10.09.2020

Pfingstrepublik Nigeria

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Pfingstrepublik Nigeria

Ein Drittel der Bevölkerung des westafrikanischen Landes ist Mitglied einer evangelikalen Kirche

von Anouk Batard

Sonntagsgottesdienst der Living Faith Church in Kano BEN CURTIS/picture alliance/ap
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Die Pfingstbewegung beschert den Evangelikalen auf der ganzen Welt einen Aufschwung. In Afrika ist Nigeria das Epizentrum der Pfingstler, die sich selbst auch gern als „born-again Christians“ (wiedergeborene Christen) bezeichnen.

Das westafrikanische Land, ein wirtschaftliches Schwergewicht mit knapp 200 Millionen Einwohnern, hat eine Reihe von Pastoren hervorgebracht, die weltweit Berühmtheit und großen Reichtum erlangt haben. Dazu zählen etwa David Oyedepo, Bischof der Living Faith Church, auch als Winner’s Chapel bekannt, dessen Vermögen 2015 auf 150 Millionen Dollar geschätzt wurde, oder Chris Oyakhilhome von Christ Embassy, dessen Besitz zwischen 30 und 50 Millionen Dollar betragen soll.1

In ihren „Megakirchen“, „Erlösungscamps“ und „Heiligen Städten“ versammeln sich regelmäßig zehntausende, ja sogar hunderttausende Gläubige. Diese multinationalen Religionskonzerne besitzen jedoch nicht nur gigantische Kultstätten, sondern auch theologische Ausbildungs­zen­tren, Krankenhäuser, Medien, Schulen und sogar Universitäten.

In Nigeria leben etwa zu gleichen Teilen Muslime und Christen, trotzdem hat sich ein von der Pfingstbewegung geprägter öffentlicher Diskurs etabliert. Das lässt sich sowohl in der Populärkultur (Kino, Musik, Stand-up-Comedy und Talkshows) als auch in der Geschäftswelt, im Bildungswesen, der öffentlichen Verwaltung und bis in die höchsten Sphären des Staats beobachten. Die politische Bedeutung der Pastoren und christlichen Institutionen ist so groß, dass der Soziologe Ebenezer Obadare das Land gar als „Pfingst­republik“ bezeichnet.2

Dieser „Wohlstandsfundamentalismus“ (white-collar fundamentalism)3 , wie Obadare das Phänomen nennt, entstand in den 1970er Jahren infolge des großen Ölbooms. Wie durch Zauberhand wurden einige Nigerianer damals zu Millionären und blieben wohlhabend, trotz der nachfolgenden, tiefgreifenden und langanhaltenden Krise in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Die nächste Welle der Pfingstbewegung, auch neocharismatische Bewegung genannt, erfasste vor allem Entwicklungs- und Schwellenländer. Indem sie die politischen und wirtschaftlichen Eliten der Hexerei beschuldigte, bot sie eine Erklärung dafür an, wie eine Minderheit so reich hatte werden können.

Angesichts zahlreicher Korrup­tions­skandale fiel die Lehre von Heiligung und Askese auf einen fruchtbaren Boden und verband sich mit einer Rhetorik der Moralisierung des öffentlichen Lebens. Das Born-again-Christentum fügte sich damit in die allgemeine Politikverdrossenheit und Elitenkritik ein. Gleichzeitig gewann eine andere religiöse Bewegung an Boden, die sich ebenfalls der moralischen Erneuerung verschrieben hatte: der Salafismus.

Die neocharismatische Bewegung hatte vor allem an den Universitäten Zulauf. Sie wurde von jungen, gebildeten Menschen aus der urbanen Mittelklasse getragen, deren Studienzeit und Berufseinstieg vom Rückzug des Staats, Privatisierungen und Lobpreisungen des Unternehmergeists begleitet wurde.

