schweigen und Ablenken in der Regel durch. Aber wenn eine Massenschießerei besondere Aufregung auslöst oder wenn sogar verbündete Republikaner andeuten, dass „ein paar vernünftige Waffengesetze“ gar nicht so abwegig seien, geht die Vereinigung vor die Mikrofone, am besten mit einer attraktiven jungen Mutter. Die klärt dann auf: Waffengesetze nützen nichts, sie hindern nur gesetzestreue Leute daran, ihre Kinder zu beschützen, Kriminelle finden immer Mittel und Wege, an Waffen zu kommen. In Chicago haben sie die strengsten Waffengesetze, und was bringt ihnen das? Über hundert Amerikaner kommen jeden Tag durch Autos um – wollt ihr deshalb Autos verbieten? Und sollen sich Frauen gegen Mörder und Vergewaltiger mit dem Messer wehren? Am Ende zitiert die attraktive Mutter noch Wayne LaPierre, den geschäftsführenden Direktor der NRA: „Gegen den bad guy mit Schusswaffe hilft nur ein good guy mit Schusswaffe.“

Als im Dezember 2012 in der Sandy Hook Elementary School 26 Menschen erschossen wurden (zumeist 6- und 7-jährige Kinder), schlug LaPierre vor, die Schule durch „einen Spezialtrupp“ bewaffneter Bürger bewachen zu lassen. Schließlich würden auch Obamas Töchter mit Waffen geschützt. „Sind die Kinder des Präsidenten wichtiger als eure?“, hieß es in einem NRA-Werbespot.

Als im Februar 2018 in einer High School in Parkland, Florida, 17 Menschen erschossen wurden, forderte LaPierre die Bewaffnung des Lehrpersonals. Daraufhin wurde in den Nachrichtensendern debattiert, ob die Schießausbildung der Lehrer aus Bundesmitteln zu finanzieren sei. Gun control, also Einschränkung des Waffenbesitzes, war kein Thema. Im folgenden Monat vermeldete die NRA die höchste Spendensumme seit 15 ­Jahren.

LaPierre behauptet, das Schießen liege den Amerikanern im Blut, Waffenbesitz sei ein ihnen von Gott verliehenes „Geburtsrecht“. Über die Geburt der NRA selbst kann man in einem neuen Buch von Frank Smyth1 nachlesen, dass Veteranen des Unionsheers mit Entsetzen feststellten, wie wenige Amerikaner wirklich schießen konnten. Für den Gründer George Wingate, Soldat der New Yorker Nationalgarde, „zeigte der Bürgerkrieg mit blutiger Klarheit, dass Soldaten wenig taugen, die nicht richtig schießen können. Darüber und über die allgemeine Unkenntnis der Schießkunst, die ich im Bürgerkrieg bei unseren Soldaten bemerkte, war ich zutiefst bestürzt.“

Wingate ging auch davon aus, dass die Amerikaner irgendwann in einen europäischen Krieg ziehen und keine Chance haben würden, insbesondere gegen die Preußen mit ihren überlegenen Hinterladergewehren. Sein Vorbild war die britische National Rifle Association. Sie wurde 1859 gegründet, und im Juli 1860 feuerte Queen Victoria persönlich bei der ersten NRA-Versammlung auf dem Wimbledon Common den Eröffnungsschuss ab.2

Smyth schildert, wie Wingate nach London reiste, um die Schießwettkämpfe der britischen NRA zu studieren, die ihm als Vorbild für die 1871 gegründete amerikanische NRA diente. Weshalb er auf Long Island das Wimbledon Common nachbauen ließ. Die NRA in den USA war ein privater Verein, wurde aber großenteils von der Regierung finanziert. Günstig wirkte sich aus, dass Ulysses S. Grant, der Oberbefehlshaber der Unionsstreitkräfte im Sezessionskrieg, kurz vor seinem Tod Vorsitzender wurde. Die Armee finanzierte der NRA ihre Schießwettbewerbe und überließ ihr überzählige Militärbüchsen zum Selbstkostenpreis. Auch erhielt die NRA, als die Überfälle auf Züge überhand nahmen, von der Regierung den Auftrag, Schießkurse für das Personal der Postzüge abzuhalten.

