12.11.2020

Klares Urteil

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Klares Urteil

Das Ende der griechischen Neonazipartei Chrysi Avgi ist juristisch besiegelt. Ihre Spitzenfunktionäre wandern für Jahre ins Gefängnis

von Jiannis Papadopoulos

Antifaschistische Kundgebung vor dem Athener Berufungsgericht am Tag der Urteilsverkündung MICHALIS KARAGIANNIS/picture alliance
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Magda Fyssa hat seit Beginn des Strafprozesses gegen die Chrysi Avgi im April 2015 viele einsame Tage im Gerichtssaal verbracht. Mit den Aussagen der Zeugen und der Angeklagten und mit den Plädoyers der Verteidiger hat sie die Nacht, in der ihr Sohn Pavlos ermordet wurde, noch einmal durchlebt.

Doch am Tag der Urteilsverkündung, dem 7. Oktober 2020, war sie nicht allein. Tausende hatten sich vor dem Athener Berufungsgericht versammelt und warteten mit Bangen auf das Urteil. Als die Vorsitzende Richterin Maria Lepenioti die Entscheidung verkündet hatte, lief Magda Fyssa aus dem Gerichtssaal und rief, die Fäuste in den Himmel gereckt: „Pavlos, du hast es erreicht, mein Sohn, du hast es erreicht!“

Die dreiköpfige Strafkammer befand einstimmig, dass die neonazistische Partei Chrysi Avgi, die in den Jahren zuvor bis zu 440 000 Wählerstimmen bekommen und 21 Parlamentssitze erlangt hatte, eine kriminelle Organisation darstellt. Das Gericht verurteilte Parteifchef Nikos Michaloliakos und sechs weitere ehemalige Parlamentsabgeordnete – darunter den Europa-Abgeordneten Yiannis Lagos1 – zu Gefängnisstrafen von 13 Jahren. 11 Ex-Parlamentarier erhielten als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung 5- bis 7-jährige Haftstrafen.

Der Ausgang dieses komplizierten Prozesses war bis zum Schluss höchst ungewiss. Es war ein Verfahren, das in der griechischen Rechtsgeschichte ohne Vorbild ist – nicht nur wegen seiner politischen Bedeutung, sondern auch wegen der großen Zahl der Angeklagten und des Umfangs des Beweismaterials. Der Prozess begann mit 68 Angeklagten, darunter 18 ehemaligen Parlamentsabgeordneten. Als Zeugen der Anklage traten mehr als 130 Personen auf. Zum Beweismaterial gehörten Aufnahmen von Überwachungskameras, hunderte SMS-Nachrichten und Telefongespräche, gedrucktes Material der Neonazis sowie Fotos und Videoaufnahmen, die dokumentieren, wie die Angeklagten die Nazis und Hitler verherrlichten.

Als der Prozess am 20. April 2015 in einem speziell eingerichteten Saal des Athener Korydallos-Gefängnisses2 begann, gab es noch organisatorische Probleme, doch mit der Zeit spielte sich das ein. Es war das längste Verfahren der griechischen Justizgeschichte. Über die fünfeinhalb Jahre ließ das Interesse der Öffentlichkeit merklich nach. Nur Magda Fyssa versäumte keinen einzigen Verhandlungstag. „Es macht mir nichts, dass ich allein bin“, erklärte sie mir 2017 bei einem Besuch. „Ich bin ja nicht da, um zu demonstrieren, dass ich eine Menge Sitzfleisch habe, sondern weil ich es Pavlos schuldig bin. Aber dieser Prozess betrifft nicht nur mich, er betrifft ganz Griechenland.“

Der antifaschistisch engagierte Hip-Hop-Musiker Pavlos Fyssas wurde in den Morgenstunden des 18. September 2013 ermordet. In dieser Nacht zeichneten die Überwachungskameras von vier Geschäften auf, wie sich ein Motorradkonvoi von Chrysi-Avgi-Leuten durch die Straßen des Stadtbezirks Keratsini bewegt. Vom Büro der Neonazipartei im benachbarten Viertel Nikaia aus steuerten sie ihr Ziel an: eine Taverne, in der Pavlos Fyssas mit seinen Freunden saß. Giorgos Roubakias war es, der Fyssas mit Messerstichen ins Herz und in den Magen tödliche Verletzungen beibrachte. Dafür wurde er zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt.