Ende der 1980er Jahre nahm diese Welle der Pfingstbewegung noch einmal an Fahrt auf, indem sie nach US-amerikanischem Vorbild anstatt der Heiligungs- die Wohlstandslehre predigte. Die Wissenschaftlerin Ruth Marshall-Fratani beschreibt dieses „Evangelium“ als eine Mischung aus Bibelzitaten und US-amerikanischer Populärpsychologie im Stil der Selbsthilfe (self-help) und Selbstermächtigung (personal empowerment). Es verspricht den sozialen Aufstieg, wo Studienabschlüsse allein nicht mehr reichen.4 In der klassischen Lehre des Protestantismus bezieht sich die Wiedergeburt (born-again) auf die Suche nach einer Erneuerung des Ich. Sie ließ sich aber problemlos auch auf die nigerianische Nation übertragen, wo sich viele von korrupten Militärs verraten fühlten, die das Land seit der Unabhängigkeit regiert haben.5

Die christliche Elite unterstützt muslimische Kandidaten

Die Chance auf eine Rückkehr zur Zivilregierung eröffnete sich 1999 mit der Wahl des früheren Staatschefs Olusegun Obasanjo. Selbst zwar Angehöriger der Armee, war Obasanjo der einzige Christ, der seit dem Bürgerkrieg (1967–1970) das Land regiert hatte (1976–1979). 1999 stützte er sich vor allem auf die Erweckungsbewegung, um die christliche Wählerschaft, inklusive Anglikaner, Protestanten und Katholiken, zu gewinnen und seine Autorität als Präsident zu untermauern. Im Wahlkampf erzählte er, er habe sein spirituelles Erweckungserlebnis im Gefängnis gehabt, in das er unter Diktator Sani Abacha (1993–1998) geraten war. Viele Christen sahen in Oba­san­jos Rückkehr ins Präsidentenamt ein Zeichen göttlichen Willens. Seine Nachfolger bedienten sich später derselben Strategie, um die christliche Wählerschaft, insbesondere die Evangelikalen, zu mobilisieren.

Der Demokratisierungsprozess bot günstige Umstände für die Ausbreitung des neuen Pfingstlertums in Staat und Gesellschaft. Die Führer des Born-again-Christentums wurden von Politikern umworben, berieten die Machthaber oder bekleideten selbst Regierungsämter. Die religiöse Zugehörigkeit wurde zu einem entscheidenden Kriterium bei der Besetzung staatlicher Posten auf allen Ebenen – trotz der offiziellen Trennung von Kirche und Staat.

Diese „Verpfingstlichung der Präsidentschaft“ (pentecostalisation of the presidency), um eine weitere Formulierung von Ebenezer Obadare aufzunehmen, setzte sich selbst während der Amtszeit des muslimischen Präsidenten Umaru Musa Yar’Adua (2007–2010) fort, der berühmten Pastoren staatliche Orden verlieh. Sie sollte die Angst vor einer Islamisierung des Landes eindämmen, die unter nigerianischen Christen weit verbreitet ist. Nach der Unabhängigkeit hatten sich diese jahrzehntelang durch die muslimischen Offiziere aus dem Norden von der Macht ausgeschlossen gefühlt.

Die anhaltenden Diskussionen um die Einführung der Scharia in einigen Bundesstaaten, der Beitritt Nigerias zur Organisation für islamische Zusammenarbeit (OIC) im Jahre 1986 und die regelmäßig wiederkehrenden Ausbrüche interkonfessioneller Gewalt haben diese Angst weiter geschürt. Hinzu kommt ein historisches Trauma, das tief im kollektiven Gedächtnis verankert ist: Das Kalifat von Sokoto gründete im 19. Jahrhundert seinen Reichtum auf die Ausbeutung und den Handel von Sklaven, die meist aus dem heutigen Zentralnigeria stammten; diese ­Volksgruppen huldigten damals einem animistischen Glauben und traten später mehrheitlich zum Christentum über.