Jahrzehntelang hat sich die Organisation um die Waffengesetzgebung kaum gekümmert. Und als zur Zeit der Prohibition immer mehr Verbrechen mit Schusswaffen begangen wurden, räumte sie ein, dass „strengere Vorschriften beim Verkauf und Gebrauch von Feuerwaffen unvermeidlich“ seien. 1934 war sie für den National Firearms Act, das erste Bundesgesetz zum Waffenrecht, wie auch für die Besteuerung von Waffen und Munition.

Im Zweiten Weltkrieg lieferte die NRA nach der Evakuierung der britischen Truppen aus Dünkirchen – also noch vor Kriegseintritt der USA – tausende Gewehre an die britische Polizei und die Home Guard. Churchill bedankte sich offiziell.

All diese durchaus ehrenwerten Dinge spielen in der Selbstdarstellung der NRA keine Rolle. Ihre Repräsentanten erzählen in Interviews und offiziellen Reden gern eine andere Version ihrer Gründungsgeschichte. Demnach wurde die Vereinigung von Veteranen der Unionsarmee ins Leben gerufen, „um schwarzen Amerikanern beizubringen, sich zu bewaffnen und gegen den Ku-Klux-Klan zu verteidigen“.

Ganz auf dieser Linie feiert sich die NRA seit geraumer Zeit als „Amerikas älteste Bürgerrechtsorganisation“. Nun stimmt es zwar, dass schwarze Veteranen der Unionisten ihre Gewehre häufig nicht abgaben und dass der Ku-Klux-Klan die Häuser durchsuchte und Männer, die ihre Waffen behalten hatten, zu lynchen pflegte. Doch es gibt keinerlei Belege dafür, dass die NRA diesen Schwarzen jemals geholfen hätte.

Seit manche Mitglieder auf gewisse Gemeinsamkeiten mit der White-Power-Bewegung hingewiesen haben, entdeckt die NRA-Spitze „die rassistische Geschichte der Waffengesetzgebung“: Rassistische Polizisten verweigerten Schwarzen einen Waffenschein. Gesetze, die das offene Tragen von Waffen erlaubten (open carry), wurden flugs revidiert, nachdem die Black Panther mit geladenen Gewehren durch Regierungsviertel marschiert waren.

Die NRA setzt auch alles daran, Martin Luther King zu vereinnahmen. Dass dem prominentesten Anwalt der Gewaltlosigkeit der USA in Alabama ein Waffenschein verweigert wurde, macht ihn nachträglich zum „Opfer der Waffengesetze“. Hätte der good guy nur selbst ein Schießwerkzeug gehabt, als ihn die tödliche Kugel aus einer Remington Model 760 Gamemaster traf …

Die Ermordung John F. Kennedys ist da eine härtere Nuss. Denn am 22. November 1963 fehlte es in der Wagenkolonne des Präsidenten nicht an bewaffneten good guys, und Lee Harvey Oswald hatte sein billiges Carcano-Gewehr nach dem Studium der Anzeigenseiten im NRA-Monatsmagazin American Rifleman per Post geordert. Nach dem Attentat plädierte der damalige NRA-Geschäftsführer Franklin Orth für die Einschränkung von Waffenkäufen über Versand. Er opponierte auch nicht groß gegen den Gun Control Act von 1968, das „den Privathandel über die einzelstaatlichen Grenzen hinweg“ ebenso untersagte wie „Verkäufe an Jugendliche, verurteilte Straftäter und gesetzlich für unzurechnungsfähig erklärte Individuen“.

Präsident Lyndon B. Johnson hatte weit strengere Beschränkungen gewollt, aber auch das verwässerte Gesetz brachte die NRA-Hardliner in Rage, die prompt das Verbot zwischenstaatlicher Verkäufe zu Fall brachten. Ein Vorstandsmitglied namens Neal Knox machte für die Ermordung Kennedys gar kommunistische Gun-Control-Aktivisten verantwortlich, die Amerika entwaffnen wollten.

