08.10.2020

Putsch in Mali – Menetekel für Westafrika?

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Putsch in Mali – Menetekel für Westafrika?

von Anne-Cécile Robert

Putschführer Oberst Assimi Goïta (rechts) am 6. September im malischen Kati MATTHIEU ROSIER/Reuters
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Staatsstreich? Handstreich? Geniestreich? Nach dem 18. August 2020 überschlug sich die malische Presse mit Wortspielereien zur Absetzung von Präsident Ibrahim Boubacar Keïta („IBK“) und seinem Ministerpräsidenten Boubou Cissé durch eine Gruppe hoher Offiziere. Die Meuterer lehnen die Bezeichnung Putsch ab und erklären, sie hätten angesichts von „Chaos, Anarchie und Unsicherheit, verschuldet von denjenigen, die Malis Schicksal in der Hand hatten“, ihre „Verantwortung wahrgenommen“.1 Bezeichnenderweise vermeiden auch wichtige Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft dieses Wort, denn bei vielen Maliern herrscht eine Mischung aus Unbehagen und Erleichterung vor.

Die Militäroperation, die schnell und fast ohne Zwischenfälle ablief, beendet – vorläufig – eine Periode verschärfter politischer und sozialer Spannungen. Weil die Ergebnisse der Parlamentswahlen im April umstritten waren, kam es zu keiner Regierungsbildung. Das Oppositionsbündnis von Mouvement du 5 juin und Rassemblement des Forces Patriotiques (M5-RFP) organisierte Massenkundgebungen in der Hauptstadt Bamako, bei denen der Rücktritt der Regierung gefordert wurde. Die Putschisten behaupten deshalb, einen „Volksaufstand“ zu unterstützen. Ihre Machtübernahme wurde auch von dem salafistischen Imam Mahmoud Dicko, einer Galionsfigur der Proteste2 , begrüßt.

Dagegen hagelte es scharfe Verurteilungen von internationalen Organisationen: Die Afrikanische Union (AU) und die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) verlangten die Rückkehr zur „verfassungsmäßigen Ordnung“. Moussa Faki Mahamat, der Vorsitzende der AU-Kommission, erklärte, „die Zeit der Staatsstreiche“ sei „vorbei“. Umgehend wurden Sanktionen beschlossen: In beiden Organisationen wurde Malis Mitgliedschaft suspendiert und ein Wirtschafts- und Handelsembargo angeordnet. Washington und Paris schlossen sich – etwas zurückhaltender – der Verurteilung an.

Cheikh Oumar Cissoko von der linken Opposition wirft der Ecowas vor, undemokratisch zu sein. „Sie wollen unsere Freiheit verhindern.“3 Abgesehen von der Präsidentenpartei Rassemblement pour le Mali (Bewegung für Mali) scheint keine innenpolitische Kraft Keïta, der bei den Wahlen 2013 noch breite Unterstützung erhalten hatte, nachzutrauern. Bestenfalls schweigen sie abwartend. Für die größte Oppositionsbewegung, die Union pour la République et la démocratie, ist der Putsch „die Folge der chaotischen Führung des Landes“. Politiker, Medien und Bevölkerung sorgen sich vor allem um die Form – militärisch oder zivil – und Dauer der Übergangsregierung. Und während die jungen Blogger das Hashtag #Matransition verbreiten, organisiert das von den Putschisten gegründete Comité national pour le salut du peuple (CNSP) Diskussionen mit Parteien und Vereinen.

Für Cheikh Tidiane Gadi, Senegals Ex-Außenminister und Vizepräsident der Nationalversammlung, ist der Staatsstreich zwar „inakzeptabel“, aber er verurteilte auch die Reaktion der Ecowas, weil sie „einen Bruderstaat bestraft, während sie behauptet, ihm zu helfen: Ein wirtschaftlich darniederliegendes Land zu ersticken, heißt, das Volk leiden zu lassen.“4 Besonders die Viehzucht ist betroffen, die 7 Prozent der Exporteinnahmen Malis ausmacht.

