08.10.2020

Unter den Augen Moskaus

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Unter den Augen Moskaus

Russland beobachtet die Entwicklungen in Belarus genau – aber seine Handlungsoptionen sind begrenzt

von Hélène Richard

Lukaschenko und Putin in Minsk, 2016 YEKATERINA SHTUKINA picture alliance/ap
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Dies ist eine demokratische Revolution, keine geopolitische.“ Dieser Satz von Swetlana ­Tichanowskaja am 25. August bei einer Videokonferenz mit Abgeordneten des Europa­parlaments war eine Botschaft an Brüssel ebenso wie an Moskau. Die Op­posi­tions­kandidatin, die für sich den Wahlsieg in Belarus gegen den amtierenden und offiziell mit 80 Prozent der Stimmen wiedergewählten Präsidenten Alexander Lukaschenko reklamiert, wollte damit eines zu verstehen geben: Belarus ist nicht mit dem Nachbarland Ukraine zu vergleichen, wo das Zusammenspiel aus Protesten, brutaler Unterdrückung und ausländischer Einflussnahme – vonseiten des Westens ebenso wie von Russland – 2014 zu einem Bürgerkrieg und zur russischen Annexion der Krim geführt hatte.

Die postsowjetische Region verfügt nämlich auch über andere Vorbilder. 2018 hatte eine friedliche Revolution den armenischen Regierungschef Sersch Sargsjan aus dem Amt gedrängt. Moskau agierte damals angesichts der breiten Bürgerbewegung – fast ein Fünftel der armenischen Bevölkerung ging auf die Straße und die Wirtschaft des Landes stand nahezu still – zunächst sehr zurückhaltend.

Später entsandte Russland eine Abgeordnetendelegation nach Armenien, um mehr über die Pläne des wichtigsten Oppositionspolitikers zu erfahren, bevor dieser das Amt des Premierministers antrat.1 Nikol Paschinjan hatte nämlich als Parlamentarier die Eurasische Wirtschaftsunion kritisiert – einen Zollverein von derzeit fünf Staaten (Russland, Belarus, Kasachstan. Armenien, und Kirgistan). Nun aber versicherte Paschinjan den Russen, er wolle die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Abkommen, die beide Länder verbinden, aufrechterhalten.

Der aktuelle Aufstand in Belarus erinnert in mancherlei Hinsicht an die Ereignisse in Armenien vor zwei Jahren: Auch der Protestbewegung in Belarus geht es zuvorderst darum, den Präsidenten des Landes loswerden und nicht, bestehende geopolitische Bündnisse aufkündigen.

In Belarus gehen zwar verhältnismäßig weniger Menschen auf die Straße als 2018 in Armenien. Doch sie haben die größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes auf die Beine gestellt und sind trotz der brutalen Unterdrückung stets friedlich geblieben.

Gleichzeitig hüten sie sich davor, sich offen an die Seite Europas zu stellen. Der von Tichanowskaja initiierte Koordinierungsrat lehnte am 19. August Finanzhilfen in Höhe von 3 Mil­lionen Euro ab, welche die Europäische Kommission dem Gremium überweisen wollte, um „Opfer der Repression“ sowie „unabhängige Medien und die Zivilgesellschaft“ zu unterstützen.

Die Reaktionen der beiden größten europäischen Staaten, Frankreich und Deutschland, fielen im Vergleich zu anderen Krisen der letzten Zeit zurückhaltend aus. Der französische Präsident Emmanuel Macron, der seit Sommer 2019 einen „konstruktiven Dialog“ mit Moskau führt2 , erkannte Tichanowskaja nicht als rechtmäßig gewählte Präsidentin im Exil an, wie er es zuvor beim venezolanischen Oppositionskandidaten Juan Guaidó getan hatte.

Allerdings traf Macron Tichanowskaja am 29. September in der litauischen Hauptstadt Vilnius und sicherte nach ihren Worten zu, er werde „alles tun“, um bei der Vermittlung zwischen Opposition und Führung in Belarus zu helfen.

Auf einem EU-Sondergipfel Anfang Oktober einigten sich die Mitgliedsstaaten schließlich auf Sanktionen gegen 40 Personen aus dem Umfeld Lukaschenkos. Zuvor war die Umsetzung der Sanktionen wochenlang durch die Blockadehaltung Zyperns verhindert worden, dass ähnliche Schritte gegen die Türkei forderte.