Damals gab es in dem Verband zwei Gruppen: Die Jäger und Sportschützen interessierten sich vornehmlich für die Sicherheit im Umgang mit Schusswaffen und für Umweltfragen. Sie wollten die NRA-Zentrale nach Colorado Springs verlegen, während die Mitglieder, die Waffen zur Selbstverteidigung besaßen, in Washington bleiben wollten. Welche Fraktion gewann, ist bekannt.

Johnson hat der NRA stets vorgeworfen, die Schaffung eines nationalen Waffenregisters verhindert zu haben. Die machte seine Vorschläge als „irrational und gefühlsduselig“ nieder. Angesichts der steigenden Kriminalitätsrate dienten Schusswaffen dem Selbstschutz, ihre obligatorische Registrierung sei unamerikanisch. Denn die Registrierung von Waffen ist für die NRA der erste Schritt zu ihrer Beschlagnahmung. Als Ben Carson 2016 Präsidentschaftskandidat der Republikaner werden wollte, argumentierte er gegen Waffenkontrolle sogar mit dem Holocaust: Die deutschen Juden hätten sich, wenn man ihnen ihre Waffen gelassen hätte, erfolgreich gegen die Nazis wehren können.

Damals dachte ich: Typisch Ben Carson. Irrtum: Es ist typisch NRA. Auf ihrer Webseite oder in von ihr finanzierten Publikationent3 taucht immer wieder die Behauptung auf, Gun Control sei der gemeinsame Nenner aller Genozide. Von Hitler über Stalin bis zu Pol Pot hätten alle Massenmörder des 20. Jahrhunderts ihre Verbrechen erst begehen können, nachdem sie die zur Vernichtung bestimmten Menschen entwaffnet hätten. Das Register bringe das Leben der Waffenbesitzer in Gefahr. Bei einem Staatsstreich werde es zur Liste potenzieller Widerstandskämpfer, denn Leute, die mit Waffen umgehen können, werden als Erste verhaftet.

Laut NRA sind Waffen also nötig, um Widerstand zu leisten, wenn die eigene Regierung faschistisch oder kommunistisch wird, aber auch, um Völkermorde zu verhindern oder um sich selbst zu schützen, wenn es gar keine Regierung gibt. „Heute haben die Leute im ganzen Land Angst, dass sie von ihrer Regierung im Stich gelassen werden“, meint LaPierre. Wenn sie in Gefahr sind, etwa bei einem Hurrikan oder bei Straßenunruhen, „können sie sich nur noch mit einer Schusswaffe schützen“.

Ein NRA-Fernsehspot verbreitete die Behauptung, der Kongress wolle tausende Drogenhändler aus den Gefängnissen entlassen. In dem Spot kam keine einzige Waffe vor, das war gar nicht nötig. NRA-Mitgliedern wissen: Die Lage mag schlimm sein, aber wir leben wenigstens nicht in einem Land mit strengen Waffengesetzen. Die ehemalige NRA-Sprecherin Dana Loesch schreibt in ihrem Buch „Hands Off my Gun“, in Großbritannien sei die Zahl der Gewaltverbrechen sprunghaft gestiegen, seit die Täter gemerkt hätten, dass sie rauben und vergewaltigen können, „ohne Angst haben zu müssen, dass ihre Opfer sich mit denselben Mitteln verteidigen können“.

In den USA gibt es vermutlich 400 Millionen Schusswaffen „in Privatbesitz“. Obwohl keine Register existieren, geben 43 Prozent der Bevölkerung an, dass es in ihrer Wohnung eine Waffe gibt, wenn auch nicht unbedingt in ihrem Besitz. Und die Zahlen steigen rapide. Die Angst vor der Pandemie und den Black-Lives-Matter-Protesten haben die Waffenkäufe mehr ansteigen lassen als der Anschlag von 9/11, sogar mehr als die Wahl Obamas und der Amoklauf von Sandy Hook, als viele Leute sich schnell noch mit Waffen eindecken wollten, weil sie befürchteten, der Kauf würde demnächst verboten.

