12.11.2020

Irismilch und ein Hauch von Eau de Cologne

zurück

Irismilch und ein Hauch von Eau de Cologne

Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte der Streit zwischen katholischer Kirche und moderner Medizin um die Hygiene des weiblichen Körpers seinen Höhepunkt. Davon hat vor allem die aufstrebende Parfümindustrie profitiert.

von Érika Wicky

Veilchenernte bei Grasse, April 1902 akg-images/Biblioteca Ambrosiana
Audio: Artikel vorlesen lassen

Deos, Mundspülungen, parfümierte Damenbinden, Vagina-Kräuterbällchen: Die vor allem Mädchen antrainierte Furcht vor unangenehmen Ausdünstungen wird mit immer neuen Mitteln bekämpft. Für die Pharmaindustrie und Parfümeure war vor allem die weibliche Pubertät seit jeher ein lukratives Geschäft. In Frankreich erlebte die industrielle Herstellung von Parfüms in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren ersten Aufschwung, als nach der Cholera-Epidemie von 1832 die Hy­giene­be­wegung Fahrt aufnahm und die – vor allem katholische – Erziehung von Mädchen ins Visier der modernen Medizin geriet.1

Mit medizinischen Broschüren, Leitfäden für ein frommes Leben, Anstandsbüchern und Frauenzeitschriften wurden Unmengen an Druckerzeugnissen produziert, die junge Mädchen und die zunehmend für deren Erziehung zuständigen Mütter mit Empfehlungen überschütteten. Während man sich darin einig war, dass Mädchen nicht viel Bildung brauchten, weil ihre Bestimmung darin lag, sich für andere aufzuopfern – wobei eine gewisser Sinn für Kunst als wünschenswert erachtet wurde –, gingen die Meinungen in puncto Hygieneerziehung auseinander.

In erster Linie war es ein Kampf zwischen Medizin und Kirche. So war es damals üblich, den religiösen Erziehungsanstalten in Sachen Hygiene zu misstrauen. „Wirst du wenigstens gewaschen?“, erkundigte sich etwa der Schriftsteller Théophile Gautier bei seiner ältesten Tochter Judith, als sie ein katholisches Mädchenpensionat besuchte. Die Fortsetzung der Geschichte, die die spätere Schriftstellerin in ihrer Autobiografie erzählte – die Drohungen seitens des Vaters, ein Bad in Unterwäsche und die Aufregung der Nonnen –, wirkt wie eine Komödie.2

In den Klöstern galt es lange als unziemlich, ein Bad zu nehmen. Der Anspruch an Sauberkeit beschränkte sich mehr oder weniger auf die äußere Erscheinung: „Tragt niemals schmutzige oder zerrissene Wäsche und Kleidung; pflegt eure Haare; wascht euch jeden Tag das Gesicht und mehrmals am Tag die Hände, wenn es nötig ist. Achtet darauf, dass eure Schuhe stets in einem guten Zustand sind“, lauteten etwa die Anweisungen einer Ordensfrau.3 Parfüms waren strikt untersagt. Sie standen für lockere Sitten.

Mehr oder weniger vehement – je nachdem wie ausgeprägt ihr Antiklerikalismus war – kritisierten die Ärzte die mangelhafte Hygiene in religiösen Erziehungsanstalten. So lobte 1857 der Arzt Jean-Baptiste Venot die Klosterfrauen zwar dafür, dass sie sich so aufopferungsvoll um an Syphilis erkrankte Prostituierte kümmerten, verzweifelte aber daran, dass sie in „der kleinsten Waschung, der unschuldigsten Säuberung“ eine Sünde sahen.4

Und wenn manche Ärzte genauso wie die Kirche vor dem gefährlichen Hang zur Masturbation warnten, machten sie dafür nicht das Bad, sondern ganz im Gegenteil fehlende Hygiene verantwortlich.

Der Arzt Augustin Galopin behauptete zum Beispiel, das Verbot, sich „da unten“ zu waschen, verursache einen Juckreiz, der die jungen Mädchen zur Onanie verlocken würde.5 Abgesehen von dem Badeverbot beanstandeten die Mediziner an den Klöstern und kirchlichen Mädchenpensionaten das Eingesperrtsein, das Gemeinschaftsleben und den Bewegungsmangel und rieten zu körperlicher Ertüchtigung und frischer Luft.

1882 veröffentlichte der französische Arzt Adrien Coriveaud die Abhandlung „Hygiène de la jeune fille“, die sich im Untertitel explizit „an die Mütter heranwachsender Mädchen“ richtete. Schon ein Jahr später erschien die deutsche Übersetzung.