Die Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny, der in Berlin behandelt wird, könnte Deutschland – und in der Folge auch Frankreich – zu einer Annäherung an die offensivere Position Polens und der baltischen Staaten bewegen. Diese hatten etwa 30 belarussischen Persönlichkeiten, darunter auch Lukaschenko selbst, die Einreise auf ihr Staatsgebiet untersagt und den Wahlsieg Tichanowskajas anerkannt.

Bis jetzt hat Moskau keine übermäßige Anhänglichkeit an Lukaschenko erkennen lassen. Die russische Regierung hat zwar eine Beteiligung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bei der Überwachung möglicher Neuwahlen (ein französischer Vorschlag) abgelehnt. Gleichzeitig aber drängte sie den belarussischen Präsidenten, eine Verfassungsreform vorzunehmen – offenbar in der Hoffnung, noch vor neuen Wahlen einen mit den russischen Interessen kompatiblen Nachfolger oder eine Nachfolgerin zu finden.

Der Kreml beschränkt sich derzeit darauf, die kurzfristigen Vorteile zu nutzen, die ihm durch die Schwächung Lukaschenkos entstanden sind. Das Verhältnis zwischen Minsk und Moskau war in den letzten Jahren alles andere als unkompliziert: Seit der Ukrainekrise von 2014 hatte Minsk seine Verteidigung diskret verstärkt, um einer möglichen russischen Destabilisierung nach dem Vorbild der Donbass-Intervention zuvorzukommen – und Öffnungssignale Richtung Westen gesandt.

Daraufhin hob die Europäische Union 2016 praktisch alle Sanktionen gegen Belarus auf und setzte ihr Hilfsprogramm fort. Im Februar empfing Lukaschenko mit Mike Pompeo dann sogar einen US-amerikanischen Außenminister – zum ersten Mal seit seinem Machtantritt 1994.

Diese Treulosigkeit sorgte für Ärger in Moskau. Russland will jetzt „mehr zum selben Preis“, zumal seine Wirtschaft unter den Sanktionen des Westens und dem Einbruch der Ölpreise leidet. Die russischen Wirtschaftshilfen sanken von 17 Prozent des belarussischen Bruttoinlandsprodukts 2013 auf derzeit 10 Prozent3 . 2019 hatte es Moskau erstmals abgelehnt, die belarussischen Staatsschulden zu refinanzieren. Und im selben Jahr sorgte eine Änderung der russischen Steuervorschriften dafür, dass Minsk kein Öl zum Vorzugspreis mehr erhielt, wodurch das Land geschätzt zwischen 300 und 400 Millionen Dollar mehr pro Jahr zahlen muss.

Im Oktober 2019 machte der russische Finanzminister Siluanow den Ausgleich dieser Verluste abhängig von der Verabschiedung eines „Maßnahmenpakets zu unserer künftigen Integration im Rahmen der Staatenunion“. Zum ersten Mal knüpfte Moskau damit seine Unterstützung an konkrete Fortschritte beim Projekt einer Föderation mit gemeinsamer Währung, Zollunion und politischen Institutionen, das seit 1999 vor sich hin dümpelt.

Lukaschenko und Putin lassen in der jetzigen Situation die Ergebnisse ihrer Konsultationen nur tröpfchenweise durchsickern. Nach einem Treffen am 14. September in Sotschi versprach der russische Präsident der Regierung in Minsk einen Kredit über 1,5 Mil­liarden Dollar und erklärte, dafür keine Gegenleistungen zu fordern, was kaum glaubwürdig erscheint.

Das Szenario einer friedlichen Abdankung Lukaschenkos könnte aber auch durch andere Parameter beeinflusst werden. Da ist zunächst die wichtige Rolle, die Belarus für Moskaus Sicherheit spielt: Das Land liegt direkt an der Nato-Außengrenze und ist damit ein Schlüsselelement in der russischen Verteidigungsstrategie.

Neben dem 1992 geschlossenen Vertrag über kollektive Sicherheit unterzeichnete Russland noch weitere Militärabkommen mit Minsk, nachdem Polen und anschließend die baltischen Staaten der Nato beigetreten waren und der amerikanische Raketenschutzschild in Polen und Rumänien stationiert worden war.

