10.09.2020

Zentralasiatische Tektonik

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Zentralasiatische Tektonik

Umbrüche von Aschgabat bis Nur-Sultan

von Marlène Laruelle

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Eine Machtübergabe ist für Autokratien immer eine missliebige Angelegenheit – insbesondere wenn ihre langjährige Führungsfigur aus Altersgründen abtreten muss oder verstirbt. Für die meisten Regime in Zentralasien wurde diese heikle Situation zuletzt akut. Die Männer an ihrer Spitze waren nach der Unabhängigkeit 1991 nicht selten vom Generalsekretär der kommunistischen Partei der jeweiligen Sowjetrepublik zum ersten und bisher einzigen Präsidenten ihres Landes avanciert.

In den vergangenen Jahren traten sie der Reihe nach ab: 2006 verstarb der turkmenische Staatschef Saparmurat Nijasow, 2016 verschied Usbekistans Präsident Islam Karimow. Im März 2019 räumte der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew im Alter von 78 Jahren seinen Posten, und in Tadschikistan macht der inzwischen 67-jährige Präsident Emomali Rahmon sich nach 28 Jahren Amtstätigkeit allmählich Gedanken über seine Nachfolge.

Als Ausnahmefall gilt Kirgistan. Dort vollziehen sich politische Wechsel teils durch demokratische Wahlen, teils durch Volksaufstände – angezettelt von den Eliten, die aufgrund unterschiedlicher wirtschaftlicher Interessen und Clanloyalitäten in rivalisierende politische Fraktionen gespalten sind. Solche Unruhen führten 2005 und 2010 zu einem Regierungssturz. Sooronbai Dscheenbekow, der 2017 zum Präsidenten gewählt wurde, steht zwar beileibe nicht für ein pluralistisches Modell, handelt aber immer noch deutlich demokratischer als seine Amtskollegen in den Nachbarstaaten. Die kirgisische Opposition wird weniger drangsaliert, und im Land existiert eine aktive Zivilgesellschaft.

Seit Mitte der 2000er Jahre wurde in Zentralasien mit mehreren Varianten der Nachfolgeregelung experimentiert. In Turkmenistan und Usbekistan sanken die „Väter der Nation“ ins Grab, ohne öffentlich zu verfügen, wer sie beerben sollte. Diejenigen, die dann ihren Platz einnahmen – in Turkmenistan war dies der damalige Gesundheitsminister Gurbanguly Berdimuhamedow, in Usbekistan der frühere Premierminister Shawkat Mirsijojew –, hatten schon zum engsten Führungszirkel gehört. Sie sicherten sich die Macht, indem sie widerspenstige Konkurrenten unauffällig aus dem Weg räumten.

Tadschikistans Präsident Rahmon hofft, eines Tages seinen Sohn Rustam, der bereits Bürgermeister der Hauptstadt Duschanbe ist, auf den „Thron“ zu hieven. So ging bereits der aserbaidschanische Staatschefs Heydar Aliyev vor, der kurz vor seinem Tod 2003 seinen Sohn İlham erfolgreich als Nachfolger in Stellung gebracht hatte.

Kasachstan hat ein Machtübergabemodell geliefert, das es in der Region bis dato nicht gab: Präsident Nasarbajew legte sein Amt von sich aus nieder – und nicht unter dem Druck der Straße. So sicherte er sich allerdings einen Status, der es ihm erlaubt, seinem Nachfolger auf die Finger zu schauen.

Nach fast 30-jähriger Regierungszeit kontrolliert Nasarbajew das Land nach wie vor, indem er in wichtigen Institutionen das Sagen hat: im Sicherheitsrat, in der Regierungspartei Nur Otan und dem eigens für ihn geschaffenen „Büro des Ersten Präsidenten“. Seine älteste Tochter Dariga stand bis Anfang Mai 2020 dem Senat vor, während Schwiegersohn Timur Kulibajew Aufsichtsratsvorsitzender großer Staatsbetriebe der Schlüsselsektoren Energie, Elektrizität und Eisenbahn ist.

Die Präsidentenfamilie denkt also gar nicht daran, die Zügel aus der Hand zu geben, auch wenn Dariga Na­sar­ba­jewas plötzliche Absetzung ein Indiz dafür sein könnte, dass der neue Präsident Kassym-Schomart Tokajew nicht vorhat, ihr zu viel Spielraum zu gewähren.