Die AU und die Ecowas halten sich nur an ihre Statuten, die nach einer Reihe von Staatsstreichen (fast 170 seit 1960) gewaltsame Veränderungen der verfassungsmäßigen Ordnung verhindern sollen. Beide Organisationen wollten so die Demokratisierung seit dem Ende des Kalten Kriegs stärken und die Entwicklungsbedingungen durch stabile Institutionen verbessern. Doch der Aufstand der malischen Offiziere – nur acht Jahre nach dem Putsch von Hauptmann Amadou Sanogo 2012 – offenbart die Instabilität der politischen Institutionen besonders im frankofonen Afrika: ein Menetekel für das Wahljahr 2020 in Guinea (18. Oktober), in der Elfenbeinküste (31. Oktober), in Burkina Faso (22. November), Niger (27. Dezember) und in der Zentralafrikanischen Republik (27. Dezember). Besonders angespannt ist die Lage in der Elfenbeinküste, einem ökonomischen Schwergewicht der Region, wo es nach den Wahlen 2010 zu langen und heftigen Gewaltausbrüchen kam.

In der Elfenbeinküste und in Guinea bewerben sich die amtierenden Präsidenten Alassane Ouattara und Alpha Condé um eine dritte Amtszeit – unter Umgehung der Verfassung, die nur zwei Amtszeiten erlaubt. In beiden Ländern sind bei Protesten bereits mehrere Dutzend Menschen ums Leben gekommen.

In Senegal wird Macky Sall von seinen Anhängern gedrängt, 2022 ebenfalls zum dritten Mal anzutreten. Und die Staatschefs der Demokratischen Republik Kongo, Togos und Kameruns haben in den letzten Jahren das Recht gebeugt, um an der Macht zu bleiben, auch mit Gewalt.5 Ein Putsch sei aber nicht immer und nicht ausschließlich das Werk von Militärs, erklärt der senegalesische Anwalt Bakary Diallo. „Nicht immer ist das einzige Ziel, an die Macht zu kommen, es kann auch darum gehen, sie zu bewahren oder zu stärken. Es gibt Staatsstreiche, die nicht in Form einer Aktion, sondern einer offenkundig illegalen Entscheidung stattfinden. Ein solcher Fall ist ein Staatsstreich der Exekutive, die die Verfassung bricht.“5

Während sich Condé und Ouattara dafür eingesetzt haben, dass der Putsch aufs Schärfste verurteilt wurde, plädierte Sall für mehr Flexibilität, besonders beim Embargo, das in einer ersten Fassung sogar Grundnahrungsmittel betroffen hätte. In seiner Rolle als Vermittler hat Sall die Ecowas zu einem konstruktiven Dialog mit der Junta in Mali aufgefordert, wo wenige Stunden vor dem Staatsstreich ein UN-Bericht über die grassierende Korruption und Vetternwirtschaft veröffentlicht worden war.7 Dabei liegt das Problem viel tiefer: Es ist der Einfluss des Auslands, der in Westafrika den politischen Betrieb schwächt. Die Laufbahn des gestürzten Präsidenten ist dafür beispielhaft.

Ibrahim Boubacar Keïta wurde 2013 und 2018 gewählt, internationale Beobachter lobten die Durchführung der Wahlen in einem schwierigen Sicherheitsumfeld. „Ich kann bestätigen, dass unsere Beobachter keinen Betrug festgestellt haben, wohl aber Unregelmäßigkeiten“, berichtete Cé­cile ­Kyenge, die den EU-Beobachterstab leitete, nach den letzten Wahlen. So gab es zwei Fälle von vorab ausgefüllten und unterzeichneten Wahlprotokollen.8 UN-Generalsekretär Guterres und Präsident Macron waren unter den Ersten, die Keïta zu seiner Wiederwahl gratulierten.

Doch hinter dessen Triumph verbarg sich eine düstere Wirklichkeit: 36,6 Prozent der Wahlberechtigten in Mittel- und Nordmali waren mehrfach Angriffen und Drohungen ausgesetzt gewesen. Und weil Wahlurnen gestohlen und Wahlhelfer entführt wurden, musste die Abstimmung immer wieder unterbrochen werden. Der Kandidat der Opposition, Soumaila Cissé, wollte deshalb das Ergebnis nicht anerkennen, was er 2013 noch getan hatte.