Der Mord an Fyssas war nicht die einzige Gewalttat von Mitgliedern der neonazistischen Organisation. Im Juni 2012 hatte ein Chrysi-Avgi-Trupp in Perama, einem Vorort von Piräus, nachts ein Haus überfallen, in dem ägyptische Fischer wohnten. Einen von ihnen, Abu­zid Ebarak, schlugen die Eindringlinge so zusammen, das er halbtot liegen blieb. „Sein ganzer Körper war blau geprügelt, sein Kiefer dreifach gebrochen“, erzählte mir damals einer seiner Mitbewohner.

Im Januar 2013 ermordeten zwei Chrysi-Avgi-Mitglieder den pakistanischen Migranten Shehzad Lukman. Und nur wenige Tage vor dem Mord an Fyssas überfiel eine 50 Mann starke Schlägertruppe linke Gewerkschafter, die in dem Werftgebiet von Perama Plakate klebten. Neun von ihnen wurden mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert.

Eine neue rechtsradikale Partei sitzt schon im Parlament

Diese und viele andere kriminelle Handlungen von Anhängern, Mitgliedern und Funktionären der Neonazi-Organisation waren den griechischen Behörden sehr wohl bekannt. Schon im November 2010 hatte Panagiotaros, einer der wichtigsten Parteiführer, der 2012 ins Parlament gewählt wurde, mir gegenüber ein Pogrom gegen Mi­gran­ten im Athener Viertel Agios Panteleimonas angekündigt, falls seine Partei es in den Stadtrat schaffen würde.3 Es gelang ihnen, und die Anhänger feierten ihren Erfolg mit dem Hitlergruß. Wenige Monate später wurde bei einem Pogrom im Zentrum von Athen Alim Abdul Manan getötet, ein Migrant aus Bangladesch. Die Mörder sind bis heute nicht gefunden.

Es musste erst einen toten Griechen geben, um die Ermittlungen in Gang zu setzen, die den Führungskern der Neonazis auf die Anklagebank brachten. Einen Tag nach dem Mord an Pavlos Fyssas schickte der damalige Justizminister Nikos Dendias einen vertraulichen Bericht an die Generalstaatsanwältin Evterpi Koutzamani, der sich auf 32 strafbare Handlungen von Parteimitgliedern bezog. Auf dieser Grundlage begann Koutzamani, gegen die Chrysi Avgi als kriminelle Vereinigung zu ermitteln. Das war der einzige juristische Weg, denn in Griechenland gibt es weder ein Gesetz, das die Nazi-Ideologie unter Strafe stellt, noch ein Parteiverbotsverfahren wie in Deutschland.

Allerdings war dies nicht der erste Versuch einer strafrechtlichen Verfolgung von Chrysi-Avgi-Mitgliedern. Am 6. April 1996 wurden im Athener Stadtteil Kypseli zehn Mitglieder der Organisation „Sozialistische Revolution“ von 15 Personen unter dem Ruf „Tod der Kommune“ mit Knüppeln zusammengeschlagen. Einige der Täter trugen Jacken mit dem Parteiemblem der Neonazis. Die Überfallenen beantragten ein Verfahren gegen die Chrysi Avgi nach Artikel 187 des Strafgesetzbuchs, der sich auf die Bildung krimineller Banden bezieht. Dabei verwiesen sie auf frühere gewalttätige Aktionen der Neonazis und warnten: Leute, die heute andere verhöhnen, angreifen und verletzen, werden morgen womöglich auch töten. Es war eine prophetische Warnung.

1996 ermittelte die Staatsanwaltschaft jedoch nur gegen die einzelnen Täter und leitete kein Verfahren gegen die Organisation Chrysi Avgi ein, die damals noch eine politische Randgruppe war. Einer der „Einzeltäter“ von Kypseli hatte zu seiner Verteidigung allerdings schon argumentiert, die Chrysi Avgi sei „keine Organisation oder Bande, sondern eine politische Partei“ und auf die – damals noch sehr wenigen – Wählerstimmen verwiesen. Auf dasselbe Argument beriefen sich 24 Jahre später die Parteigrößen im großen Chrysi- Avgi-Prozess.