Obwohl die Gesetzgebung der Einzelstaaten uneinheitlich und lückenhaft bleibt, ist die Bundespolizei FBI bei jedem Kauf einer Waffe von einem lizenzierten Händler zur Überprüfung verpflichtet – die allerdings nur ein paar Minuten dauert. Im Jahr 2019 gab es insgesamt 28,4 Millionen Checks; 2020 waren es bis Ende August schon 25,9 Millionen. Und die Weihnachtseinkäufe stehen noch bevor!

Im Januar und Februar 2020 erwarben US-Bürger pro Tag zwischen 80 000 und 100 000 Waffen. Als Trump im März den nationalen Notstand ausrief, sprang die Zahl auf 176 000, und als Ende Mai George Floyd getötet wurde, legte sie noch einmal zu. Smith & Wesson, der größte Produzent von Handfeuerwaffen, hatte das beste Geschäftsquartal aller Zeiten und die Waffenläden meldeten Lieferengpässe bei der Munition.

Zu Recht hält sich die NRA einen Teil dieses Rekords zugute. Mit ihrer Lobbyarbeit und durch gerichtliche Klagen setzte sie durch, dass Waffenläden als „systemrelevant“ eingestuft und damit von Lockdowns ausgenommen wurden. Denn was könnte „systemrelevanter“ sein als der Selbstschutz der Bürgerinnen und Bürger!

Gegen diese Regelung setzte sich der Gouverneur von New York, Andrew Cuomo, juristisch erfolgreich zur Wehr; andere demokratische Gouverneure kuschten. Für die Demokraten kann es von Vorteil sein, von der NRA attackiert zu werden, weil das ihre Glaubwürdigkeit – zumindest bei linken Wählern – erhöht. Aber auch bei den Republikanern gibt es Politiker, die auf eine Unterstützung durch die NRA keinen Wert legen. Das galt etwa für George W. Bush, der die Stimmen von Frauen aus der Mittelschicht nicht verlieren wollte.

Dabei sind die Summen, mit denen die NRA bestimmte Politiker direkt unterstützt, relativ bescheiden: für Abgeordnete des Repräsentantenhauses oft weniger als 10 000 Dollar, für Senatoren etwas mehr. Doch wenn die NRA-Zentrale spendet, spenden auch die Mitglieder, in der Regel weiße Männer in ländlichen Regionen, die verlässlich für die Republikaner stimmen – wenn sie denn wählen gehen. Die NRA berichtet stolz, dass sie ihre Mitglieder auf vielfache Weise bearbeitet, sich in die Wählerlisten einzutragen und zur Urne zu gehen. Und sie schafft es immer wieder, einem gewissen Männertyp einzureden, dass sie ihn und seine Werte repräsentiere, selbst wenn er sich persönlich nichts aus Waffen macht.

Der langjährige NRA-Präsident Charlton Heston wurde auch deshalb mehrfach wiedergewählt, weil er in Interviews knallharte Sätze heraushaute: „Der Himmel stehe ihm bei – dem gottesfürchtigen, gesetzestreuen, weißen, bürgerlichen, protestantischen oder gar evangelikalen Christen im Mittleren Westen oder im Süden oder gar auf dem flachen Land, dem offen oder gar bekennenden Heterosexuellen, der eine Waffe besitzt oder, schlimmer noch, ein NRA-Mitglied ist, oder am allerschlimmsten: ein männlicher ehrlicher Malocher. Dann bist du, Kollege, nicht nur überflüssig, sondern eine regelrechte Gefahr, ein Hindernis auf dem Weg zum gesellschaftlichen Fortschritt!“

Heston ist seit zwölf Jahren tot, aber bis heute zitieren NRA-Mitglieder seinen Ausspruch: „Meine Waffe kriegst du nur, wenn du sie meinen kalten toten Händen entwindest.“