Cissé wurde am 25. März in der Nähe von Timbuktu von einer unbekannten Gruppe entführt, die ihn seither gefangen hält. Bei den Parlamentswahlen im April war in mehreren Wahlkreisen schließlich gar kein Wahlkampf der Kandidaten mehr möglich. Im Nachhinein hat das Verfassungsgericht die Wahl von 31 Abgeordneten für ungültig erklärt, nachdem die Wahlkommission sie zunächst anerkannt hatte. Mehrere Demonstrationen zwangen die Mitglieder des Gerichts zum Rücktritt. Inzwischen waren bei den Protesten in Bamako 23 Menschen getötet worden.

Welches Gewicht, welche Glaubwürdigkeit und welche Legitimität haben Regierungen, die unter solchen Bedingungen gewählt werden? „Können wir den Wahlen trauen?“, fragte William A. L. Anagisye, Vizekanzler der Universität Daressalam, bei der Eröffnung eines Kolloquiums über „Die Dynamik der Wahlen und die Zukunft der Politik in Afrika“ am 12. Oktober 2018. Der kenianische Politikwissenschaftler Musumbayi Katumanga schimpfte über den „Elektionismus“ der internationalen Organisationen, die um jeden Preis ein „Wahlergebnis“ haben wollen, auch wenn die Bedingungen dafür nicht gegeben sind.

So gesehen wirken die ausländischen Beobachter wie Touristen, die das Handeln der Machthabenden legitimieren. Doch die Legalisierung des Prozesses verdrängt die Frage nach dessen Legitimität. So kommt es, dass das Militär bei umstrittenen Wahlen oft zum Schiedsrichter wird, bevor es die Macht wieder an die Zivilisten abgibt – wie in Mali (1991 und 2012), Niger (2010), Mauretanien (2008), Guinea-Bissau (2012) oder Burkina Faso (2014). „Die afrikanische Öffentlichkeit verlangt Rechenschaft von ihren Staatschefs, auch wenn sie nicht imstande ist, sie demokratisch zu stürzen“, erklärt der Journalist Louis Magloire Keumayou.9

Im Oktober 2014 verjagte in Burkina Faso eine breite Volksbewegung Blaise Compaoré, der 30 Jahre regelmäßig zum Präsidenten gewählt worden war. Bis zu den Wahlen im November 2015 kontrollierte das Militär die Übergangsphase. Deshalb bietet nach Ansicht vieler Malier und afrikanischer Beobachter der Putsch vom 18. August 2020 die Gelegenheit, die Institutionen wieder zu legitimieren, indem ein echter Dialog mit der Bevölkerung und den Organisationen, die sie vertreten oder in deren Namen sie handeln (Vereine, Gewerkschaften und so weiter), in Gang gesetzt wird. Die Association des juristes africains (AJA) empfiehlt „Tagungen, die zu einer grundlegenden Reform der Institutionen und einem Fahrplan aus der Krise führen“.10

In dieselbe Kerbe schlägt der mauretanische Diplomat Ahmedou Ould Abdallah, ein früherer Mitarbeiter von UN-Generalsekretär Kofi Annan: „Die neuen Machthaber können durch eine Reihe von Maßnahmen unterstützt werden: Sie können die Einheit der Streitkräfte konsolidieren, die neuen Regierenden durch eine breite Konsultation der verschiedenen Kräfte im Land begleiten und damit die Voraussetzungen für einen friedlichen Übergang zu einem neuen, gesetzeskonformen politischen Regime schaffen.“11

Als Keïta seinen Rückhalt schwinden sah, versuchte er 2019 mittels eines „umfassenden nationalen Dialogs“ eine „Regierung der nationalen Einheit“ herzustellen. Doch Clangeist und Vetternwirtschaft verprellten die Opposition, derweil die Demonstrationen auf den Straßen immer größer wurden. Frankreich machte die Lage noch schlimmer, indem es ein Abkommen entwarf, das 2015 in Algier zwischen der Regierung und den bewaffneten Rebellen geschlossen wurde. Frankreich bevorzugte seine Vertrauten vor Ort, anstatt wirklich repräsentative Vertreter zu suchen.