Aus der Art und Weise des Wechsels an der Staatsspitze lässt sich nicht unbedingt schließen, in welche Richtung sich das System zukünftig entwickeln wird. In Usbekistan zum Beispiel hätten nur wenige Beobachter damit gerechnet, dass Shawkat Mirsijojew, der über zehn Jahre Islam Karimows getreuer Premierminister war, einen entschlossenen Reformkurs einschlagen würde, nachdem er 2016 die Präsidentschaft übernahm.

Der usbekischen Wirtschaft, die auch nach dem Ende der ­Sowjetunion unter strikter staatlicher Kontrolle gestanden hatte, verordnete er eine Liberalisierungskur: freie Konvertierbarkeit der Landeswährung Sum, Abschaffung der Wettbewerbsbeschränkungen für kleine und mittlere Unternehmen, Beschneidung der Befugnisse „räuberischer“ Institutionen wie Zoll- und Steuerbehörden.

Im ersten Halbjahr 2020 veräußerte der Staat 299 Vermögenswerte in Höhe von 348 Milliarden Sum (29 Millionen Euro); mehr als 1000 weitere sollen noch an private Investoren verkauft werden. Im vergangenen März deregulierte Usbekistan die Baumwollerzeugung (die ein Viertel der Wirtschaftsleistung ausmacht), die bislang staatlichen Liefervorgaben unterlegen hatte.1

Die Chance, dass diese usbekische Perestroika zu einer echten Demokratisierung des Landes führt, ist jedoch gering. Die Partei des Präsidenten beherrscht weiterhin die Politik; andere Organisationen spielen, wenn sie denn zugelassen sind, nur eine Statistenrolle. Wer die Mächtigen des Landes kritisiert, läuft weiter Gefahr, hinter Gittern zu landen.

In Kasachstan erfolgte die Machtübergabe ohne solche Umwälzungen. Präsident Kassym-Schomart Tokajew, ein ausgebildeter Diplomat, führt den autoritären Kurs seines Vorgängers Nasarbajew fort. Immerhin bot der Präsidentenwechsel die Gelegenheit, eine neue Garde von Technokraten aus der Generation der 40- bis 50-Jährigen im Staatsapparat zu installieren. Diese haben sich vorgenommen, die nationale Ökonomie zu diversifizieren, in der das Erdöl nach wie vor 30 Prozent der Wirtschaftsleistung und zwei Drittel der Exporte ausmacht.2

Ob die noch zaghafte Veränderungsstimmung – zumal in Zeiten einer coronabedingten weltweiten Rezession – dem Land einen Entwicklungsschub bringen wird, ist fraglich. Die Regierungen in Usbekistan und Kasachstan haben die Pandemie augenscheinlich bisher recht gut gemeistert und sind transparent mit den Problemen im Gesundheitswesen umgegangen. Die wirtschaftlichen Schäden durch das Virus sind jedoch noch nicht abzusehen.

Im Verhältnis zu seinen Nachbarn ist Usbekistan bemüht, für frischen Wind zu sorgen. Nach 20 Jahren Isolationismus kehrte Taschkent im Zuge des politischen Wechsels von 2016 an den regionalen Verhandlungstisch zurück, an dem es vor allem um Wasser und Energie geht. Der Streit mit Tadschi­kistan und Kirgistan um die Nutzung der grenzüberschreitenden Flüsse Amudarja und Syrdarja wurde beigelegt. Inzwischen sind die fünf zentralasiatischen Präsidenten mehrfach zusammengetroffen – ein hoffnungsvolles Signal für alle, die sich mehr Kooperation und regionale Integration wünschen.

Die regionalistische Haltung des usbekischen Präsidenten Mirsijojew bedeutet keineswegs, dass die Großmächte sich raushalten. Russlands Beziehungen mit Taschkent sind seit jeher exzellent und wurden im März 2020 noch intensiver, als die usbekische Regierung sich bereit erklärte, der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) zumindest als Beobachterin beizutreten.