„Sperren Sie zur Probe zwanzig der lieblichsten, bezauberndsten, jungen Mädchen, deren duftige Anmuth und liebliche Reize die Dichter zu den schönsten Versen begeistern, in einen Raum, in welchem Sie sorgfältig jeden Spalt, jede kleinste Ritze verstopft haben, und lassen Sie dieselben darin singen, plaudern und tanzen“, beschreibt Coriveaud ein fiktives Experiment.6

Badeverbot im Mädchenpensionat

Nach Ablauf von nur 24 Stunden, so Coriveaud weiter, trete „an die Stelle des berauschenden Duftes, den diese zwanzig jungen Wesen anfangs um sich verbreitet hatten, ein widriger, übelriechender Dunst; diese zwanzig hübschen Mündchen, die zwanzig jungfräulichen Busen haben Ströme von Wasserdämpfen ausgeathmet, die allen organischen Abfall, den das Leben unaufhörlich producirt, mit sich führen.“

Diese Mischung aus Poesie und anzüglicher Pseudowissenschaft ist typisch für den damaligen Ärztediskurs. Das zeigt sich auch bei Galopin, der in seinem Buch über den „Duft der ­Frauen“ schreibt: „Das junge Mädchen, dessen Sinne noch nicht erwacht sind, ist merklich wohlriechend; sie duftet nach Wind und Frühlingssonne, nach frischem Wasser mit einer Note Himbeere. Das junge Mädchen, das verliebt ist, hat einen ausgeprägteren Geruch; dasjenige, das onaniert oder einen Liebhaber hat, hat die gewöhnliche Stufe erreicht.“

Auf der Basis dieser „Erkenntnisse“ bemühte sich die Parfumindustrie, all die feinen Geruchsdifferenzierungen nachzubilden – und machte damit gute Geschäfte. Ab den 1860er Jahren demokratisierten die Massenherstellung mittels Mechanisierung und die Fortschritte in der Chemie den Zugang zu Parfums, und der seit den 1830er Jahren florierende Handel mit Duftstoffen erlebte einen gewaltigen Aufschwung: Zwischen 1836 und 1856 stieg der Umsatz um 63 Prozent.7

Die Parfümeure fanden in den medizinischen Anweisungen wertvolle Verkaufsargumente. Neben den diversen Zertifikaten, die sich die Hersteller von namhaften Wissenschaftlern beglaubigen ließen, warb die Parfumreklame mit Empfehlungen von Ärzten. In den Katalogen der Parfumproduzenten wurden zahlreiche Hygieneartikel angepriesen, darunter Seifen, die den größten Teil des Geschäfts ausmachten, sowie verschiedene Essigessenzen und Duftstoffe, die man in Eau de Toilette auflösen sollte.

Als unanständig galt hingegen der seit Jahrhunderten angewandte Duftstoff Moschus. Darin waren sich die Lehrwerke für Parfumhersteller, Frauen­zeit­schriften und Anstandsfibeln einig, die damals das aus der Drüse des Moschusochsen gewonnene Sekret mit den angeblichen Ausschweifungen des Ancien Régime assoziierten. Jeder Parfümeur komponierte seine eigene Essenz aus Eisenkraut und Veilchen und möglichst dezente Blumendüfte: 1853 kam Guerlains „Eau de Cologne impériale“ auf den Markt, 1857 Violets „Jacinthe blanche“ und 1862 Oriza L. Legrands „Violettes du Czar“.

Die Frauenzeitschriften und die häufig von Frauen mit aristokratischen Namen verfassten Benimmbücher gaben ihren Leserinnen zu verstehen, dass sie nicht nur Gott, sondern auch den Männern zu gefallen hatten. Unter dem Pseudonym Baroness Staffe verfasste die Schriftstellerin Blanche Soyer (1843–1911) zahlreiche Leitfäden für Damen und gesellschaftliche Aufsteiger, die teilweise auch ins Englische übersetzt wurden: „Usages du monde: règles du savoir-vivre dans la société moderne“ (Gebräuche der Welt. Anstandsregeln in der modernen Gesellschaft) von 1891 war ihr absoluter Bestseller.

Noch 1892 echauffierte sich die Grande Dame der Etikette über die mangelnde Kenntnis der Hygiene­regeln bei den Mädchen, die in Klöstern oder Pen­sio­na­ten aufgewachsen waren. Und sie empfahl zarte Düfte. Die Eheanwärterin musste immer fürchten, nicht zu gefallen.

Moschus, der Geruch des Ancien Régime

In seinem Werk „Conseils à ma ­fille“ (Ratschläge an meine Tochter), das nach seinem Erscheinen 1813 jahrzehntelang ein Verkaufsschlager war, lässt sich der Autor Jean-Nicolas Bouilly lang und breit über die Vorliebe einer gewissen Armantine für schwere Parfums aus, mit denen sie sich zum Gespött macht und das Wohlbefinden empfindlicher Nerven stört, bis schließlich die Lektion eines Cousins die junge Dame von ihrem Laster befreit.

