Patriarchat Südkorea
von Frédéric Ojardias
Am 11. April 2019 fällten die Richter des südkoreanischen Verfassungsgerichts ein historisches Urteil. Mit sieben zu zwei Stimmen erklärten sie das Abtreibungsverbot für verfassungswidrig. Es war ein großer Sieg für Südkoreas feministische Bewegung. „Das Ergebnis von jahrelangen Kämpfen“, erklärt nach der Urteilsverkündung eine sichtlich bewegte Aktivistin.
Ein halbes Jahr später legte die Regierung dem Parlament ein Gesetz vor, das einen Schwangerschaftsabbruch bis zur 14. Woche ohne Angabe von Gründen erlaubt. Unter bestimmten Umständen, etwa bei einer Schwangerschaft infolge einer Vergewaltigung, gesundheitlichen Risiken oder sozialen Nöten soll ein Abbruch bis zur 24. Woche straffrei bleiben. Während Kirchen und Konservative gegen den Vorschlag Sturm laufen, geht Frauenrechtsverbänden die Entkriminalisierung noch nicht weit genug. Angesichts einiger Etappensiege in den vergangenen Jahren sind Südkoreas Feministinnen weiterhin kämpferisch gestimmt.
Die #MeToo-Bewegung, die das Land mit Verzögerung erreichte, hatte daran einen erheblichen Anteil. Anfang 2018 berichtete die Staatsanwältin Seo Ji Hyun öffentlich vom sexuellen Übergriff durch einen Vorgesetzten und wie ihre Karriere zerstört wurde, nachdem sie ihren Fall publik gemacht hatte. Andere Frauen folgten ihrem Beispiel und brachen das Gesetz des Schweigens. Politiker, Filmemacher, Künstler, Professoren: Etliche weitere aufsehenerregende Fälle kamen nach und nach ans Tageslicht.
Nach diesen Enthüllungen schlossen sich viele Südkoreanerinnen, die bislang noch gezögert hatten, der Bewegung an und erhoben ebenfalls ihre Stimme. Im Sommer 2018 fand in Seoul die größte feministische Demonstration in der Geschichte des Landes statt.
Mit dem Slogan „Mein Leben ist nicht dein Porno“ protestierten Zehntausende gegen die Verbreitung intimer Bilder durch heimlich installierte Minikameras. Immer wieder werden diese sogenannten molkas in öffentlichen Toiletten oder Saunen entdeckt. Die Videos werden, teils im Livestream, übers Internet verbreitet und verkauft. Polizei und Justiz wird vorgeworfen, diese Vergehen nicht streng genug zu verfolgen. Die lautstarken Proteste vom August 2019 und Mai 2020 führten schließlich zu einer Verschärfung des Gesetzes gegen sexuelle Straftaten im Internet.
„Die Demonstrationen 2018 waren die ersten feministischen Aktionen, an denen ich teilgenommen habe“, erzählt die 22-jährige Journalistin Seo Ji Eun. In Südkorea ist bereits das Wort tabu: Wer sich als „Feministin“ bezeichnet, bringt Familie, Kollegen und die Netzgemeinde gegen sich auf. „Damals habe ich mich versteckt, ich hatte Angst, dass ich zur Zielscheibe werde. Aber die Dinge ändern sich.“ Davon zeugt auch der Erfolg von Cho Nam Joos Roman „Kim Jiyoung, Born 1982“1 mit mehr als einer Million verkauften Exemplaren. Erzählt wird die Geschichte einer jungen verheirateten Frau, die von den Ansprüchen einer extrem patriarchalen Gesellschaft und den alltäglichen Demütigungen, denen Frauen in Südkorea ausgesetzt sind, erdrückt wird.
Nach und nach geht es so manchem Tabu an den Kragen. „Als wir 1991 unsere Organisation gründeten, konnten wir noch nicht einmal die Wörter ‚sexuelle Gewalt‘ aussprechen“, erinnert sich Park A Reum von der Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt in Seoul. „Heute trauen sich die Opfer zu reden. Das ist eine entscheidende Veränderung.“ Der Mord an einer 23-Jährigen im Mai 2016 nahe der U-Bahn-Station Gangnam in Seoul durch einen 34-Jährigen, der nach der Tat gestand, er habe einfach eine x-beliebige Frau töten wollen, löste eine gewaltige Protestwelle aus. „Diese Frau hätte jede von uns sein können“, erklärt die Autorin Lee Min Kyung. „Nach diesem Verbrechen nahm die feministische Bewegung so richtig Fahrt auf.“
Bei den Parlamentswahlen vom April 2020 trat dann die neu gegründete „Partei der Frauen“ an. Südkoreas erste feministische Partei bekam zwar keinen Sitz, aber dass sie überhaupt existiert, ist eine kleine Revolution. In der Nationalversammlung sind inzwischen 19 Prozent der Abgeordneten weiblich. Für Südkorea ist das ein Rekord. Im Nachbarland Taiwan beträgt der Frauenanteil im Parlament 41,6 Prozent – mehr als in Deutschland, wo der Frauenanteil zuletzt auf 31,2 Prozent sank.