Die Großmächte umgarnen Taschkent

Aber auch China, das mittlerweile Russland als Usbekistans Handelspartner Nummer eins abgelöst hat, arbeitet beharrlich daran, seine ökonomischen Bande mit dem Land noch enger zu knüpfen. Im Januar 2020 eröffnete China ein eigenes Büro für Wirtschaftskooperation in Taschkent. Usbekistans Verhältnis zu den USA hat sich – vor allem auf strategischer Ebene – ebenfalls verbessert; 2018 wurde ein Programm zur Ausbildung hochrangiger usbekischer Militärs in US-amerikanischen Einrichtungen wiederaufgenommen.

Auch in Kasachstan ist Kontinuität der bestimmende Faktor. Wie sein Vorgänger betreibt Präsident Tokajew eine „multivektorielle“ Außenpolitik, die auf ein ausbalanciertes Verhältnis zu Russland, China und dem Westen setzt, sein Land steht aber de facto weitgehend unter Moskaus Fuchtel.

Von ihrer Einbindung in die EAWU profitiert die kasachische Ökonomie allerdings kaum. Zum einen bekommen einheimische Firmen Konkurrenz von russischen Unternehmen, zum anderen wurden sie von den Sanktionen in Mitleidenschaft gezogen, die der Westen nach der Annexion der Krim 2014 gegen Russland verhängte. Aufgrund ihrer engen Partnerschaft mit russischen Konzernen haben sie zudem den Zugang zu westlichen Investoren verloren. In strategischer Hinsicht hat sich Kasachstans Abhängigkeit von russischer Militärtechnologie in den vergangenen Jahren weiter verschärft und schwächt seine Eigenständigkeit zusätzlich.

Ganz unabhängig davon, wer Präsident ist – die Staaten in der Region stehen allesamt vor ähnlichen Herausforderungen. Seit 2014 befinden sich ihre Währungen im Gefolge des Rubels auf Talfahrt, und die im Ausland arbeitenden Landeskinder überweisen immer weniger Geld an die Daheimgebliebenen. Für Tadschikistan und Kirgistan, wo diese Zahlungen ein Drittel bis die Hälfte des Bruttoinlandprodukts ausmachen, ist das eine Katastrophe. Der sich abzeichnende weltweite Konjunkturabschwung wird diese beiden Staaten – die ärmsten der ehemaligen Sowjetrepubliken – schwächen.

Kasachstan steht vor einer zusätzlichen Herausforderung: Es muss seine regionalen Ungleichgewichte in den Griff bekommen. Die Regionen im Süden gehören zu den ärmsten des Landes und haben schlechte Sozialindikatoren (etwa unzureichend ausgestattete Kliniken, Schulen ohne Lehrpersonal, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit oder die Verheiratung junger Frauen direkt nach dem Schulabschluss), während die Regionen im Westen dank ihrer Ölvorkommen zu Reichtum gelangten und qualifizierte Jobs zu bieten haben. Das sorgt bei der Bevölkerung im Süden für Unmut und gibt dem Islamismus Auftrieb.

Die Einnahmen aus dem Rohstoffexport müssen gerechter verteilt werden. Insbesondere der ländliche Raum muss davon etwas abbekommen, denn er ist der große Verlierer der vergangenen beiden Jahrzehnte, in denen nur die stark expandierende städtische Mittelschicht profitierte.

Die Hälfte der zentralasiatischen Bevölkerung (insgesamt knapp über 70 Millionen Menschen) ist unter 25, und sie lebt – außer in Kasachstan – mehrheitlich auf dem Land. Die Gefahr eines „Aufstands der Jungen“, die wie im Arabischen Frühling die gesellschaftliche und politische Ordnung sprengen könnte, ist sehr präsent. Zumal in den beiden wichtigsten Ländern, Kasachstan und Usbekistan, eine Zivilgesellschaft zu entstehen beginnt, die gegenüber den Behörden entschlossen Druck macht. Sie fordert mehr Transparenz und Verantwortungsbewusstsein von den Eliten und macht sich für Volksbefragungen stark.