Man kann dennoch nicht von einer christlichen oder gar pfingstlerischen Stammwählerschaft sprechen. Bei jeder Wahl bilden sich auch innerhalb der evangelikalen Elite verschiedene Lager, von denen einige bisweilen auch einen muslimischen Kandidaten unterstützen. So konnte sich der muslimische Bewerber Muhammadu Buhari bei der Wahl von 2011 auf einige bekannte Pastoren berufen. Seine Strategie ging zwar nicht auf und er verlor gegen den Christen Goodluck Jonathan, der von anderen evangelikalen Predigern unterstützt wurde. Doch vier Jahre später verlor dann Goodluck gegen Buhari – trotz seines weiterhin großen Rückhalts bei christlichen Interessengruppen und pfingstkirchlichen Predigern.

Nach seiner Wahl ernannte Muhammadu Buhari Pastor Yemi Osinbanjo zum Vizepräsidenten. Osinbanjo gehört der mächtigsten Kirche Nigerias an, der Redeemed Chris­tian Church of God, verfügt aber auch über gute Verbindungen zum früheren (muslimischen) Gouverneur des Bundesstaats Lagos, dem immer noch sehr einflussreichen Bola Ahmed Adekunle Tinubu. Osinbanjo ist außerdem ehemaliger Generalstaatsanwalt, Wirtschaftsanwalt und Juraprofessor. Seinen Abschluss machte er an der renommierten London School of Economics – wie er haben viele Pastoren mächtiger Kirchen einen akademischen Hintergrund.

Die Christian Association of Nigeria, Dachverband der verschiedenen christlichen Kirchen des Landes, die auch als politische Lobby fungiert, legt großen Wert darauf, die „wahren“, vom „Heiligen Geist erfüllten“ Born-again-Christen zu repräsentieren.6 Damit geht eine Stigmatisierung oder gar „Verteufelung“ (wie es im Born-again-Jargon heißt) aller anderen einher, seien sie nun säkulare Christen oder – noch schlimmer – Muslime; und nicht zu vergessen jene, die man der Hexerei beschuldigt.

Doch ähnlich wie bei Präsidentschaftswahlen sind Nigerias christliche Eliten weiterhin daran interessiert, breite Bündnisse zu schließen, gegebenenfalls auch mit hochrangigen muslimischen Geistlichen. Als Kitt dient immer wieder die Homophobie.7 Die immer schärfere strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen stößt auf lautstarke Unterstützung in der Presse und bei religiösen Leitfiguren aller Konfessionen. Klagen gegen Pastoren wegen sexueller Übergriffe oder Menschenhandel8 stoßen dagegen auf ein weitaus geringeres Echo.

1 Mfonobong Nsehe, „Les pasteurs les plus riches du Nigéria“, Forbes Afrique, 28. November 2015.

2 Ebenezer Obadare, „Pentecostal republic: religion and the struggle for state power in Nigeria“, London (Zed Books) 2018.

3 Ebenezer Obadare, „White-collar fundamentalism: interrogating youth religiosity on Nigerian university campuses“, in: The Journal of Modern African Studies, Bd. 45, Nr. 4, Cambridge 2007.

4 Vgl. Ruth Marshall-Fratani, „Prospérité miraculeuse. Les pasteurs pentecôtistes et l’argent de Dieu au Nigeria“, in: Politique Africaine, Bd. 82, Nr. 2, Paris 2001.

5 Vgl. J. D. Y. Peel, „The Politicisation of Religion in Nigeria: Three Studies“, in: Africa: Journal of the Interna­tio­nal African Institute, Bd. 66, Nr. 4, Cambridge 1996.

6 Afe Adogame, „The politicization of religion and the religionization of politics in Nigeria“, in: C. J. Korieh und G. U. Nwokeji (Hg.), „Religion, history, and politics in Nigeria“, Lanham (University Press of America) 2005.

7 Siehe Elnathan John, „Der Fall Mansir“, LMd, Januar 2015.

8 Nellie Peyton, „Nigeria has #MeToo moment after popular pastor is accused of rape“, Reuters, 1. Juli 2019.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Anouk Batard ist Wissenschaftlerin und Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2020, von Anouk Batard