Das Verfahren basierte auf Artikel 187; als weitere Anklagepunkte kamen der Mord an Pavlos Fyssas dazu, die zwei Fälle von versuchtem Totschlag an den ägyptischen Fischern von Perama und an den Gewerkschaftern.4 Vom ersten bis zum letzten Prozesstag versuchten die angeklagten Ex-Parlamentarier das Verfahren zu verschleppen und anzuzweifeln. Sie erschienen nicht vor Gericht und ließen sich durch ihre Verteidiger vertreten. Gleichzeitig setzten sie ihr provokatives Auftreten außerhalb und innerhalb des Parlaments fort. Vom Rednerpult der Vouli, des griechischen Nationalparlaments aus rief der Chrysi-Avgi-Abgeordnete Barbarousis am 15. Juni 2018 die Streitkräfte zum Putsch auf: Das Militär müsse den Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten und den Verteidigungsminister als „Hochverräter“ verhaften. Regierungschef Tsipras hatte drei Tage zuvor am Prespa-See das Abkommen mit Nordmazedonien unterzeichnet. „Eure Köpfe sollen wegen Prespa rollen!“, rief Barbarousis in Richtung Regierungsbank.

Vor Gericht bestritten die Anwälte der Angeklagten bis zum Schluss jegliche Verbindung zu dem Fyssas-Mörder. Roubakias habe gar nicht richtig dazugehört, sondern nur gelegentlich bei der Chrysi Avgi „vorbeigeschaut“. Doch das Gericht konnte dessen Mitgliedschaft in der neonazistischen Organisation überzeugend belegen.

Videoaufnahmen und Fotografien zeigten ihn bei einer Chrysi-Avgi-Ak­tion, bei der Lebensmittel „nur an griechische Bürger“ verteilt wurden, aber auch als Redner bei Parteilehrgängen über die ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus. Auf einer Parteiversammlung in Sparta tönte Rou­bakias im Juni 2013, vier Monate bevor er Fyssas erstochen hat: „Der Weg, den wir gewählt haben, ist mühsam und schwer, er ist ein fortwährender Krieg gegen das verdorbene politische System, doch wir alle wissen genau, dass man nicht als Chrysi-Avgitis geboren wird … aber dass man als Chrysi-Avgitis stirbt.“

Obwohl dem Gericht Fotos vorlagen, auf denen Roubakias den Arm zum Hitlergruß erhebt, wollte er vom Nationalsozialismus „noch nie was gehört“ haben. Seine Mitangeklagten setzten auf dieselbe Taktik. Der Ex-Abgeordnete Ilias Kasidiaris verweigerte die Antwort auf die Frage, wie er zur Nazi-Ideologie steht: Das sei nicht Gegenstand der Anklage. Tatsächlich war das Gericht nicht befugt, über ihre Ideologie zu urteilen. Wohl aber darüber, inwieweit Hatespeech und NS-Gedankengut das einigende Band und das Motiv ihrer kriminellen Handlungen waren.

Im Lauf des Prozesses stürzte die Chrysi Avgi in eine innerparteiliche Krise. Nachdem sie bei den Parlamentswahlen vom September 2015 – trotz Strafverfolgung und Untersuchungshaft ihrer Führer – noch mit knapp 7 Prozent der Wählerstimmen 18 Parlamentssitze errungen hatten, setzte nun der Niedergang ein. Seit März 2017 erklärten sich die angeklagten Abgeordneten der Reihe nach für unabhängig. Danach sprangen weitere lokale Funktionäre ab. Gegen den „Führer“ Nikos Michaloliakos begann eine Kampagne seiner ehemaligen Kampfgefährten, die ihm vorwarfen, die Partei wie einen privaten Klub zu betreiben und eine „Familienherrschaft“ etablieren zu wollen.