Aber das Hightech-Land Südkorea ist immer noch stark vom Neokonfuzianismus geprägt, auf dessen extrem patriarchalen und konservativen Werten schon die gesamte Joseon-Dynastie (1392–1910) aufbaute: Die Frauen müssen sich immer unterordnen, erst dem Vater, dann dem Ehemann und schließlich dem ältesten Sohn.
Auch wenn Südkorea eine stabile Demokratie ist, die 2017 nach friedlichen, aber massiven Protesten die korrupte Präsidentin Park Geun Hye – die erste Frau auf diesem Posten – ihres Amtes enthob, hinkt das Land in puncto Gleichstellung hinterher. So wird etwa von Frauen aus der Mittelschicht immer noch erwartet, dass sie nach dem ersten Kind ihren Beruf aufgeben. Doch das traditionelle Rollenmodell der hyobu, der vorbildlichen Schwiegertochter, die kocht, den Haushalt führt und sich für ihre Kinder, ihren Mann und ihre Schwiegereltern aufopfert, wird inzwischen von immer mehr jungen, gut ausgebildeten und weltoffenen Südkoreanerinnen infrage gestellt.
Die Folgen der hartnäckigen Männerherrschaft treffen vor allem alleinerziehende Mütter mit voller Wucht. Nichteheliche Geburten sind selten und werden geächtet. 2018 machte ihr Anteil nur 1,9 Prozent aus, gegenüber 33,9 Prozent in Deutschland und 60,4 Prozent in Frankreich.2
Unverheiratete Schwangere werden massiv unter Druck gesetzt, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen und ihr Kind sofort nach der Geburt zur Adoption freizugeben. „Sogar meine Eltern haben mir geraten, meinen Sohn wegzugeben“, erzählt Kim Do Kyung, die Vorsitzende von Kumfa (Korean Unwed Mothers’ Families Association), einer Einrichtung für alleinerziehende Mütter, die unter anderem Notunterkünfte für sie organisiert.
„Wir werden wie Aussätzige behandelt. Die Eltern der Mitschüler meines Sohnes verbieten ihren Kinder, mit ihm zu spielen. Hinter meinem Rücken wird getuschelt. Ich werde nicht zu Elternversammlungen eingeladen. Auf der Geburtsurkunde meines Sohnes steht ‚unehelich geboren‘. Gleich am ersten Tag wurde ihm damit ein Stempel aufgedrückt“, erzählt Kim.
Jeong Su Jin, die Mutter einer 14-jährigen Tochter und ebenfalls Mitglied bei Kumfa, pflichtet ihr bei: „Als mein Chef erfuhr, dass ich schwanger bin, hat er mich gefeuert: Er sagte: ‚So jemanden wie dich will ich hier nicht haben.‘ Meine Kollegen haben mit dem Finger auf mich gezeigt.“
Die feministische Bewegung nimmt an Fahrt auf
Kumfa bietet alleinerziehenden Mütter auch finanzielle und psychologische Unterstützung an, erhält selbst aber keine Zuschüsse. Viele unverheiratete Frauen sind de facto von den kommunalen Familienförderungsprogrammen ausgeschlossen. Von ihren eigenen Familien verstoßen, wurden sie früher oft von skrupellosen international vernetzten Adoptionsagenturen kontaktiert, die die Not der Frauen ausnutzten und sie dazu drängten, ihr Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben. Noch in jüngster Vergangenheit wurden aus dem reichen, industrialisierten Südkorea tausende Kinder zur Adoption ins Ausland vermittelt.
Dieselben patriarchalen Strukturen prägen auch die Arbeitswelt. Obwohl Südkoreanerinnen im Vergleich mit allen anderen OECD-Staaten am besten ausgebildet sind, bekommen sie zumeist nur die prekärsten und am schlechtesten bezahlten Jobs. „Die Diskriminierung beginnt schon beim Bewerbungsgespräch“, erzählt Bae Jin Kyung, die die Arbeitnehmerinnenorganisation Korea Women Workers Association (KWWA) leitet. „Es ist gang und gäbe, dass der Arbeitgeber eine Bewerberin fragt, ob sie einen Freund hat und Heirats- oder Kinderpläne hegt. Und wenn sie dann die Stelle bekommt, wird ihr weniger Verantwortung übergeben.“
Und sie wird natürlich auch nicht zu den huesik eingeladen, den feuchtfröhlichen Firmenessen, die manchmal im Bordell enden und bei denen sowohl Verträge ausgehandelt als auch Beförderungen ausgesprochen werden. Für viele Arbeitgeber ist es am einfachsten, Frauen gar nicht erst einzustellen, da sie das Unternehmen wieder verlassen könnten, wenn das erste Kind geboren wird.
2018 wurden drei der größten Banken Südkoreas, die Hana Bank, die Shinhan Bank und die Kookmin Bank, juristisch belangt, weil sie bei ihren Einstellungsverfahren getrickst hatten: Um mehr Männer beschäftigen zu können, hatten sie die Noten der Bewerberinnen herabgesetzt.