In Usbekistan treibt die Eigentumsfrage Stadt- und Landbewohner gleichermaßen um. Als die Regierung beschloss, mit „Taschkent City“ ein Geschäftsviertel à la Dubai zu errichten und dafür Tausende aus ihren Häusern im historischen Zentrum der Hauptstadt zu vertreiben, formierte sich über die sozialen Netzwerke eine nie dagewesene Protestwelle.3

In Kasachstan haben sich zwei Protestkulturen herausgebildet. In den Städten ist das ein Aktivismus in Sachen Raumentwicklung und Umweltschutz (Autoverkehr, Abfallwirtschaft, Strom- und Heizkosten, bauliche Verdichtung und so weiter), auch wenn der im Vergleich zum benachbarten Russland noch in den Kinderschuhen steckt.4

Im Frühjahr 2019 machten junge Mittelschichtsangehörige gegen die Umbenennung der Hauptstadt Astana in Nursultan – Sinnbild für den Personenkult um Nasarbajew – mobil und forderten freie und faire Wahlen. Die Proteste wurden jedoch im Keim erstickt, zahlreiche Beteiligte festgenommen und verurteilt.5

Die Protestierenden gaben sich nicht geschlagen und scharten sich um die Bürgerbewegung „Oyan, Qazaqstan“ (Kasachstan, wach auf). Deren Name nimmt Bezug auf den Dichter Mirschaqyp Dulatuly, der im frühen 20. Jahrhundert die nationalistische Bewegung „Alasch Orda“ (Horde der Nomaden) mitbegründete.

„Oyan, Qazaqstan“ entwickelte sich zu einem Label, das sich diverse Initiativen und Aktionsbündnisse zu eigen machten – politisch engagierte Jugendliche, die dem Vorbild des russischen Internet- und Antikorruptionsaktivisten Alexei Nawalny folgen, ebenso wie Künstler, Maler und Rapper, Youtube-Stars, LGBTIQ-Aktivisten oder auch Umweltschützer, die gegen das geplante Skigebiet von Kok Schailau in der Nähe von Almaty zu Felde ziehen.

Protest regt sich aber nicht nur im urbanen Raum. Das Agrarreformgesetz, das Ausländern die Möglichkeit eröffnen soll, Ackerland zu pachten, löste panische Angst vor einem Ausverkauf der kasachischen Landwirtschaft an chinesische Unternehmen aus. In den abgehängten Kleinstädten und Dörfern gingen die Menschen scharenweise auf die Straße. Das Eigentum an Grund und Boden ist nach wie vor ein wichtiges nationales Symbol.

Die Regierung registrierte den Unmut mit Sorge, denn die Demonstranten gehörten weitgehend zur kasachischsprachigen Bevölkerungsmehrheit, die das Regime als ergebene Stütze des Nationalgefüges betrachtet – anders als die kosmopolitische, meist russischsprachige Stadtbevölkerung, die von jeher als rebellischer gilt.

Angesichts der heraufziehenden Krise haben die zentralasiatischen Regime, die sich auf einen politischen Wandel mit ungewissem Ausgang eingelassen haben, die Wahl zwischen zwei Optionen: Entweder sie gehen auf die Forderungen nach mehr Teilhabe ein, auch um Akzeptanz für zu erwartende postpandemische Sparmaßnahmen zu schaffen, oder sie drehen mit einer repressiven Politik das Rad zurück.

Wie die zentralasiatischen Staaten die Weichen für ihre Zukunft stellen, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie sich der geopolitische Kontext in der Region – vor allem in Russland –, aber auch weltweit entwickelt.

1 Siehe Étienne Combier, „L’Ouzbékistan libéralise entièrement la production du coton“, Novastan, Paris, 8. März 2020.

2 Siehe Dominique Menu, „Le Kazakhstan, une puissance énergétique méconnue dans un environnement incertain“, Connaissances des énergies, Paris, 7. Juni 2019.

3 Siehe Dilmira Matyakubova, „Who is ‚Tashkent city‘ for? Nation-branding and public dialogue in Uzbekistan“, CAP Paper 205, Washington, D.  C., Juni 2018.

4 Siehe Daniyar Kosnazarov, „Do-It-Yourself Activism: Youth, Social Media and Politics in Kazakhstan“, CAP papers 217, Washington, D. C., Februar 2019.

5 Siehe Marlène Laruelle, „On Track to a Kazakh Spring?“, The Diplomat, 1. Juli 2019.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Marlène Laruelle ist Professorin an der George Washington University in Washington, D. C.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2020, von Marlène Laruelle