Bei den letzten Parlamentswahlen im Juni 2019 schaffte es die Partei nicht mehr ins Parlament. Wie sich ihre ehemaligen Wähler orientieren werden, bleibt abzuwarten. Einige von ihnen dürften zu den etablierten Parteien zurückkehren. Aber es können auch neue Formationen entstehen, die den äußersten rechten Rand besetzen wollen.

Wie die Wahlanalysen von 2019 zeigten, stimmte ein Teil ihrer Wähler für die neue rechtsradikale Partei namens „Elliniki Lysi“ (Griechische Lösung) ab, die mit zehn Abgeordneten in die Vouli einzog. Nach der jüngsten Umfrage käme die Elliniki Lysi heute auf 4,5 Prozent der Stimmen. Ihr Vorsitzender Kyriakos Velopoulos, der ähnlich ausländerfeindliche Sprüche klopft wie die Neonazis, hat bereits erklärt: „Ich will die Wähler der Chrysi Avgi, aber übertriebenes Nazigehabe ist mir zuwider.“

Auf jeden Fall wird diese kriminelle Organisation keine Rolle mehr spielen, ihre Anführer sitzen bereits im Gefängnis. Das Gericht hat entschieden, dass die Berufung, die sie gegen das Urteil eingelegt haben, keinen Strafaufschub bedeutet. Allerdings hat sich einer der Verurteilten der Festnahme entzogen: Christos Pappas, ehemals Parteivize, ist untergetaucht und wird noch immer polizeilich gesucht.

Die Gegner der Chrysi Avgi sind erleichtert. Der ägyptische Fischer Achmed Abu Hamid, eines der Opfer des Überfalls von Perama, sagte am Tag des Urteils vor dem Gerichtsgebäude: „Wir sind nach Griechenland gekommen, um zu arbeiten, nicht um umgebracht zu werden. Zuerst haben sie Ausländer getötet, dann Griechen. Wenn das so weitergegangen wäre, hätten wir noch weitere Tote gehabt.“

Für Magda Fyssa bedeutet das Urteil die Chance, dass viele Leute jetzt das wahre Gesicht der Chrysi Avgi erkennen. „Wir dürfen nie die Geschichte vergessen“, hatte sie mir 2017 gesagt, „wir wissen doch, was die Sicherheitsbataillone waren.“ Doch diese tagmata asfalias, die griechischen Hilfstruppen der Nazibesatzer, seien selbst in Familien, die während der Okkupa­tion Angehörige verloren haben, in Vergessenheit geraten: „Ich hätte nie gedacht, dass ich das erleben muss: Beide Großväter von Pavlos haben geholfen, die Deutschen zu vertreiben. Und dann stirbt ihr Enkelsohn von der Hand der Kollaborateure.“

1 Lagos trat 2019 aus der Chrysi Avgi aus und sitzt für seine neu gegründete Partei (Nationales Volksbewusstsein) im EU-Parlament. Die Aufhebung seiner Immunität ist beantragt.

2 Im Korydallos-Gefängnis saßen zur Zeit der Militärdiktatur (1967–1974) die meisten politischen Gefangenen; danach auch die im August 1975 verurteilten Anführer der Obristen-Junta.

3 Siehe Jiannis Papadopoulos, „Neonazis im griechischen Parlament“, LMd, Juli 2012. In diesem Text wird die rassistische Propaganda und Praxis der Chrysi Avgi (insbesondere gegen Migranten) ausführlich dargestellt.

4 Siehe dazu Dimitris Psarras, „Golden Dawn on Trial“, Rosa Luxemburg Stiftung 2015. Psarras ist auch Autor der genauesten Analyse in deutscher Sprache: „Neofaschisten in Griechenland: Die Partei Chrysi Avgi“, Hamburg (Laika-Verlag) 2014.

Aus dem Griechischen von Niels Kadritzke

Jiannis Papadopoulos ist Journalist bei der Zeitung Kathimerini. Er verfolgt die Aktivitäten der Chrysi Avgi seit 2010 und sagte 2017 als Zeuge der Anklage aus.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Jiannis Papadopoulos