In Berufen mit hohem Frauenanteil, etwa der Pflege, werden Arbeitnehmerinnen häufig unter Druck gesetzt, nicht zur gleichen Zeit schwanger zu werden. „In anderen Branchen werden Schwangere entlassen. Gleichstellungsgesetze gibt es zwar, aber sie werden ignoriert“, kritisiert Bae Jin Kyung. Ihrer Ansicht nach hat die Asienkrise 1997/98 und die daran anschließende Prekarisierung des Arbeitsmarkts unter der Ägide des Internationalen Währungsfonds (IWF) auch die Arbeitnehmerrechte geschwächt.
Das durchschnittliche Gehalt von Frauen beträgt nur 68,5 Prozent dessen, was Männer verdienen3 – das ist der höchste Gender Pay Gap unter den Industriestaaten. Lediglich 52 Prozent der Südkoreanerinnen im erwerbsfähigen Alter gehen einer Beschäftigung nach – bei den Männern sind es 72,3 Prozent. Von den 15 000 Führungsposten der 500 größten Unternehmen des Landes sind gerade mal 3,6 Prozent mit Frauen besetzt.
Dabei sind die Südkoreanerinnen höher qualifiziert als ihre männlichen Landsleute. Noch vor zwei Generationen war die Universität eine Männerdomäne. Heute besitzen in Südkorea 75,7 Prozent der Frauen zwischen 25 und 34 Jahren einen Universitätsabschluss, aber nur 64,1 Prozent der Männer.4 Vor die Wahl gestellt, Karriere oder Kinder, ziehen es viele Frauen mittlerweile vor, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und nicht zu heiraten. Nur 22 Prozent der Frauen halten die Ehe für unverzichtbar. Vor zehn Jahren waren es noch 47 Prozent.5
Da die Südkoreanerinnen immer seltener und später heiraten, werden immer weniger Kinder geboren. 2019 sank die Geburtenrate auf 0,92 Kinder pro Frau, ein Rekordtief.6 Die Programme, mit denen rechte wie Mitte-links-Regierungen seit 2005 die Geburtenrate beeinflussen wollten, kosteten ein Vermögen (insgesamt 123 Milliarden Euro) und erwiesen sich als komplett unwirksam.
Vielleicht setzte die Förderung an der falschen Stelle an: „Es ist kein Zufall, dass in Sejong die Geburtenrate am höchsten ist“, sagt Bae Jin Kyung. Die Retortenstadt 120 Kilometer südlich von Seoul ist de facto die neue administrative Hauptstadt. Die meisten Sejonger arbeiten im Staatsdienst, wo die Gleichstellung der Geschlechter weiter fortgeschritten und die Beschäftigungssicherheit höher ist.
Lee Min Kyung bedauert, dass die Regierung den Geburtenrückgang nur vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, obwohl die eigentliche Ursache der „Kampf der Geschlechter“ sei. Tatsächlich haben die jüngsten Errungenschaften zu einem misogynen Backlash geführt, vor allem unter jungen Männern. „Viele Männer haben einen regelrechten Hass auf Feministinnen“, erzählt Seo Ji Eun. Bei den 20- bis 30-Jährigen ist der sogar noch stärker ausgeprägt als bei den 30- bis 40-Jährigen: 76 Prozent der Jüngeren bekunden offen ihren Antifeminismus.7
Im September 2019 löste die Verfilmung von „Kim Jiyoung, Born 1982“ einen gewaltigen Shitstorm im Netz aus, der den neuen Riss durch die Gesellschaft sichtbar machte. Männer sehen sich als Opfer von Diskriminierung und schließen sich in maskulinistischen Gruppen zusammen. Den langen Militärdienst, der in Südkorea für Männer obligatorisch ist, sehen sie als Rechtfertigung ihrer traditionellen Privilegien. Die Auseinandersetzung hat politische Konsequenzen: Der Mitte-links-Präsident Moon Jae In, dessen Ansichten als profeministisch gelten, hat bei jungen Männern an Zustimmung verloren.
Die steigende Jugendarbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Stagnation haben den Konflikt verschärft. Viele junge Südkoreaner verfügen nicht über die finanziellen Mittel, um die starren sozialen Normen zu erfüllen: Wollen sie heiraten, müssen sie genug verdienen, um eine Wohnung und die Ausbildung ihrer zukünftigen Kinder bezahlen zu können. Frustriert von der neuen weiblichen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, weigern sie sich häufig, die gewandelten Ansprüche der Frauen zur Kenntnis zu nehmen.
„Die Jungen sind kein bisschen anders! Sie hatten ihre Väter als Vorbild“, spottet eine Studentin aus Seoul. Es zeichnet sich ab, dass der Kampf der Südkoreanerinnen noch lange nicht vorbei ist.
3 Ministerium für Beschäftigung und Arbeit, Seoul 2019.
4„Education at a Glance 2020“, OECD.
7 Jake Kwon, „South Korea’s young men are fighting against feminism“, CNN, 24. September 2019.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Frédéric Ojardias arbeitet als Journalist in Seoul. Er ist Autor des Essays „Les Sud-Coréens“, Paris (Ateliers Henry Dougier) 2017.