Aber was ist mit den schwarzen Waffenbesitzern, fühlen die sich auch sicherer? Philando Cas­tile wurde im Juli 2016 bei einer Verkehrs­kontrolle erschossen. Vorher hatte er den Polizisten gesagt, er habe eine angemeldete Waffe im Auto, also nicht am Körper. Nach dem „unglücklichen Vorfall“ twitterte NRA-Sprecherin Dana Loesch, Castile hätte die Hände nicht bewegen sollen, um seinen Führerschein herauszuziehen. „Ich wurde auch schon angehalten, als ich meine Waffe dabeihatte, aber ich hatte meinen Führerschein parat, bevor der Polizist ans Auto trat. Nicht ohne Grund bringen sie einem das im Unterricht bei.“

Als die Polizei Tamir Rice tötete, einen 12-jährigen schwarzen Jungen, der ein Spielzeuggewehr schwenkte, meinte Loesch, der Junge hätte eben nicht „eine allgemeine Respektlosigkeit gegenüber den Gesetzeshütern“ demonstrieren sollen.

Spenden aus Deutschland für die Waffenlobby

Präsident Obama räumte 2015 ein, dass es in den USA nun mehr Waffen gab als zu Beginn seiner Amtszeit. Im selben Jahr spendete die NRA für Trumps Wahlkampagne die Rekordsumme von 30 Millionen Dollar.

Der neue Präsident schien seine Gönner nur einmal zu enttäuschen. Nach einigen Massenschießereien während seiner Amtszeit erklärte er, Demokraten und Republikaner sollten sich einigen und die personelle Überprüfung bei Anträgen auf Waffenlizenzen verschärfen. Aber dann twitterte LaPierre, er habe mit dem Präsidenten gesprochen und es sei alles in Butter: „Wir haben über die beste Art diskutiert, wie solche Tragö­dien zu vermeiden sind.“ Und Trump meinte auf einmal, die bestehenden Checks seien doch wirklich „sehr, sehr scharf“.

Trump gab übrigens offen zu, dass er von der Waffenlobby gekauft ist: „Viele Leute, die mich dahin gebracht haben, wo ich bin, sind vehemente Verfechter des Second Amendment.“ Entsprechend sagte er über die Massaker: „Den Abzug betätigen psychische Krankheiten und Hass, und nicht die Waffe.“ Man müsse nur mehr psychiatrische Anstalten bauen.

Finanziell war Trumps Wahlsieg für die NRA übrigens eine Katastrophe. Die Mitglieder waren es zufrieden, dass im Weißen Hause ein Verbündeter saß. Ihre Spenden gingen um 35 Millionen Dollar zurück. „Je erfolgreicher wir sind, desto weniger Geld nehmen wir ein“, wird ein Vorstandsmitglied von der New York Times zitiert. Die NRA musste Leute entlassen und wurde zunehmend von den Großspenden der Waffenindustrie abhängig, die mindestens 60 Prozent ihrer Einnahmen ausmachen.

Das Geld kommt nicht nur von einheimischen Spendern. Ein Viertel der in den USA verkauften Waffen sind europäische Produkte. Aus Österreich (Glock), Deutschland (SIG Sauer) und Italien (Beretta) flossen und fließen zur Pflege des größten Exportmarktes zig Millionen Dollar an die NRA.

Die Interessen von Waffenkäufern und -verkäufern gehen allerdings nicht immer zusammen. Ich habe mich oft gefragt, warum die NRA das Recht zum Tragen einer verborgenen Waffe höher bewertet als das Recht, sie offen zu zeigen. Erst aus dem glänzenden Buch „The Last Gun“ von Tom Diaz4 habe ich gelernt, dass Waffenhersteller oft besser an den Accessoires verdienen, also an Gürtelholstern, Knöchelholstern, Westen mit Spezialtaschen oder veganen „Leder“handtaschen mit Waffenfächern.