„Eine Folge dieser Gunstbezeugungen ist, dass die Vertreter der Zivilgesellschaft des Nordens faktisch außen vor bleiben und deren Unterdrückung durch bewaffnete Gruppen hingenommen wird“, erklärt der frühere malische Ministerpräsident Moussa Mara. „Damit unterstützt man den Waffenbesitz als einziges Kriterium der Repräsentativität. Wir haben die fünf Nordregionen zunehmend unter die Fuchtel der bewaffneten Gruppen geraten lassen. Die erhalten nun auf friedlichem Weg, was sie durch Gewalt nicht erobern konnten.“12

In Mali haben Wahlen umso mehr an Glaubwürdigkeit verloren, als das Land unter Sicherheitsvormundschaft steht. Wie sollen die Wähler in einem teilweise besetzten Land ernsthaft ihr Wahlrecht ausüben? In Zentral­mali und im Norden des Landes treiben nicht nur terroristische Gruppen ihr Unwesen, hier patrouillieren auch ständig ausländische Armeen.13 Sie sind auch in der Hauptstadt Bamako stationiert. Die Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (Minusma) hat mehr als 10 000 Soldaten und Polizisten aus 110 Staaten geschickt, die französische „Operation Barkhane“ hat 5100 Soldaten im Sahel stationiert, die meisten davon in Mali.

Hinzu kommen die Operationen der fünf Sahelstaaten Mauretanien, Niger, Tschad, Burkina Faso und Mali (G5 Sahel), bei denen punktuell mehrere hundert Soldaten, langfristig mehrere tausend mobilisiert werden. Die Präsenz von immer mehr Militär verhindert aber nicht, dass die Unsicherheit wächst, sondern sorgt nur für wachsenden Zorn in der Bevölkerung. Am 6. April 2019 demonstrierten in Bamako 10 000 Menschen vor allem gegen „Barkhane“. „Wenn uns die internationale Gemeinschaft keine Sicherheit bieten kann, soll sie abhauen!“, rief eine Frau in die Kamera.

Seit der Offensive der dschihadistischen Bewegungen gegen Bamako 2012, die durch die französische „Operation Serval“ unterbrochen wurde, steht das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in Mali im Zeichen des Kampfs gegen den Terrorismus. Die ausländischen Mächte, vor allem Frankreich, und die internationalen wie afrikanischen Organisationen hielten sich an das herrschende Regime und verschlossen die Augen vor Missständen, Straftaten und Verbrechen der lokalen Behörden.

„Auch wenn Frankreich nicht alles steuert, was in Mali im Namen der Terrorismusbekämpfung geschieht“, habe es dazu beigetragen, dass sich kein politisches Leben entfalten konnte, urteilt der Politologe Yvan Guichaoua: „Für Paris hat die Terrorismusbekämpfung Priorität, aber das ist heute nicht unbedingt die Priorität der Malier.“14 Natürlich beunruhigt die Unsicherheit die Menschen, doch ebenso leiden sie unter der wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe. Trotz seines Reichtums an Rohstoffen (größter Baumwollproduzent Afrikas, drittgrößter Goldlieferant) lag Mali 2019 auf Platz 184 von 187 Plätzen des Human Development Index (HDI).

Die internationale Vormundschaft betrifft auch die Ökonomie. Nach der Explosion der Staatsschulden in den 1980er Jahren konnten die Geldgeber und die internationalen Finanzinstitutionen den afrikanischen Regierungen ihre Politik diktieren.15 Die Keïta-Regierung hat 2017 die Liberalisierung der Baumwollproduktion und die Umstrukturierung – faktisch die Privatisierung – der Compagnie malienne des textiles in Auftrag gegeben, die der IWF seit 20 Jahren fordert.

Frankreich paktiert mit den Falschen

Von der Baumwolle leben direkt oder indirekt 4,5 Millionen der 19 Millionen Malier. Als wegen der Coronapandemie im Juni 2020 die Weltmarktpreise abstürzten, verlangten die Vereinigung der Produzentenkooperativen und die vier Branchengewerkschaften von der Regierung, die Preise zu stützen. Schließlich wurden sie von 215 auf 250 CFA-Francs pro Kilo erhöht, deutlich unter den 275 Francs, die 2019 festgelegt worden waren. Verschärfend kam hinzu, dass sich die Regierung weigerte, die Kostensteigerung der Düngemittel durch Hilfen an die Baumwollzüchter zu kompensieren, weshalb viele die Produktion ganz einstellten.