Russland und Belarus pflegen eine enge militärische Zusammenarbeit und führen große gemeinsame Manöver durch, zuletzt 2017. In Belarus befinden sich zudem zwei russische Militärbasen, von denen die eine in Ganzewitschi an das Alarmsystem der russischen Raketenabwehr angeschlossen ist.4 Die Ausweitung der US-Militärpräsenz in Polen, das demnächst zusätzlich zu den 4500 bereits dort stationierten Soldaten 1000 weitere aufnehmen soll, unterstreicht die Pufferrolle von Belarus, dessen Ostgrenze nur 500 Kilometer von Moskau entfernt ist.

Am 27. August erklärte Wladimir Putin in einem Interview mit dem staatlichen Sender Rossia 24, seine Truppen würden eingreifen, „wenn die Situation außer Kontrolle gerät und extremistische Gruppen bestimmte Grenzen überschreiten“. Dabei berief er sich auf eine Reihe von Militärabkommen, darunter auch den Vertrag über kollektive Sicherheit, nach dem seit einer Änderung 2010 auch ein abgestimmtes Eingreifen im Falle einer Bedrohung der „Stabilität“ möglich ist.

Dieser vage Begriff bietet hinreichend Interpretationsfreiheit für Russland, das in der Ukraine bereits unter Beweis gestellt hat, dass es sich über internationales Recht hinwegsetzt, wenn es seine grundlegenden Interessen bedroht sieht. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor betrifft die belarussische Opposition. Die Protestbewegung in Belarus verfügt über keine zentrale Führungsfigur. Moskau misstraut zudem dem Koordinierungsrat, da unsicher ist, ob dieser das Kräftemessen mit dem Präsidenten überleben wird.

Zudem befinden sich inzwischen alle sieben Mitglieder seines Präsidiums entweder hinter Gittern oder im Exil. Obendrein hatte es im Wahlkampf zwischen den Oppositionellen Differenzen über sicherheitspolitische Fragen ge­geben.

Wiktor Babariko, Direktor einer Bank, die sich mehrheitlich im Besitz der russischen Gazprombank befindet, galt als der dem Kreml am nächsten stehende Kandidat. Er hatte erklärt, er wolle „Belarus eines Tages als neu­tra­les Land sehen“. Diese Aussicht dürfte in Moskau kaum auf Einverständnis stoßen, da man sich hier einen Schutzschild zwischen Russland und der Nato und keine neutrale „Schweiz“ wünscht.

Swetlana Tichanowskaja und die anderen Gegenkandidatinnen und Kandidaten haben sich in dieser Frage nicht eindeutig geäußert. Wenn die Opposition noch stärker in die Enge gedrängt wird, könnte sie sich allerdings weiter an Europa annähern.

Nachdem Putin in Sotschi russische Hilfszahlungen zugesagt hatte, forderte der ehemalige Minister Pawel Latuschko, der heute dem Präsidium des Koordinierungsrats angehört, die Europäische Union solle ein Hilfsprogramm in der Größenordnung „von 3 bis 4 Mil­liar­den Dollar“ auflegen, mit der Auflage einer friedlichen Machtübergabe an die Opposition. Am selben Tag weigerte sich die EU-Kommission offiziell, Lukaschenko als rechtmäßigen Präsidenten anzuerkennen.

Der Kreml ist nicht in einer so komfortablen Lage, wie derzeit manchmal behauptet wird: Man misstraut der zersplitterten Opposition, deren Loyalität ungewiss ist, und muss zwangsläufig auf das geschwächte Regime setzen. Sollte die Integration beider Staaten weiterhin das langfristige Ziel Moskaus sein, dann birgt allzu starke Unterstützung für Lukaschenko jedoch das Risiko, es sich mit der belarussischen Bevölkerung zu verscherzen und Ressentiments gegen den großen Nachbarn im Osten zu erzeugen, die bei den Protesten bisher weitgehend fehlen.

Und dann wäre diese belarussische Revolution tatsächlich nicht nur demokratisch, sondern auch geopolitisch.

1 ­Le Monde, 7. Mai 2018.

2 Siehe Hélène Richard, „Un tournant dans la diplomatie française?“, LMd, Dezember 2019.

3 „Using Good Times to Build Resilience“, Präsenta­tion von Jacques Miniane, IMF Mission Chief for Belarus, 6. November 2018, www.imf.org.

4 Siehe Ioulia Shukan, „La Biélorussie après la crise ukrainienne: une prudente neutralité entre la Russie et l’Union européenne?“, Études de l’Institut de recherche stratégique de l’école militaire (Irsem), Nr. 50, 2017.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 08.10.2020, von Hélène Richard