Da Parfumzerstäuber noch nicht so verbreitet waren, mussten die Tropfen einzeln abgezählt werden: „Je weniger Parfum man benutzt, desto mehr ziemt es sich“, heißt es etwa in einer populären Broschüre. Hingegen könne der Hauch eines sehr leichten und sehr gebührlichen Dufts toleriert werden, aber nur, wenn es bei einem Hauch bleibe. „Etwas Irismilch oder Eau de Cologne in das Wasser, das Sie benutzen, das ist tadellos. Ein Tropfen Veilchenessenz auf Ihr Taschentuch, das ist gut; aber nicht mehr, und vor allem beschränken Sie sich auf dezente Düfte, die weder unsympathisch noch schädlich sein dürfen.“8

Frauenzeitschriften machten ihre Produktempfehlungen auch von der Großzügigkeit ihrer Geldgeber abhängig. In seinen Memoiren erzählt der Journalist und spätere Gründer der Tageszeitung Le Figaro, Hippolyte de Villemessant (1810–1879), wie er dem Parfumhaus Guerlain anbot, gegen Bezahlung die gesamte Auflage seines Wochenmagazins La Sylphide zu par­fümie­ren. Außerdem gab es ab der ersten Nummer im Jahr 1840 die Ru­brik „Avis d’une grand-mère à sa petite-­fille“ (Mahnung einer Großmutter an ihre Enkelin), in der ausschließlich ­Produkte von Guerlain beworben wurden.

Die religiöse Erbauungsliteratur stand den Katalogen der Parfümeure in nichts nach: Sie drechselte an der biblischen Vorstellung vom Duft der Heiligkeit, ersann immer neue Geruchsmetaphern und erging sich in Hymnen über die „Düfte der Güte“, die sich nicht verflüchtigen könnten, da sie ja immateriell seien.

Laut der Ratgeberautorin Clarisse Juranville (1826–1906) konnte nicht nur die Tugend, sondern auch die Einfachheit gut duften: „In ihrem glatt gekämmten kunstvoll hochgesteckten Haar, in ihren vom klaren Wasser noch feuchten Wangen, ihren rosigen Fingernägeln und dem weißen, frisch gestärkten Morgenmantel liegt ein Duft von Reinheit, ein Hauch des Wohlbefindens, die einen unwiderstehlichen Reiz erzeugen.“9

Mal wird ihm geraten, kein Bad zu nehmen, um ein „Parfum“ der Tugend zu verströmen, dann wieder soll sie sich mit dem delikaten Odeur der Reinheit, Jugend und Jungfräulichkeit schmücken, dann ihre natürliche Aura durch zarte Blumendüfte zur Geltung bringen: Das junge Mädchen des 19. Jahrhunderts wird mit unzähligen Ratschlägen traktiert, und jede Autorität präsentiert die seinen als die einzig richtigen.

Der große Erfolg von Pinauds Parfum „Flirt“ (1891), dessen Name auf die freizügige Erziehung junger Amerikanerinnen anspielte, legt nahe, dass am Ende die Parfumindustrie die Schlacht gewonnen hat. Nachdem sie die von den Medizinern geöffnete Tür aufgestoßen hatte, warf sie schließlich die moralischen Forderungen nach Sparsamkeit und Zurückhaltung über Bord.

Mit der Einführung der sogenannten Gourmandparfums, die nach süßen Desserts duften, wurden ein Jahrhundert später aus den „Blumenmädchen“ die „Zuckermädchen“. Bis heute ist die Klientel der unter 25-Jährigen eine der wichtigsten Zielgruppen der Parfum­industrie.

1 Siehe Alain Corbin, „Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs“, Berlin (Wagenbach) 2005.

2 Judith Gautier, „Le Collier des jours. Souvenirs de ma vie“, Paris (Félix Juven) 1904.

3 „Le Livre des jeunes filles: conseils aux jeunes personnes par une religieuse de la nativité“, Lyon/Paris (Librairie Girard et Josserand) 1868.

4 Jean-Baptiste Venot, „Hygiène. Rapprochements statistiques entre les deux prostitutions (inscrite et clandestine), au point de vue de la syphilis“, Bordeaux (G. Gounouilhou) 1857.

5 Augustin Galopin, „Le Parfum de la femme et le sens olfactif dans l’amour, étude psycho-physiologique“, Paris (E. Dentu) 1886.

6 Siehe Adrien Coriveaud, „Die Gesundheitspflege des jungen Mädchens. Ein Buch für Mütter heranwachsender Töchter“, aus dem Französischen von Eugen Conin, Leipzig (Denicke’s Verlag) 1883, S. 70 f.

7 Rosine Lheureux, „Une histoire des parfumeurs. France, 1850–1910“, Paris (Champ Vallon) 2016.

8 Siehe Gabrielle Béal und Marie Maryan, „Le fond et la forme. Le savoir-vivre pour les jeunes filles“,Paris (Bloud et Barral) 1896.

9 Siehe Clarisse Juranville, „Le Savoir-faire et le savoir-vivre dans les diverses circonstances de la vie. Guide pratique de la vie usuelle à l’usage des jeunes filles“, Paris (Boyer) 1879, S. 50.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Érika Wicky ist Historikerin an der Université Lu­mière Lyon II.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Érika Wicky