Eine der letzten Entscheidungen Keïtas war die Vergabe der Konzes­sion für den internationalen Flughafen Modibo-Keïta in Bamako, was ihm den Vorwurf einbrachte, eine strategische Infrastruktur verschleudert zu haben. In den 2000er Jahren hatte die Privatisierung der Bahn zur Schließung der historischen Strecke Dakar–Bamako und zur Isolierung einzelner Regionen geführt.

Die malische Wirtschaft ist stark vom Ausland abhängig. Nur 3 Prozent der Baumwolle werden im Land verarbeitet. Die Gewinne der Goldförderung (8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) streichen die internationalen, vor allem kanadischen Minenbetreiber ein – und korrupte Politiker.16

Auch das Geld, das die Kriegsökonomie und die zahlreichen Sicherheitsoperationen verschlingen, sorgt für Ärger. Der Geopolitiker Emmanuel Dupuy schätzt, dass in Mali täglich etwa 2,6 Milliarden CFA-Francs (4 Millionen Euro) ausgegeben werden; damit betragen die Militärausgaben das Fünffache der Entwicklungshilfe.17 Ein ähnliches Ungleichgewicht droht auch in den von Dschihadisten heimgesuchten Niger und Burkina Faso, wo im November und Dezember 2020 Präsidentschaftswahlen stattfinden.

In Mali liegt das Durchschnittsalter bei 16 Jahren und die Geburtenrate ist eine der höchsten weltweit. 14 Prozent der Malier, die unter 25 sind und eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, sind arbeitslos. Und dann kam auch noch die Coronapandemie hinzu, deren Folgen – Schließung der großen Märkte, unterbrochene Lieferketten und eingeschränkter Zugang zu ausländischen Märkten – insbesondere den Agrarsektor in Mitleidenschaft gezogen hat, von dem 80 Prozent der Bevölkerung leben. „Wir stehen vor einer wirtschaftlichen und sozialen Krise, deren Auswirkungen man allein im Hinblick auf die Sicherheitslage betrachtet“, klagt die frühere malische Kultusministerin Aminata Dramane Traoré.18

Mali verkörperte einst den Glanz des Malinke-Reichs, das sich im 14. Jahrhundert vom Fluss Niger bis zum Atlantischen Ozean erstreckte. Deshalb hat der Zusammenbruch des malischen Staats in Westafrika so eine starke Symbolkraft. „Unsere Länder sind doch Zwergstaaten“, sagt der Senegalese Gadio, der von einem afrikanischen Bundesstaat träumt. Die na­tio­nale Souveränität geht in einem Geflecht politischer und wirtschaftlicher Zwänge unter. Der kenianische Kritiker des „Elektionismus“, Katumanga, spricht von einer „Kannibalisierung“ afrikanischer Staaten durch ausländische Interessen, die in gewisser Hinsicht ein Demokratieverhinderer ist.

In Mali seien die internationalen Akteure in alle politischen Bereiche verwickelt, erklärt die Politikwissenschaftlerin Isaline Bergamaschi: „Hier mischen Personen, die nicht gewählt sind und keine Verantwortung gegenüber den malischen Bürgerinnen und Bürgern tragen, in allen Ministerien mit. Gleichzeitig fließt ein großer Teil der Hilfsgelder direkt in Projekte, die nicht von den staatlichen Institutionen geleitet werden.“ Das erschwere die Zusammenarbeit, schaffe Doppelstrukturen und sei alles andere als nachhaltig. Seit 2012 habe sich diese Situation immer mehr verschlimmert, weil die internationalen Akteure massiv im humanitären und Sicherheitssektor investiert haben.19

Die unter dem Druck der Geldgeber und mit Unterstützung lokaler Profiteure allein am Ausland orientierten afrikanischen Ökonomien haben ihre Bevölkerung schrittweise von den großen, sie betreffenden Entscheidungen ausgeschlossen. Keïta, der am Ende der französischen „Operation Serval“ zum Präsidenten gewählt wurde, hatte zuvor schon in mehreren Funktionen an der Staatsspitze gestanden. „Die Freude der Öffentlichkeit und der Jugend über den Staatsstreich in Mali ist nichts anderes als die Bloßstellung der moralischen und ethischen Dekadenz der Staatschefs in Afrika allgemein“, resümiert Anwalt Diallo. Deshalb werde der Staatsstreich auch nicht als Unordnung wahrgenommen, die das normale Funktionieren des Staates stört: „Er erscheint vielmehr als legitime Reak­tion auf die permanente Unordnung, die von den Regierenden verursacht wird. Hier wird der Staatsstreich als notwendiger Faktor der Veränderung wahrgenommen.“