Dass die NRA in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgt, zeigte sie auch bei einer wichtigen Entscheidung des Supreme Court. Der hatte in seinem Urteil im Fall District of Columbia v. Heller vom 26. Juni 2008 entschieden, dass US-Bürgerinnen und Bürger gemäß dem Second Amendment ein Recht auf Waffen zur Selbstverteidigung in ihren Wohnungen besitzen. Nach Symth beruhte das Mehrheitsvotum der Richter zum Teil auf der Arbeit eines Rechtswissenschaftlers, der auf der Gehaltsliste der NRA stand – eine clevere Investition.

Noch aufschlussreicher ist ein Detail, das der Verfassungsrechtler Adam Winkler aufgedeckt hat.5 Ihm zufolge war die NRA sehr bemüht, die Vorkämpfer eines vollständig liberalisierten Waffenrechts daran zu hindern, die Causa Heller bis zum Supreme Court zu betreiben. Die Organisa­tion befürchtete nämlich,ein glatter Sieg in letzter Instanz könnten ihre Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen drücken. Ein ehemaliger NRA-Lobbyist plauderte gegenüber Winkler aus: „Am effektivsten bringt man die Geldbeschaffungsmaschine zum Brummen, wenn man den treuen Anhängern einredet, dass sie als ein Pro-Waffen-David einem übermächtigen Anti-Waffen-Goliath gegenüberstehen.“

Die NRA gibt ihr Geld nicht nur für ihre Kampagne zur Wählerregistrierung aus. Seit August dieses Jahres beschuldigt die Generalstaatsanwältin des Staates New York, Letitia James, einige NRA-Funktionäre und insbesondere LaPierre, „karitative Gelder zu ihrem eigenen Vorteil und Gebrauch“ abgezweigt zu haben. Ihre Anklageschrift liest sich wie eine Chronik des Luxus: Privatjets, Jachten, Safaris; 12 332,75 Dollar NRA-Geld für einen Kurzurlaub von LaPierres Nichte; 16 359 Dollar für Haar- und Make-up-Stylisten von LaPierres Gattin. Eine LaPierre-Assistentin finanzierte sogar die Hochzeit ihres Sohns über das Spesenkonto.

Die NRA hat Gegenklage wegen Amtsmissbrauchs eingereicht, da die Generalstaatsanwältin nur darauf aus sei, „sie als Interessenvertretung zum Schweigen zu bringen“. Das alles sei Teil einer liberalen Verschwörung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, mit dem Ziel, die NRA finanziell auszutrocknen und letztlich zu zerschlagen.

Das erklärte Ziel von Letitia James ist tatsächlich die Auflösung der NRA. Wahrscheinlicher ist jedoch ein Führungswechsel. Wayne LaPierre ist amtsmüde, und seine Nachfolger werden es sich zweimal überlegen, ob sie Friseurrechnungen aus der NRA-Kasse begleichen.

In ihrer neuesten Werbekampagne ruft die Vereinigung zu Spenden auf, damit sie den Kampf gegen den „Machtapparat der New Yorker Demokraten aufnehmen“ kann. Derzeit meldet sie täglich 1000 neue Mitglieder.

1 Frank Smyth, „The NRA: The Unauthorised History“, New York (Flatiron Books) 2020.

2 Die britische NRA existiert bis heute, will aber mit der gleichnamigen Organisation in den USA nichs zu tun haben.

3 Zum Beispiel das Buch des NRA-Anwalts Stephen P. Halbrook, „Fatales Erbe: Hitlers Waffengesetze: die legale Entwaffnung von Juden und ‚Staatsfeinden‘ im ‚Dritten Reich‘“, Berlin (Berlin Story Verlag) 2016.

4 Tom Diaz, „The Last Gun: How Changes in the Gun Industry Are Killing Americans and What It Will Take to Stop it“, New York (The New Press) 2016.

5 Adam Winkler, „Gunfight: The Battle Over the Right to Bear Arms in America“, New York (W.W. Norton) 2011.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Deborah Friedell ist Redakteurin und Autorin bei der London Review of Books.

© LRB; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Deborah Friedell