In Westafrika scheinen die an­glo­fo­nen Staaten Spaltung und Krisen leichter zu überwinden. Obwohl der Riesenstaat Nigeria unter dem Terror von Boko Haram und heftigen religiösen Spannungen leidet, sind die Machtwechsel seit 1999 friedlich verlaufen. Ghana gilt trotz eines gescheiterten Putschversuchs 2019 als demokratisches Vorbild auf dem ganzen Kontinent.

Mit Ausnahme Senegals schwanken hingegen Frankreichs frühere Kolonien zwischen Instabilität und Autoritarismus: von Paul Biya, Präsident Kame­runs seit 1982, über Denis Sassou Ngesso, der die Republik Kongo seit 1997 regiert, bis Ali Bongo, der in Gabun 2009 die Nachfolge seines Vaters Omar antrat (die Familie herrscht seit 1967), oder Faure Gnassingbé, der im Februar 2020 mit 92,28 Prozent im Togo wiedergewählt wurde, und Pa­trice Talon, der das Wahlgesetz in Benin geändert hat, um die Konkurrenz der Opposi­tions­par­teien auszuschalten.

Sechs Jahrzehnte nach der Unabhängigkeitsbewegung, die 16 subsaharische Staaten vom Kolonialismus befreite, warnen afrikanische Intellektuelle die frankofonen Staatschefs, das ihr Festhalten an der Macht zur Norm wird und sie sich zu „Totengräbern der Völker“ machen.20

1 Über den politischen Einfluss von Predigern wie Ousmane Madani Haïdara oder Mahmoud Dicko siehe Charlotte Wiedemann, „Der Mann, der die Wahrheit sagt. Der populäre Prediger Ousmane Madani Haïdara und die Vielfalt des Islam in Mali“, LMd, Februar 2013.

2 Kommuniqué vom 18. August 2020, im malischen Rundfunk und Fernsehen verlesen.

3 „Mali: „La ligne rouge de la CEDEAO: On va la briser pour le bonheur du continent“, Mali Actu, Bamako, 20. August 2020, maliactu.net.

4 Senegalesischer Rundfunk und Fernsehen, 23. August 2020.

5 Siehe Tierno Monénembo, „Nkurunziza und andere Potentaten“, LMd, Dezember 2015.

6 Bakary Diallo, „Entre Coup d’État permanent et Coup d’État militaire, qui crée véritablement le désordre cons­ti­tu­tionnel“, Financial Afrik, 23. August 2020, www.financialafrik.com.

7 Bericht der unabhängigen Expertengruppe, am 14. August 2020 dem UN-Sicherheitsrat übergeben.

8 Le Monde, 30. Juli 2018.

9 „C dans l’air“, France 5, 19. August 2020.

10 Walfardjiri, Dakar, 22. August 2020.

11 Nord Sud Journal, Bamako, 28. August 2020.

12 La Tribune Afrique, Casablanca, 12. Juni 2020

13 Siehe Rémi Carayol, „Viele Fronten in Mali“, LMd, Juli 2018.

14 France culture, 25. August 2020.

15 Siehe Jacques Berthelot, „Geplündert“, LMd, November 2017.

16 Siehe Rémi Carayol, „Goldrausch in der Sahelzone“, LMd, Januar 2020.

17 Emmanuel Dupuy, „Penser la sécurité dans la bande Sahélo-Saharienne, au delà d'une approche purement militaire“, L’Opinion, 27. November 2018.

18 L’Humanité, 20. August 2020.

19 Le Monde, 9. September 2020.

20 „Halte à la présidence à vie!“, Langversion des Aufrufs verfügbar auf: Mosaiqueguinee.com, Conakry.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 08.10.2020, von Anne-Cécile Robert